Psalmen (AT)
(erstellt: Mai 2013)
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→ Asafpsalmen
1. Das Buch der Psalmen
1.1. Der Name des Buches
1.1.1. Tehillim. Das Judentum spricht vom סֵפֶר תְּהִלִּים sefær təhillîm „Buch der Lobgesänge” bzw. kurz von den תְּהִלִּים təhillîm „Lobgesängen” (das Wort תְּהִלָּה təhillāh „Lobgesang“ wird in den Psalmen dreißig Mal verwendet, allerdings nur in Ps 145,1
1.1.2. Psalmen. Die Septuagintahandschrift (→ Septuaginta
1.2. Die Zählung der Psalmen
Ps 114
Die Septuaginta enthält auch einen 151. Psalm, der laut Überschrift „außerhalb der Zählung steht“; eine hebräische Vorlage findet sich in Qumran (s. 5.3.).
1.3. Die fünf Bücher des Psalters
Die Doxologien sind offenbar sukzessive entstanden (vgl. Leuenberger, 2004): Die zweite Doxologie (Ps 72,18-19
1.4. Die Überschriften der Psalmen
Die Überschriften enthalten oft mehrere Elemente:
1.4.1. Verfasserangabe. Viele Überschriften schreiben den betreffenden Psalm einer Person oder Personengruppe zu. Am häufigsten wird → David
Unklar ist, welchen Sinn die Zuschreibung (mit der Präposition לְ lə „für“, auch „von“) ursprünglich hatte: Bei David, Mose und Salomo legt sich zunächst nahe, an Verfasserschaft zu denken (so die jüdische und christliche Tradition, vgl. die herkömmliche Übersetzung von מִזְמוֹר לְדָוִד mizmôr lədāwîd: „ein Psalm Davids“). Vom Psalmen dichtenden David spricht schon die große Psalmenrolle aus Qumran: Nach dem darin enthaltenen Prosatext „David’s Compositions“ soll David 3600 „Lobgesänge“ (תהלים təhillîm) sowie für das tägliche Opfer 450 „Lieder“ (שיר šîr) verfasst haben. Diese Vorstellung dürfte vor allem auf das Bild des Leierspielers am Königshof Sauls (1Sam 16,14-23
Bei den Sängergilden zielt die Zuschreibung entweder auf die Entstehung des Psalms im Kreis der benannten Gilde oder darauf, dass der Psalm durch die Gilde tradiert wurde.
1.4.2. Situationsangabe. Die Überschriften, die → David
1.4.3. Gattungsangabe. Viele Überschriften enthalten einen hebräischen Gattungsbegriff: Am häufigsten begegnet מִזְמוֹר mizmôr „zur Instrumentalbegleitung gesungenes Lied“ (57-mal); weitere Bezeichnungen sind שִׁיר šîr oder שִׁירָה šîrāh „Lied“ (30-mal, oft neben mizmôr), תְּפִלָּה təfillāh „Gebet“ (5-mal im Psalter und Hab 3,1
1.4.4. Weitere Angaben. Weitere Elemente der Überschriften beziehen sich auf den musikalischen Vortrag oder die liturgische Verwendung, z.B. בִּנְגִינוֹת bingînôt „mit Saitenspiel“ (Ps 4
1.5. Psalmensammlungen im Psalter
1.5.1. Doppelüberlieferungen
Psalmen und Psalmteile, die zweifach begegnen, geben einen Einblick in die komplexe Entstehungsgeschichte des → Psalters
1.5.2. David-, Korach- und Asafpsalmen
Der Psalter enthält drei größere Gruppen von Davidpsalmen, die auf selbstständige Teilsammlungen zurückgehen dürften (Ps 3-41; Ps 51-71, erweitert um den Salomopsalm Ps 72
1.5.3. Elohistische Psalmen
Ps 42/43-83 werden elohistischer Psalter genannt, da hier vorwiegend der Begriff אֱלֹהִים ’älohîm „Gott“ begegnet, der Gottesname יְהוָה Jhwh („Jahwe“) dagegen nur selten; den meisten übrigen Psalmen ist diese „elohistische“ Prägung fremd.
