Prozession
(erstellt: Mai 2010)
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Prozession (lat. processio „Vorwärtsschreiten“) meint ein in der Regel mit einem Festtag verbundenes, öffentliches → Ritual
1. Alter Orient
1.1. Mesopotamien
1.1.1. Götterprozessionen im Festzyklus
Neben den Prozessionen belegen die mesopotamischen Traditionen vor allem in der sumerischen Literatur die Institution der Götterreisen oder Besuchsfahrten der Götter nach Nippur oder Eridu zu den beiden Hauptgöttern Enlil bzw. Enki (Sjöberg). Die Götterreisen im Kontext des babylonischen Akitu-Festes galten indes Marduk. Sie dienten dazu, die rituellen wie die politischen Bindungen der übrigen Städte im Bezug auf die Hauptstadt zu aktualisieren und somit die Peripherie an das Zentrum zu binden (Pongratz-Leisten, 9-11).
Die hohe Bedeutung der Prozession am 8. Festtag wie der Zurschaustellung Marduks und des mit ihm identifizierten Königs sowie anderer Göttinnen und Götter (dazu Zgoll, 2006, 30-38. 61f) lässt sich mitunter aus dem Stadtplan von → Babylon
1.1.2. Götterprozessionen im Kontext von Götterbildherstellung und -restaurierung
Neben den Festtagsprozessionen gab es Götterprozessionen auch im funktionalen Kontext der Götterbildherstellung bzw. -restaurierung oder -ausschmückung an bestimmten Festen. Wie es sich schon bei der Fertigung und Einweihung von → Götterbildern
Pongratz-Leisten setzt eine ähnlich funktionale Erklärung für die Mardukprozession im Zuge des Akitu-Festes zum außerhalb der Stadt gelegenen Festhaus voraus, nämlich anlässlich der rituellen Tempelreinigung im Laufe des Neujahrsfestes: „Der kultische Sinn und Zweck eines Festhauses, d.h. die utilitas (Nutzungsfunktion), besteht darin, für den Gott anläßlich des Zeitpunktes der Großreinigung seines Hauptwohnsitzes eine angemessene Übergangslösung zur Verfügung zu stellen, in der er mehrere Tage verbringen kann. … Solche großen Reinigungsfeste dienen gleichermaßen der Reinigung von Tempel und Kultbild wie auch dem ‚Wegschaffen dämonischer Unheilsmächte und Unheilsstoffe’.“ (Pongratz-Leisten, 74 mit Referenz auf Burkert, 358).
1.2. Ägypten
Auch die ägyptischen Prozessionsfeste sind vom täglichen Tempelritual zu unterscheiden: 1) findet der alltägliche Kult unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Inneren des Tempels statt; 2) bezieht er sich auf ein ruhendes, d.h. ortsgebundenes Kultbild; 3) folgt er stets einer gleich bleibenden Routine; 4) entspricht alltäglicher Kult einem Tauschgeschäft (do ut des) im Sinne einer „gemeinschaftsstiftenden Kraft der Gabenzirkulation“ (Assmann, 106). Die ägyptischen Prozessionsfeste wurden – im Unterschied zu den an den Tempeln begangenen Monatsfesten – jährlich begangen. Dass sie konstitutiv zum Tempelkult gehörten, lässt sich u.a. aus der flächendeckenden Existenz von Barken neben dem Kultbild in den Tempelkomplexen ersehen (Kitchen, 619f).
Die Barke fungierte – ähnlich den Götterstandarten – als eigens geschaffenes Prozessionsbild des jeweiligen Gottes (Arnold, 1962). Die numinose Kraft der Barke lässt sich an der Institution des Barkenorakels ablesen, das seit der Ramessidenzeit zu einem festen Bestandteil der Prozessionsfeste wurde. In dem Akt von deduktiver → Divination
Die Prozessionen sind nicht nur die sichtbare Manifestation eines Gottes durch sein Erscheinen, sie gehören außerdem zu dem wichtigsten Medium königlicher Repräsentation, da sie dem jeweiligen König Ägyptens (→ Königtum in Ägypten
Die Baumaßnahmen weisen darauf hin, dass es neben öffentlichen Prozessionen immer auch interne, auf den Tempelbezirk beschränkte Prozessionen gegeben hat, bei denen das Götterbild bzw. der Schrein innerhalb des Tempels bewegt wurde. Je weiter sich die Prozession nach außen bewegte, desto größer wurde die Beteiligung der Öffentlichkeit, was zum Bau großer Vorhöfe jenseits des Eingangspylon sowie zum Ausbau von Prozessionsstraßen (s. die spätzeitlichen Widdersphingen-Alleen) führte, die z.B. die für das Opetfest wichtigen Tempel in Karnak und Luxor miteinander verbanden (Arnold, 1992, 115-120; Stadelmann, 1161). Prozessionen fanden zu Land wie auch zu Wasser als Schiffsprozessionen (ẖnjt) statt.
