Proselyten (AT)
(erstellt: September 2010)
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1. Herkunft und Bedeutung des Begriffs
Der Begriff Proselyt (προσήλυτος prosēlytos) begegnet zum ersten Mal in den ältesten Teilen der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel für das hellenistische Diapora-Judentum, und bedeutet wörtlich übersetzt „Hinzugekommener“. Die Verfasser der griechischen Tora-Übersetzung verwenden den griechischen Neologismus, der außerhalb der jüdischen und christlichen Literatur keine Verwendung findet, als nicht weiter erklärungsbedürftige Regelübersetzung für den hebräischen גֵּר ger, → „Fremden
Die erste Definition von προσήλυτος prosēlytos liefert der ebenfalls in der ägyptischen Diaspora lebende jüdische Philosoph → Philo von Alexandrien
2. Vorgeschichte im Alten Testament
Die Herausbildung einer Konversionsoption zum antiken Judentum zwischen dem 3. Jh. v. und dem 3. Jh. n. Chr. eröffnet die Frage nach vorausgehenden Entwicklungen in der Zeit des alttestamentlichen Judentums. Da weder die Begrifflichkeit noch die Kriterien und Konditionen der Konversion damals feststanden bzw. heute historisch geklärt sind, müssen moderne Konstrukte von Konversion herangezogen werden. Aus der religionssoziologischen und -geschichtlichen Forschung lassen sich drei Indikatoren von Konversion herausarbeiten, die in der exegetischen Untersuchung biblischer Quellen anwendbar sind:
1. Veränderung der kognitiven Grundeinstellungen,
2. Neuorientierung der Mentalitäts- und Verhaltensmuster und
3. soziale wie religiöse Statuswechsel (vgl. Enger, 30-54.489-91; McNight, 1-7; Mohr, 436f; Cohen, 26).
Durch die Schwierigkeiten der Verschiedenartigkeit und Rückprojektion späterer Kriterien sind viele alttestamentliche Texte in Betracht gezogen worden, Konversionsphänomene zu beschreiben. Bei ihrer Darstellung ist zwischen den grundlegenden Gattungen, nämlich Gesetzestexten, Erzählungen, prophetischen und poetischen Texten, zu unterscheiden. Bei den erzählenden Texten ist zu berücksichtigen, dass die fiktiven Figuren auch literarische Funktionen erfüllen; bei den prophetischen Texten stellt sich die Frage, ob der Text zu seiner Zeit Autorität besaß oder Oppositionsmeinung bzw. Zukunftsutopie vorstellt.
2.1. Gesetzestexte
Der freie, aber sozial abhängige גֵּר ger, der lokal und / oder ethnisch → „Fremde
Der גֵּר ger der priesterlichen Gesetzgebung (ausführlich → Fremder
2.2. Erzählungen
In der Erzählung von → Jitros
In deuteronomistischen Erzählungen (→ Deuteronomismus
Die hochgradige Loyalitätsbekundung → Ruts
Der aramäische Offizier → Naaman
Im → Jonabuch
Im → Esterbuch
Im Esra-Nehemia-Buch taucht in zwei Listen – der Versammlungsteilnehmer bei der Tempeleinweihung und dem ersten Passafest der Exilsrückkehrer (Esr 6,21
Zu → Hiskias
2.3. Prophetische Texte
Der Auftakttext der tritojesajanischen Sammlung (→ Tritojesaja
In Jes 14,1
Der Prophet → Ezechiel
Im Rahmen der ezechielischen Reformvision (Ez 40-48
Zu Jes 19,18-25
2.4. Poetische Texte
In Ps 115,9-11
2.5. Zusammenfassung
In der nachexilischen Zeit entstehen verschiedene Modelle der religiösen Öffnung der jüdischen Gemeinschaft nach außen, die teilweise minderberechtigte, teilweise fiktive (z.B. 2Kön 5,15-19
3. Zwischentestamentliche Literatur
Abgesehen von endzeitlichen Visionen, die von einzelnen oder massenhaften Konversionen aus den Reihen der Nicht-Israeliten und Nicht-Israelitinnen zum Judentum berichten (Tob 13,13
Verschiedentlich wird von weiteren herausragenden Persönlichkeiten der nicht-jüdischen Umwelt berichtet, die sich dem Judentum angenähert hätten. Das → Juditbuch
Auch einige römische Autoren berichten von Nicht-Juden, die jüdische Bräuche praktizieren. Das prominenteste Beispiel stammt aus der 14. Satire des Juvenal, wo er anführt, dass der Sohn eines Mannes, der jeden siebten Tag faulenze und Schweinefleisch für ebenso wertvoll halte wie Menschenfleisch, jenem nicht nur nacheifere, sondern schlimmer noch, sich beschneiden lasse, die römischen Gesetze verachte und mit Ehrfurcht das von Mose überlieferte, jüdische Gesetz studiere und befolge (Saturae 14,96-106; desweiteren vgl. Dio Cassius, Historiae 60,6,; Horaz, Sermones 1,9,68-72; Martial, Epigrammata 7,30,5-8; Petronius, Satyricon 68,8; Plutarch, Vita Ciceronis 7,6; Seneca, Epistulae 108,22; Sueton, Vita 12,2; Tacitus, Historiae 5,5; Valerius Maximus, Facta et Dicta Memorabilia 1,3,3).
