Plagen / Plagenerzählung
(erstellt: Dezember 2011)
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1. Bibelkundliche Orientierung
Die ausführliche Schilderung der ägyptischen Plagen bildet das Zentrum der Erzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten in Ex 1,1-15,21
Üblicherweise werden die folgenden zehn Plagen unterschieden:
1. Die Nilpest (Ex 7,14-25
2. Die Froschplage (Ex 7,26-8,11
3. Die Mückenplage (Ex 8,12-15
4. Die Ungezieferplage (Ex 8,16-28
5. Die Viehpest (Ex 9,1-7
6. Die Beulenpest (Ex 9,8-12
7. Die Hagelplage (Ex 9,13-35
8. Die Heuschreckenplage (Ex 10,1-20
9. Die Finsternisplage (Ex 10,21-29
10. Die Tötung der Erstgeburt (Ex 12,29-33
Im Zusammenhang gelesen schildern die zehn Plagen eine drastische Beeinträchtigung des Lebens in Ägypten, die eine vollständige Vernichtung der menschlichen Lebensgrundlagen (Wasser, Vieh, Ernte) einschließt. Dass derart dramatische Ereignisse keinerlei Spuren in den ägyptischen Quellen hinterlassen haben, ist bereits ein erstes gewichtiges Indiz dafür, dass die Plagenerzählung als historischer Tatsachenbericht fehlinterpretiert ist. Auch der Versuch, die Sequenz der Plagen als Reflex auf eine Abfolge typischer ägyptischer Naturphänomene zu erklären und sich auf diese Weise ihrem historischen Kern anzunähern (Hort), ist nicht zielführend. Einerseits ist eine derartige „naturwissenschaftliche“ Ableitung nur für Teile der Plagen nachvollziehbar (im Zuge eines starken Nilhochwassers färben Sedimente den Fluss rot und die plötzlich massenhaft auftretenden Kleinstlebewesen zehren den Sauerstoff auf, was ein Fischsterben zur Folge hat; die Frösche verlassen daraufhin das verpestete Wasser, verenden an Land und es kommt zu einer explosionsartigen Vermehrung von Mücken), während andere (besonders die Tötung der Erstgeburt) gänzlich unableitbar sind. Andererseits ist die Tatsache, dass Teile der Plagensequenz natürlichen Abläufen entsprechen, eben kein Beweis dafür, dass hier ein einmaliges historisches Ereignis verarbeitet wird. Sie belegt vielmehr ausschließlich, dass die Verfasser der Plagenerzählung Grundkenntnisse derartiger Naturvorgänge für ihre Darstellung fruchtbar machten. Trotz aller Reflexe auf natürliche Gegebenheiten bleibt die Plagenerzählung eine literarische Konstruktion, in deren Zentrum die Frage nach dem Wirken JHWHs im Spannungsfeld zwischen Israel und Ägypten steht (→ Fiktion
2. Zur synchronen Struktur der Plagenerzählung
Es ist seit jeher aufgefallen, dass die Sequenz der zehn Plagen klimaktisch aufgebaut ist: Während die ersten vier Plagen im Wesentlichen Unannehmlichkeiten zur Folge haben, sind ab der fünften Plage gravierende Folgen für die Gesundheit der Ägypter und das Leben ihres Viehs zu verzeichnen, in denen sich bereits der letzte Schlag, die Tötung der ägyptischen Erstgeburten, anzudeuten beginnt. Ferner haben bereits jüdische Gelehrte des Mittelalters beobachtet, dass sich die ersten neun Plagen auf drei Gruppen zu je drei Plagen verteilen lassen, die jeweils ähnliche Strukturelemente aufweisen. Diese erstmals bei Rabbi Samuel ben Meir dokumentierte Beobachtung wurde in der historisch-kritischen Exegese lange vernachlässigt und erst von Moshe Greenberg wieder in gebührender Weise wahrgenommen und weiter ausdifferenziert: So fällt auf, dass die beiden ersten Plagen jedes Triplets eine Warnung Moses an den Pharao enthalten, die bei der dritten Plage jeweils fehlt. Auch die Rollenverteilung der handelnden Akteure folgt einer klaren Struktur: So ist bei den ersten drei Plagen allein Aaron tätig, bei den Plagen sieben bis neun hingegen allein Mose. Das mittlere Plagentriplet bahnt diesen Rollenwechsel an, insofern Aaron bei der sechsten Plage nur noch als Assistent des Mose auftritt, der die Plage schließlich allein heraufführt (die Plagen vier und fünf fallen freilich aus diesem Muster heraus, insofern hier Gott allein ohne die Vermittlung Moses oder Aarons tätig wird).