Der Vergleich zwischen den doppelt überlieferten Stücken Ps 14
Die elohistischen Psalmen geben Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Psalters: Ps 42-83 müssen einmal eine selbstständige Sammlung gebildet haben, in der bereits die mittleren Davidpsalmen, die Asafpsalmen und die vorderen Korachpsalmen vereint waren. Da die hinteren Korachpsalmen keine elohistische Prägung aufweisen (vgl. allerdings Gese, 1972, zu Ps 84
1.5.4. Wallfahrtspsalmen
Die Überschrift שִׁיר הַמַּעֲלוֹת šîr hamma‘ǎlôt „ein Wallfahrtslied“ (andere Deutungen: „Aufstiegs-“ oder „Stufenlied“), die sich bei Ps 120-134
2. Aspekte der Forschungsgeschichte
2.1. Datierung der Psalmen
Die beginnende kritische Psalmenforschung des späten 18. und frühen 19. Jh. hinterfragte zunächst die traditionelle Zuschreibung an David; Anstöße boten etwa die in Davidpsalmen enthaltenen Erwähnungen des Tempels (z.B. Ps 5,8
Die formgeschichtliche Methode (s. 2.2.) führte zu einer Neubesinnung: Einerseits zeigte sich, dass die einseitige Spätdatierung der Vorstellungswelt der Psalmen nicht gerecht wird, da nicht wenige Vorstellungen aus religionsgeschichtlichen Gründen viel älter sein müssen (z.B. die Rede vom göttlichen König), andererseits erwies sich das ganze Unternehmen einer präzisen Datierung der Psalmen als methodisch fragwürdig (vgl. schon de Wette, 1811), da sich zeigte, dass die „eigentümliche Formelhaftigkeit“ der Psalmen (Gunkel / Begrich, 1933) keine Rückschlüsse auf die konkrete Ereignisgeschichte erlaubt.
Die heutige Forschung versucht meist, die Einzelpsalmen größeren Epochen zuzuordnen (Königszeit, exilisch-nachexilische Zeit, hellenistische Zeit); dabei spielen religions- und theologiegeschichtliche Zusammenhänge ebenso eine Rolle wie der literarische Charakter des betreffenden Psalms.
2.2. Form- und Gattungsgeschichte
Herder forderte in seinem Werk „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (1782/83), dass die Psalmen aus der Kultur des orientalischen Altertums zu erklären seien. In Anlehnung an die bahnbrechenden Untersuchungen → Lowths
Auf der von Herder und de Wette geschaffenen Grundlage entwickelte → Gunkel
In der heutigen Forschung kann die gattungsgeschichtliche Methode als heuristisch unverzichtbar gelten; Gunkels Hauptgattungen haben sich im Wesentlichen als tragfähig erwiesen (s. 3.; Thronbesteigungslieder und Königspsalmen sind allerdings keine Gattungen im strengen Sinn, da sie formal sehr uneinheitlich sind, s. 3.5.1. und 3.5.2.). Der unverwechselbaren Gestalt der Einzeltexte wird heute aber größeres Gewicht beigemessen. Zudem wird die Möglichkeit, eine Entwicklung der Gattungen zu rekonstruieren, skeptisch beurteilt; fraglich ist vor allem, ob und inwieweit die Psalmengattungen auf ideale Urformen zurückgehen. Als schwierig erweist sich auch der Zugang zu den sozialen und institutionellen Hintergründen der Gattungen („Sitz im Leben“); es hat sich gezeigt, dass die vorliegenden Texte meist keine eindeutigen Rückschlüsse darauf erlauben. Hinzu kommt, dass der Anteil der rein literarischen, d.h. für den Kontext im Buch geschaffenen Psalmen und Psalmteile wesentlich größer sein dürfte, als Gunkel annahm (s. 2.5. und 2.6.).