4. Rabbinische Literatur
Im 1. Jh. v. Chr. finden sich erste Hinweise einer rabbinischen Lehrdiskussion über die Aufnahme von Nicht-Juden in die jüdische Gemeinschaft und schließen – wie möglicherweise die Septuaginta – an den alttestamentlichen Begriff גֵּר ger → „Fremder
Aus der Zeit kurz nach dem Bar-Kochba-Aufstand (133-35 n. Chr.) stammt eine Art Zeremonie für die Aufnahme eines גֵּר ger (Babylonischer Talmud, Traktat Jevamot 47a-48a; Text Talmud
Für das 1. Jh. v. Chr. lässt sich eine Möglichkeit für Nicht-Juden und Nicht-Jüdinnen zur Konversion zum Judentum sehr wahrscheinlich als ausgebildet nachweisen. Ihre Konditionen, Kriterien und Konsequenzen sind kaum zu rekonstruieren, wahrscheinlich sehr vielfältig und sicher regional unterschiedlich (vgl. Cohen). Inwiefern der προσήλυτος prosēlytos der Septuaginta ein Konvertit im vollständigen Sinne späterer rabbinischer Regelungen war, bleibt offen.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, Stuttgart 1890-1980
- Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1953-1973
- Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
- Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz 1994
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
2. Weitere Literatur
vgl. die Literatur unter → Fremder
- Allen, W.C., On the Meaning of προσήλυτος in the Septuagint, Exp. 4/10 (1894), 264-275
- Bertholet, A., Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden, Freiburg i.Br. / Leipzig 1896
- Birnbaum, E., The Place of Judaism in Philo’s Thought: Israel, Jews and Proselytes, BJSt 290 (Studia Philonica Monographs 2), Atlanta 1996
- Bultmann, C., Der Fremde im antiken Juda. Eine Untersuchung zum sozialen Typenbegriff „ger“ und seinem Bedeutungswandel in der alttestamentlichen Gesetzgebung (FRLANT 153), Göttingen 1992
- Cohen, S.J.D., Crossing the Boundary and Becomming a Jew, HThR 82 (1989), 13-33
- Crüsemann, F., Fremdenliebe und Identitätssicherung. Zum Verständnis der „Fremden“-Gesetze im Alten Testament, WuD 19 (1987), 11-24
- Eichhorn, D.M. (Hg.), Conversion to Judaism. A History and Analysis, New York 1965
- Enger, P.A., Die Adoptivkinder Abrahams, Eine exegetische Spurensuche zur Vorgeschichte des Proselytentums (BEATAJ 53), Frankfurt a.M. u.a. 2006
- Haarmann, V., JHWH-Verehrer unter den Völkern. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alttestamentlichen Überlieferungen (AThANT 91), Zürich 2008
- van Houten, C., The Alien in Israelite Law (JSOT.S 107), Sheffield 1991
- Kuhn, K.G., Art. προσήλυτος, ThWNT 6, Stuttgart 1959, 727-745
- Kuhn, K.G. / Stegemann, H., Art. Proselyten, PRA.S 9 (1962), 1248-1283
- McKnight, S., A Light among the Gentiles. Jewish Missionary Activity in the Second Temple Period, Minneapolis 1991
- Milgrom, J., Religious Conversion and the Revolt Model for the Formation of Israel, JBL 101 (1982), 169-176
- Mohr, H., Art. Konversion / Apostasie, in: H. Cancik u.a. (Hgg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd.3, Stuttgart u.a. 1993, 436-45
- Porton, G.G., The Stranger within Your Gates. Converts and Conversion in Rabbinic Literature, Chicago / London 1994
- Schiffman, L.H., Who Was a Jew? Rabbinic and Halakhic Perspectives on the Jewish Christian Schism, Hoboken 1985
- Vieweger, D., Vom „Fremdling“ zum „Proselyt“. Zur sakralrechtlichen Definition des גֵּר im späten 5. Jahrhundert v. Chr., in: ders. / E.-J. Waschke (Hgg.), Von Gott reden (FS S. Wagner), Neukirchen-Vluyn 1995, 271-284
- Will, E. / Orrieux, C., „Prosélytisme juif”?. Histoire d’une erreur, Paris 1992
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