Protoevangelium
Andere Schreibweise: Protevangelium; Protevangelion
(erstellt: Oktober 2008)
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1. Bedeutung
Protoevangelium („Erstes Evangelium“) ist kein biblischer Begriff, sondern eine spätestens seit dem 17. Jh. – vgl. Christophorus (Helwig) Helvicus: Protoevangelion Paradisiacum, Genes. 3.15, in: Criticorum Sacrorum, Tom. VIII, Londini 1660, 8, S. 65-75 (nach Gallus 1979, 88.90) – in der christlichen Tradition gebräuchliche Bezeichnung für den Vers Gen 3,15
Abweichend vom allgemeinen Verständnis sieht A.H.J. Gunneweg nicht in Gen 3,15
2. Unterschiedliche Deutungen von Gen 3,15
Der Vers Gen 3,15
2.1. Der wörtliche Sinn (sensus litteralis)
Während es in Gen 3,14
2.2. Historisch-religionsgeschichtliche Deutung
M. Görg hat nach einem möglichen historischen Hintergrund der Aussage Gen 3,15
Dass in Ägypten, Mesopotamien und Palästina Schlangen polyvalent gesehen wurden, zeigen zahlreiche ikonographische Belege, die O. Keel zusammengetragen hat (Keel, 195-266). Demnach „kann die Schlange als aspektreiches Geschöpf je nach Zusammenhang Numinosität eines Ortes, Schutz, Vitalität, vor allem im sexuellen Bereich, oder negativ Bedrohung des Kosmos oder individuellen Lebens, hinterhältige Krankheit und Tod bedeuten“ (Keel, 232; vgl. Loh, 100-112, 131-142, 157-162, 199-205). Einige dieser Aspekte erscheinen auch im Alten Testament.
2.3. Theologische Interpretationen
2.3.1. Kollektive Deutungen
2.3.1.1. Die moralische Deutung. Die moralische Deutung bewahrt die Offenheit des Textes, nach dem der Kampf der Nachkommen der Schlange und der Frau unentschieden ausgehen wird oder auch als hoffnungsloser Kampf ohne Ende erscheint. Dabei wird die Schlange als Symbol der Verführung der ersten Frau verstanden, als Repräsentant des Bösen, der Nachwuchs der Schlange pluralisch als „die Mächte des Bösen“ gedeutet (vgl. Vogels, 199). Die Menschen als der Nachwuchs der Frau müssen sich als Einzelne in ihrem Leben immer wieder mit den Versuchungen durch die Mächte des Bösen auseinandersetzen. Dabei kann der Mensch im Einzelfall die Versuchung abwehren oder ihr erliegen (vgl. Dohmen, 288), jedoch kann er selbst das Böse nicht endgültig besiegen, so dass weiterhin die Gefahr besteht, vom Bösen getroffen zu werden. Diese Vorstellung stimmt mit Gen 4,7
Der moralischen Interpretation lässt sich die auf protestantischer Seite heutzutage weit verbreitete Deutung zuordnen, dass es in Gen 3,15
2.3.1.2. Die kollektive soteriologische Deutung. Die Bezeichnung von Gen 3,15
Die Identifikation der Schlange mit dem Teufel (gr. diábolos) erfolgt schon in Weish 2,23f
Als besondere Variante der kollektiv soteriologischen Deutung kann man eine speziell auf das auserwählte Volk bezogene Interpretation ansehen: Nicht die gesamte Menschheit, sondern das auf → Set
2.3.2. Individuelle Deutungen
Da das hebr. Nomen זֶרַע zæra‘ „Same / Nachkommenschaft / Geschlecht / Stamm“ grammatisch eine Singularform ist, jedoch auf der Bedeutungsebene wie auch im Deutschen weithin ein Kollektivbegriff, wird es in aramäischen Targumen manchmal singularisch mit „Sohn“ (so im Targum Onkelos) oder „Familie deines / ihres Sohnes“ (so in palästinischen Targumen) übersetzt (vgl. Koch, 199-202). Später bezogen christliche Theologen die Aussage Gen 3,15
2.3.2.1. Die christologische Deutung. Die → Septuaginta
Das Neue Testament nimmt nirgendwo direkt auf Gen 3,15
Die christologische Interpretation scheint inhaltlich durch 1Joh 3,4-10
Von den Reformatoren hat → Martin Luther
Ob das feminine „ipsa“ („sie selbst“) in der Vulgata von Hieronymus (gest. 419/20) selbst stammt, ist umstritten – manche spätere lateinische Codices fahren mit „ipse“ („er selbst“) fort. Die Nova Vulgata
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Marienlexikon, St. Ottilien 1988-94
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
2. Weitere Literatur
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- Dohmen. C., 1988, Schöpfung und Tod. Die Entfaltung theologischer und anthropologischer Konzeptionen in Gen 2/3 (SBB 17), Stuttgart
- Gallus, T., 1964, „Der Nachkomme der Frau“ (Gen 3,15) in der altlutheranischen Schriftauslegung. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese von Gen 3,15. Band I: „Der Nachkomme der Frau“ (Gen 3,15) in der Schriftauslegung von Luther, Zwingli und Calvin, Klagenfurt
- Gallus, T., 1979, Die „Frau“ in Gen 3,15, Klagenfurt 1979
- Görg, M., 1982, Das Wort zur Schlange (Gen 3,14f). Gedanken zum sogenannten Protoevangelium, BN Heft 19, 121-140
- Gunneweg, A.H.J., 1983, Urgeschichte und Protevangelion, in: ders., Sola scriptura. Beiträge zur Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments, Göttingen, 83-95
- Jacob, B., 2000, Das Buch Genesis. Hg. in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institut, Stuttgart (ND der Original-Ausgabe Berlin 1934)
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- Loh, J., 1998, Paradies im Widerspiel der Mächte. Mythenlogik – eine Herausforderung für die Theologie (BEAT 43), Frankfurt am Main u.a.
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- Rehkopf, F., 1989, Septuaginta-Vokabular, Göttingen
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- Vogels, W., 1986, Das sog. „Proto-Evangelium“ (Gen 3,15). Verschiedene Arten, den Text zu lesen, ThG(B) 29, 195-203
- Westermann, C., 1999, Genesis. 1. Teilband: Gen 1-11 (BK I/1), 4. Aufl., Neukirchen-Vluyn
Abbildungsverzeichnis
- Ein Putto besiegt einen Basilisken (entspricht Schlange) an der Münchener Mariensäule (17. Jh.). © Kathrin Liess
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