2.3. Religionsgeschichtliche Kontexte
Um die Psalmen aus ihrer Zeit zu verstehen, zog Gunkel Überlieferungen aus Israels altorientalischen Nachbarkulturen heran, die in den großen archäologischen Expeditionen des 19. Jh.s zutage gekommen waren; zugleich verwies er auf Parallelen aus der griechischen und römischen Antike, mitunter auch aus zeitlich und räumlich entfernteren Kulturen. Gunkel weitete also die für die Gattungsgeschichte grundlegende Suche nach vergleichbaren Texten, Sprachformen und Motiven programmatisch über das Alte Testament hinaus aus, woraus sich eine umfassende religionsgeschichtliche Perspektive ergab. Gunkels Schüler → Mowinckel
Neue Impulse brachte die Entdeckung der spätbronzezeitlichen nordsyrischen Metropole → Ugarit
2.4. Die Bildsprache der Psalmen
Die traditions- und religionsgeschichtliche Frage nach der Vorstellungswelt der Psalmen wurde durch die bahnbrechenden ikonographischen Untersuchungen Keels (1972) grundlegend erweitert und vertieft; Keel verglich die Bildsprache der Psalmen erstmals umfassend mit einer Fülle bildlicher Darstellungen aus den altorientalischen Kulturen, was auf viele Psalmen neues Licht warf und bislang rätselhafte Aussagen zu verstehen half (→ Ikonographie
2.5. Nachkultische Psalmen und Bearbeitungen
Bereits Gunkel war davon ausgegangen, dass zahlreiche Psalmen, vor allem Klage- und Danklieder des Einzelnen, nicht mehr aus dem Kult stammen, obwohl sie sprachliche Formen verwenden, die in der kultischen Dichtung geprägt wurden: „Die frommen Seelen haben es gelernt, Lieder zu singen, in denen sie von jeder äußeren Handlung absahen, und die nicht mehr für den öffentlichen Gottesdienst bestimmt waren. … So ist die ‚geistliche Dichtung‘, der eigentliche Schatz des Psalters, entstanden.“ (Gunkel / Begrich, 1933).
Die jüngere Forschung hat diesen „Psalmen im nachkultischen Raum“ (Stolz, 1983) wachsende Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei zeigte sich, dass für die kultferne Gebets- und Meditationspraxis wahrscheinlich nicht nur neue Psalmen gedichtet, sondern auch viele ältere Psalmen bearbeitet wurden (vgl. schon Deissler, 1963). Die nachkultischen Psalmen und Psalmfortschreibungen ließen den Psalter zu einem Gebets- und Meditationsbuch werden (ähnlich bereits Gunkel / Begrich, 1933; vgl. Füglister, 1988; Lohfink, 1992; Zenger, 1998). Diese Entwicklung hängt offenbar mit der (spät-)nachexilischen Gruppenfrömmigkeit zusammen, wie sich an den Gruppenbezeichnungen der עֲנָוִים ‘ǎnāwîm „Demütigen“, צַדִּיקִים ṣaddîqîm „Gerechten“ und חֲסִידִים ḥǎsîdîm „Getreuen“ erkennen lässt, die die nachkultischen Psalmen und Bearbeitungen prägen (Rahlfs, 1892; Lohfink 1990; Levin, 1993; Zenger, 1998; Nõmmik, 2000; Ro, 2002).
2.6. Redaktionelle Zusammenhänge
Die Entdeckung von Psalmfortschreibungen und rein literarischen Psalmen verband sich mit der Frage nach der komplexen Geschichte des Psalters (s. 1.5.5. und → Psalter
Die redaktionsgeschichtliche Untersuchung des Psalters hat kleinere und größere Strukturen herausgearbeitet: Benachbarte Psalmen sind oft absichtsvoll nebeneinander gestellt (iuxtapositio), teils auch durch redaktionelle Elemente verkettet (concatenatio; vgl. Lohfink, 1992); ein Sonderfall sind „Zwillingspsalmen“, die sich gegenseitig auslegen, v.a. Ps 105
Neue Perspektiven für die redaktionsgeschichtliche Analyse bietet der Vergleich mit Psalmenhandschriften aus Qumran (v.a. der großen Psalmenrolle 11Q5, aber auch etlichen Handschriften aus Höhle 4), da diese, soweit sie erhalten sind, die Psalmen oft anders anordnen, teils auch zusätzliche Stücke bieten. Allerdings ist umstritten, wie sich diese Sammlungen zum protomasoretischen Psalter verhalten (vgl. Fabry, 1998; Lange, 2009).