Im Anschluss an Greenberg lässt sich zudem jedem Plagentriplet ein dominierendes Thema zuweisen: So geht es bei den ersten drei Plagen in besonderer Weise um den Machterweis Gottes in Überbietung der ägyptischen Magie, wohingegen die Plagen vier bis sechs schwerpunktmäßig Gottes Macht im Lande Ägypten illustrieren, insofern sie auf die Verschonung der dort ansässigen Israeliten abheben (Ex 8,18
Die Beobachtungen zur synchronen Struktur der Plagenerzählung, die sich um eine Vielzahl weiterer Details vermehren ließen (vgl. Jacob), machen deutlich, dass der Texteinheit verschiedene Ordnungskriterien zu Grunde liegen, die eine fortlaufende Lektüre ihrer vorliegenden Gestalt ermöglichen und zu einem sinnvollen Unterfangen machen. Gleichzeitig ist unübersehbar, dass eine Aufteilung der ersten neun Plagen auf drei Triplets die überaus komplexe Struktur der Erzählung nur in Ansätzen zu erfassen hilft. So sind die Motive, die ein bestimmtes Triplet zu dominieren scheinen, keineswegs immer auf dieses beschränkt (vgl. etwa die Aufnahme des Verschonungsmotivs in Ex 10,23
3. Zur Entstehung der Plagenerzählung
3.1. Forschungsgeschichtliche Orientierung
Trotz vielfältiger Divergenzen hat auch in der aktuellen Forschung der lang etablierte Konsens Bestand, dass sich innerhalb von Ex 7,8-9,12
Die Differenzierung der beiden skizzierten Erzählschemata hat im Rahmen der Neueren Urkundenhypothese (→ Pentateuchforschung
Während in Ex 7,8-9,12
Man hat versucht, dem Textbefund durch die Annahme Rechnung zu tragen, dass in Ex 9,13-11,10
Da der priesterschriftliche Wunderwettstreit mit der vollständigen Niederlage der ägyptischen Zauberer in Ex 9,12
In Anbetracht der umfangreichen nachpriesterlichen Fortschreibungen der Plagenerzählung stellt sich mit neuer Dringlichkeit die Frage, ob nicht auch für die älteren Phasen der Textentstehung mit einem analogen Modell zu operieren ist; ob also die Annahme von ehemals selbstständigen Quellen durchgängig durch ein Fortschreibungsmodell zu ersetzen ist. Für einen entsprechenden Abschied von der Urkunden- zugunsten einer reinen Ergänzungshypothese hat sich Christoph Berner ausgesprochen. Die Quellen werden in diesem Modell durch verschiedene Entwicklungsphasen des Textes ersetzt: eine vorpriesterschriftliche Phase (in Teilen deckungsgleich mit der Quelle J), eine priesterschriftliche Bearbeitung (P) sowie eine komplexe nachpriesterschriftliche Entwicklungsphase. Die Konsequenzen, die sich aus diesem Modell für die Entstehung der Plagenerzählung ergeben, seien im Folgenden kurz skizziert.