2. Altes Testament
2.1. Die Ladeüberführung als Götterprozession?
Es gibt im Hebräischen keinen eigenen Begriff für (Götter-)Prozession. Der Vorgang wird wie das Tragen der → Lade
In der Forschungsgeschichte ist die Ladeprozession wiederholt mit den altorientalischen Götterprozessionen verglichen worden. O. Keel widmet dem Thema in seiner Grundlagenstudie zur Bildsymbolik der Psalmen ein eigenes Kapitel (1984, 301-312), in dem er verschiedene Psalmenpassagen nennt, die s.E. auf sakrale Umzüge anspielen. Er unterscheidet dabei Prozessionen, in denen JHWH selber mitgeht (unter Nennung von Ps 24,7-10
Darüber hinausgehend lassen sich noch zwei strukturelle Einwände benennen: Erstens handelt es sich bei der Ladeüberführung um ein einmaliges Ereignis, nämlich die Überführung von einem außerhalb gelegenen Kultplatz in die neu zu gestaltende Metropole Jerusalem (McCarter, 180f). Diese Überführung hatte zwar durchaus sakralen Charakter (vgl. Stolz, 215f; s. oben 1.2.2), daraus aber zu schließen, dass es sich bei dem Ritual um eine jährlich gefeierte Festprozession der Jerusalemer Kulttradition handelte (so auch Stolz, 217), ist textlich nicht belegbar.
Zweitens beschreiben die Belege in den Psalmen eine den altorientalischen Texten gegenläufige Ritualrichtung. Sie behandeln nämlich keine Prozession, die vom Inneren des Tempels in den öffentlichen Raum führt, sondern Wallfahrten der Anhänger JHWHs zum Tempel (bzw. in Ps 68,25
Zuletzt wurde die Frage nach der Lade als Prozessionsutensil neu angestoßen im Kontext der Diskussion, ob es im Jerusalemer Tempel ein Kultbild JHWHs gegeben hat. Sollte ein Kultbild existiert haben, müsste man sich eine JHWH-Statue auf einem Kerubenthron sitzend vorstellen (→ Keruben
Die in Ez 1,15-21
2.2. Polemik gegen Götterprozessionen
Die große Prunkinschrift → Sargons II.
104 … Asdod, Gimtu und Asdod-jam 105 belagerte und eroberte ich. Seine Götter, seine Gattin, seine Söhne, seine Töchter, 106 seine Habe, seinen Besitz, den Schatz seines Palastes nebst den Einwohnern seines Landes 107 zählte ich als Beute.
Die Nabonid-Stele, Zeile 14-17 (Babel, ca. 680 v. Chr.; vgl. Borger, 407; → Nabonid
1 Er (= König Nabonid) plante Böses. 2 Erweiterung des Landes 3 ersann sein Herz. Sünde 4 lud er auf sich. [Im] Herzen 5 [hegte er] kein Erbarmen. 7 Babels Heiligtümer 8 richtete er böse zu. Die Bildwerke 10 brachte er in Unordnung, 12 die Kultordnungen 13 richtete er zugrunde. 14 Die Hand des Fürsten Marduk 15 erfaßte er 16 und führte ihn ab 17 nach Baltilaa. 18 Gemäß dem Zorn des Gottes 19 verfuhr er mit dem Lande, 21 seinen Groll 20 löste er nicht.
Nach → Deuterojesaja
Weiterhin greift Jer 10,5
Bar 6,23-28
Deutlich wird aus den Belegen, dass Götterbilder und ihre Zurschaustellung in der hebräischen Bibel nicht als → Epiphanien
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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2. Weitere Literatur
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Abbildungsverzeichnis
- Das Ischtartor mit Prozessionsstraße in Babylon (6. Jh.; Rekonstruktion des Vorderasiatischen Museums, Berlin). Aus: Wikimedia Commons; © Rictor Norton, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-2.0 + US-amerikanisch; Zugriff 30.10.2009
- Babylon im 6. Jh. v. Chr.; 1: Neustadt; 2: Tempelbezirk Esagila; 3: Zikkurat / Tempelturm; 4: Mardukstraße; 5: Libilchegalla-Kanal; 6: Außenmauer; 7: Marduktor; 8: Stadtmauer Nebukadnezars; 9: Heilige Pforte; 10: Ischtar-Tempel; 11: Prozessionsstraße; 12: Ischtartor; 13: Hängende Gärten; 14: Marduktempel; 15: Neujahrsfesthaus. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Barke mit Götterbild (fehlt) im Horustempel von Edfu (ptolemäische Zeit). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2005)
- Priester tragen eine Götterbarke, über der die Flügelsonne schwebt (Ramesseum, Theben West; 19. Dyn., 13. Jh. v. Chr.). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2010)
- Prozessionsstraße: Abschnitt der Widdersphingen-Allee, die Luxor und Karnak verband. © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2005)
- Assyrische Soldaten deportieren Götterbilder aus einer eroberten Stadt (Wandrelief aus dem Palast Tiglat-Pilesers III., 745-727 v. Chr., in Nimrud). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
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