3. Gattungen und Psalmengruppen
3.1. Hymnus
Als Hymnen gelten v.a. Ps 8
3.1.1. Formmerkmale
Hauptmerkmale sind nach Gunkel die Einführung, die zum Lob Jhwhs auffordert, und das Hauptstück, das Anlass und Inhalt des Lobgesangs entfaltet. Idealtypisch ist die Form im Mirjamlied (→ Mirjam
Das Hauptstück wird meist mit כִּי kî angeschlossen, das entweder als Konjunktion („denn“, „dass“) oder als emphatische Partikel („ja“, „fürwahr“) zu deuten ist; im ersten Fall wäre das Hauptstück begründende Fortsetzung des Lobaufrufs (Gunkel / Begrich, 1933), im zweiten „Durchführung des geforderten Lobes“ (Crüsemann, 1969). Das Hauptstück spricht meist von Jhwh in der 3. Person, seltener wird Jhwh angeredet; Jhwhs Eigenschaften und Taten werden gern mit Nominalsätzen oder Partizipien benannt. Als ursprünglichen Sitz im Leben nahm Gunkel den Festkult im Heiligtum an.
3.1.2. Imperativische und partizipiale Hymnen
Eine wichtige formale Differenzierung wurde von Crüsemann (1969) eingeführt: Er unterschied zwischen dem imperativischen Hymnus vom Typ des Mirjamliedes und dem partizipialen Hymnus, der Jhwh mit partizipialen Prädikationen besingt, z.B. Am 5,8
Der die Plejaden und den Orion macht, … Jhwh ist sein Name!“
Crüsemann verknüpfte diese Unterscheidung mit einer entstehungsgeschichtlichen Überlegung: In Israels Nachbarkulturen (v.a. Ägypten, Mesopotamien, auch Griechenland) ist eine Fülle von Götterprädikationen und Götterepitheta belegt, die den hymnischen Partizipialprädikationen des Alten Testaments ähneln. Die partizipialen Hymnen seien daher aus Israels Umwelt übernommen und erst sekundär auf Jhwh übertragen worden; dagegen erweise sich der imperativische Hymnus, der von Jhwhs geschichtlichen Heilstaten handle, als genuin israelitische Form. Immerhin finden sich auch zur imperativischen Lobaufforderung vereinzelte mesopotamische und ägyptische Parallelen, die zur Vorgeschichte des imperativischen Hymnus in Israel gehören könnten.
Gunkels Definition des Hymnus ist mitunter grundsätzlich bestritten worden: Westermann (1977) verwies darauf, dass das Hebräische nicht zwischen „loben“ und „danken“ unterscheidet und kein eigenes Wort für „danken“ hat; die von Gunkel vorgeschlagene Trennung zwischen Hymnus und Danklied sei daher durch die Unterscheidung zwischen berichtenden und beschreibenden Lobpsalmen zu ersetzen: Das berichtende Lob handle von einer einmaligen göttlichen Rettungstat (z.B. Ex 15,21
Die gegenwärtige Forschung verzichtet vielfach darauf, nach der Urform des Hymnus zu fragen; auch wenn meist weiterhin eine hymnische Gattung angenommen wird, werden die Möglichkeiten, deren Geschichte zu rekonstruieren, skeptisch beurteilt. Auf der inhaltlichen Ebene zeigt sich immer deutlicher, in welch hohem Maß hymnische Texte durch tempeltheologische Vorstellungen geprägt sind, deren gedankliches Zentrum der Motivkreis des Königsgottes ist (Spieckermann, 1989; Müller, 2008). Diese Prägung deutet auf kultische Hintergründe; jedoch ist damit zu rechnen, dass die Hymnen des Psalters sich vom kultischen Gebrauch gelöst haben, teils auch von vornherein für den literarischen Zusammenhang des Buches verfasst worden sind.