3.2. Die Entstehung in einem kontinuierlichen Fortschreibungsprozess
3.2.1. Die vorpriesterschriftliche Entwicklungsphase
Im vorpriesterschriftlichen Grundbestand der Exoduserzählung spielten die Plagen noch keinerlei Rolle, sondern der Text berichtete im Anschluss an Moses Rückkehr aus Midian (Ex 4,20
Die zweite, ebenfalls noch vorpriesterschriftlich anzusetzende Entwicklungsstufe der Plagenerzählung, wird mit der Ergänzung einer Plagentrias in Ex 7f
3.2.2. Die priesterschriftliche Bearbeitung
Die priesterschriftliche Bearbeitung hat die Plagenerzählung in zweierlei Hinsicht weiterentwickelt. Dies geschah einmal durch die Vorschaltung der Passa-Ordnung in Ex 12,1-13
3.2.3. Grundzüge der nachpriesterschriftlichen Entwicklungsphase
Mehr als die Hälfte des heute vorliegenden Textes der Plagenerzählung verdankt sich nachpriesterschriftlichen Ergänzungen. Hierzu zählen (neben manchen Erweiterungen der priesterschriftlich überformten Plagensequenz in Ex 7,8-8,28
Die Hagelplage in ihrer um das Fürbittenmotiv erweiterten Gestalt bildete die Vorlage für den Verfasser der Heuschreckenplage (Ex 10,1-6
Die Heuschreckenplage erfuhr eine letzte substantielle Erweiterung durch die Ergänzung der Auszugsverhandlungen in Ex 10,7-12
Die Auszugsverhandlungen am Ende der Plagenerzählung sollten nachträglich ein Gegenstück in deren Anfangsteil erhalten. Die erstmals in Ex 3,18
Zu den jüngsten nachpriesterschriftlichen Entwicklungen innerhalb der Plagenerzählung zählt auch der Gedanke, dass JHWH die Israeliten vor den Folgen der Plagen verschont. Was in den älteren Textschichten einfach als gegeben vorausgesetzt war, wird in Ex 8,18
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
2. Kommentare
- Cassuto, U., 1967, A Commentary on the Book of Exodus, Jerusalem
- Dozeman, T.D., 2009, Commentary on Exodus (ECC), Grand Rapids (MI) / Cambridge (UK)
- Houtman, C., 1993-2002, Exodus (HCOT; 4 Bde.), Kampen / Leuven
- Jacob., B., 1997, Das Buch Exodus, Stuttgart
- Noth, M., 1958, Das zweite Buch Mose (ATD 5), Göttingen
- Schmidt, W.H., 1988-1999, Exodus (BK.AT II/1-2), Neukirchen-Vluyn
3. Weitere Literatur
- Berner, C., 2010, Die Exoduserzählung (FAT 73), Tübingen
- Blum, E., 1990, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin / New York
- Gertz, J.C., 2000, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung (FRLANT 186), Göttingen
- Greenberg, M., 1969, Understanding Exodus, New York
- Eißfeldt, O., 1962, Hexateuch-Synopse, Darmstadt
- Hort, G., 1957.1958, The Plagues of Egypt, ZAW 69, 84-103, ZAW 70, 48-59
- Kegler, J., 1990, Zu Komposition und Theologie der Plagenerzählungen, in: E. Blum / C. Macholz / E.W. Stegemann (Hgg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), Neukirchen-Vluyn, 55-74
- Krašovec, J., 1990, Unifying Themes in Ex 7,8-11,10, in: C. Brekelmans / J. Lust (Hgg.), Pentateuchal and Deuteronomistic Studies (BEThL 94), Leuven, 47-66
- Kohata, F., 1986, Jahwist und Priesterschrift in Exodus 3-14 (BZAW 166), Berlin / New York
- Lemmelijn, B., 2009, A Plague of Texts? (OTS 56), Leiden
- Levin, C., 1993, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen
- Schmidt, L., 1990, Beobachtungen zu der Plagenerzählung in Exodus VII 14-XI 10 (StB 4), Leiden
- Steingrimsson, S.Ö., 1979, Vom Zeichen zur Geschichte (CB.OT 14), Lund
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