3.2. Klagelied des Einzelnen (KE)
Das KE kann als „Grundstock des Psalters“ (Gunkel / Begrich, 1933) gelten. Dazu zählen v.a. Ps 3-7
3.2.1. Formmerkmale
Die Gattung ist durch drei Elemente gekennzeichnet: 1. Am Anfang steht die Anrufung (invocatio), meist unter Verwendung des Gottesnamens (z.B. „Jhwh, mein Gott“ in Ps 7,2
Zwei Elemente können hinzutreten: Neben Klage und Bitte steht mitunter ein Vertrauensbekenntnis (z.B. Ps 13,6
Ein „Muster“ des KE bietet Ps 13
3.2.2. Zum Sitz im Leben
Die Forschung hat vielfach versucht, die institutionellen und kultischen Hintergründe des KE zu erhellen. So wurde vermutet, dass das Gebet um Heilung nicht ans Heiligtum gehörte, sondern in den unmittelbaren Lebensbereich des Kranken (Seybold, 1973); als Sitz im Leben wurden häusliche Bittrituale vorgeschlagen (Gerstenberger, 1980). Feindklagepsalmen, vor allem die Gebete unschuldig Angeklagter (z.B. Ps 7
Zu beachten ist jedoch, dass die meisten KE – zumindest in ihrer vorliegenden Gestalt – literarische Weiterentwicklungen der Gattung darstellen, die sich längst vom ursprünglichen Sitz im Leben gelöst haben; die Texte bieten in der Regel zu wenige Anhaltspunkte, um die Sitze im Leben zu erfassen, die im Hintergrund der Gattung stehen.
3.2.3. Der Stimmungsumschwung
Eine viel diskutierte Frage ist der sog. Stimmungsumschwung: Mehrfach münden Klage und Bitte, in denen die Verzweiflung des betenden Subjekts zum Ausdruck kommt, scheinbar unvermittelt in ein Vertrauensbekenntnis und / oder Lobgelübde, wobei die Gewissheit vorausgesetzt wird, dass Jhwh das Gebet erhört hat (v.a. Ps 13,6
Die Forschung schlägt verschiedene Erklärungen vor:
● Ein liturgisches Modell ist die Annahme eines priesterlichen Heilsorakels (Küchler, 1918; Begrich, 1934): Nachdem der Beter im Tempel seine Klage gesprochen habe, sei ihm die Erhörung seines Gebets von einem Priester zugesagt worden; der Beter habe mit Vertrauensbekenntnis und / oder Lobgelübde geantwortet. Anspielungen auf das priesterliche Heilsorakel wurden vor allem in Ps 35,3
● Die ältesten KE dürften wie die DE als Gebetsformulare entstanden sein. Da die verschiedenen Formulare wahrscheinlich in denselben Heiligtumsarchiven aufbewahrt wurden, könnte es sich für die beteiligten Ritualexperten nahegelegt haben, Äußerungen der Klage und des Vertrauens zu neuen Gebetsformularen zusammenzustellen (→ Gebet
● Die KE könnten bereits im Rückblick auf die erfahrene Erhörung von Klage und Bitte verschriftet worden sein (→ Gebet
● Ein weiteres Modell setzt auf der sprachlich-pragmatischen Ebene an: Im Prozess von Klage und Bitte stelle sich die Gewissheit der Erhörung ein; die Wende zum Lob falle mit dem Aussprechen dieser Gewissheit zusammen (Janowski, 2001). So betrachtet kann das KE als „zielgerichtetes Vertrauensparadigma“ erscheinen (Markschies, 1991), d.h. als Abfolge von Sprechakten, die, weil sie von vornherein an Jhwh gerichtet sind, das Vertrauen auf ihn herstellen (vgl. Rechberger, 2012).
3.3. Danklied des Einzelnen (DE)
Als DE gelten v.a. Ps 18
Das DE ist das Gegenstück zum KE: Der Beter dankt Jhwh, dass er die Klage erhört hat, und erzählt der Gemeinde von seiner Rettung. Diese „doppelte Sprechrichtung“ (Crüsemann, 1969) lässt einen kultischen Sitz im Leben vermuten. Er spiegelt sich auch darin, dass das hebräische תּוֹדָה tôdāh nicht nur „Danklied“ bedeuten kann (z.B. Ps 42,5
Das DE hat zwei Hauptteile: 1. die Einführung oder Dankrede, die sich an Jhwh richtet („ich erhebe dich“, „ich preise dich“ etc.), wobei meist der Gottesname Jhwh vokativisch genannt wird; 2. die Erzählung oder Zeugenrede, die sich an die Gemeinde richtet, meist über Jhwh spricht und von der erfahrenen Rettung handelt. Mögliche Gegenstände der Zeugenrede sind: a. der Rückblick auf die erlittene Not, b. die Anrufung Jhwhs (teils sogar mit dem Zitat des Klagegebets, vgl. Ps 30,10-11
Die formale Vielfalt ist beim DE besonders ausgeprägt. Die traditionellen Zuschreibungen der angeführten Psalmen zu dieser Gattung sind nicht selten umstritten. Fraglich ist außerdem, ob die erhaltenen DE noch auf den genannten Sitz im Leben zurückgeführt werden können oder nicht vielmehr als rein literarische Kompositionen zu betrachten sind.
3.4. Klagelied des Volkes (KV)
Als KV gelten v.a. Ps 44
Das KV ist das kollektive Gegenstück zum KE. Abgesehen davon, dass es eine Mehrzahl von Sprechern hat (1. P. Pl., mitunter auch kollektiver Gebrauch der 1. P. Sg., z.B. Ps 44,7
Den Sitz im Leben vermutete Gunkel im öffentlichen → „Fasten
In den meisten Fällen ist deutlich, dass die KV die einschneidenden Krisenerfahrungen bewältigen, die durch das Ende des judäischen Königtums am Anfang des 6. Jh.s verursacht wurden; Hauptthemen sind die Zerstörung des Tempels und die Unterdrückung des Gottesvolkes. Allerdings ist nicht selten umstritten, wie das jeweilige KV genauer zu datieren ist; neben der sog. Exilszeit wird mitunter auch die persische Epoche erwogen, teils sogar die Makkabäerzeit.
Eine wichtige Frage betrifft das Verhältnis zu altorientalischen Vergleichstexten, namentlich aus Mesopotamien und dem hethitischen Reich. Prägender Einfluss wird vor allem den sumerischen Stadtklagen zugemessen (Emmendörffer, 1998), monumentalen Gedichten, die über den Untergang von Städten und Tempeln handeln (→ The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature
3.5. Psalmengruppen mit gemeinsamer Thematik
3.5.1. Jhwh-Königs-Psalmen
Eine wichtige Gruppe sind die sog. Jhwh-Königs-Psalmen Ps 47
Die Bedeutung des Rufes war lange umstritten: Entweder ist ein dynamischer Vorgang gemeint („Jhwh wurde König“), was auf die Vorstellung einer göttlichen Thronbesteigung verweist (neben Gunkel vor allem → Mowinckel
Die Jhwh-Königs-Psalmen stammen wahrscheinlich aus verschiedenen Zeiten: Während Ps 93
3.5.2. Königspsalmen
3.5.3. Zionspsalmen
Die kleine Gruppe umfasst Ps 46
3.5.4. Geschichtspsalmen
Gegenstand der Psalmengruppe Ps 77
3.5.5. Weisheitspsalmen
Während weisheitliche Themen in vielen Psalmen begegnen und der Psalter im Ganzen als weisheitlich geprägt erscheinen kann (Zenger, 1998), werden seit Gunkel einige Psalmen im engeren Sinn Weisheitspsalmen genannt, da weisheitliche Weltdeutung und Lehre in ihnen besonderes Gewicht erhält (→ Weisheit
3.6. Sonderformen
3.6.1. Akrostichische Psalmen
Eine auffällige Form haben die alphabetischen Psalmen oder → Akrosticha
3.6.2. Liturgien
Eine sehr uneinheitliche Gruppe bilden → Liturgien
4. Vergleichstexte
4.1. Psalmen außerhalb des Psalters
Für gattungsgeschichtliche Vergleiche sind zunächst die im Alten Testament enthaltenen poetischen Texte außerhalb des Psalters heranzuziehen, die den Psalmen formal nahestehen, teils einer der Hauptgattungen der Psalmen zuzurechnen sind (vgl. Mathys, 1994). Dazu zählen vor allem das Schilfmeerlied (Ex 15
4.2. Altorientalische und antike Hymnen und Gebete
Aus Israels altorientalischen Nachbarkulturen haben sich zahlreiche religiöse Texte gefunden, die mit den Psalmen verwandt sind; im Blick auf poetische Fügungen, Bildsprache und theologische Konzepte zeigen sich einschlägige Parallelen. Die Psalmendichtung, deren Anfänge in der israelitisch-judäischen Königszeit liegen, war in ihrem Umfeld kein Fremdkörper, sondern teilte manche sprachliche Muster und religiöse Vorstellungen mit den benachbarten Kulturen. Dennoch erweisen sich die Psalmen im Vergleich als Texte sui generis. Das ist teils durch die Eigenheiten der althebräischen Sprache und Religion bedingt, teils durch die Psalmendichtung der exilisch-nachexilischen Zeit, denn in ihr schlug sich die vom Ende des Königtums ausgelöste Transformation der Jhwhreligion nieder, die diese zu einer im Alten Orient einzigartigen Religionsgestalt machte. Allerdings finden sich auch in jüngeren Psalmen und Psalmteilen Elemente, die in altorientalischen und antiken Hymnen und Gebeten Entsprechungen haben.
Von der reichhaltigen und vielgestaltigen mesopotamischen Gebetsliteratur sind vor allem die in großer Zahl belegten sog. Handerhebungsgebete (Šuilla-Gebete) zu nennen (Edition: Ebeling, 1953), deren Formen und Inhalte besonders zu den KE Parallelen aufweisen (Zernecke, 2011); andere Hymnen- und Gebetsgattungen kommen hinzu (Auswahledition: Lenzi, 2011; Übersetzungen: TUAT II; TUAT.NF VII), etwa die sog. Herzberuhigungsklagen, mit denen das Herz erzürnter Götter beruhigt werden sollte (Edition: Maul, 1988). Die monumentalen ägyptischen Götterhymnen (Übersetzungen: Assmann, 1999; → Hymnen und Gebete
Wenig beachtet wird bislang, dass die Psalmen auch mit Gebetstexten der griechischen und römischen Antike zu vergleichen sind, obwohl Gunkel diese Texte konsequent herangezogen hatte (s. 2.3.): Zu nennen sind besonders die sog. Homerischen Hymnen (Edition: Evelyn-White, 1936) oder die „Hymnen des Orpheus“ (Edition: Quandt, 1955; zu griechischen Hymnen im Allgemeinen Burkert, 1994; Paulsen, 2009); auch Stücke der frühgriechischen Lyrik bieten Vergleichspunkte zu den Psalmen (Müller, 2003).
4.3. Psalmen und Qumran
Einige biblische Psalmen sind in → Qumran
4.4. Apokryphen
Die sog. Apokryphen der Septuaginta enthalten nicht wenige Hymnen und Gebete, die den Psalmen nahestehen: Die 18 → Psalmen Salomos
5. Zur Theologie der Psalmen
5.1. Gottesbild
Im Psalter treffen sich theologische Hauptlinien des Alten Testaments, weshalb Luther von einer „kleinen Biblia“ oder „Summa“ der gesamten Bibel sprechen konnte (Vorrede zum Psalter, seit 1528 [WA.DB 10.1]). Das Gottesbild der Psalmen ist dabei so vielschichtig wie ihre Geschichte; uralte Vorstellungen, die in Israels altorientalischen Nachbarkulturen Parallelen finden, sind mit jüngeren Konzepten verknüpft, die sich Israels einzigartiger Gotteserfahrung verdanken.
Im Zentrum des Gottesbildes steht die Vorstellung des königlichen Gottes. Ihre Wurzeln sind sehr alt und mit anderen altorientalischen Gottesbildern verwandt, sie wurde aber um zahlreiche neue Züge angereichert, die sie zu einer singulären Konzeption werden ließen: Der archaische Vorstellungskreis des königlichen → Wettergottes
5.2. Welt- und Menschenbild
5.2.1. Kosmologie
Der Königsgott Jhwh wird als „Herr der ganzen Erde“ gepriesen (Ps 97,5
5.2.2. Das Ich vor Gott
Im Mittelpunkt einer Mehrzahl von Psalmen steht das betende Ich; in ihm spricht in der Regel nicht das Gottesvolk, sondern ein einzelner Mensch. Die Texte spiegeln dabei keine Erlebnisse von Einzelpersonen, vielmehr verdichten sich in ihnen auf überindividuelle Weise Grunderfahrungen existenzieller Not und menschlicher Hinfälligkeit und Erfahrungen der Rettung aus Krankheit und Todesgefahr.
Entscheidend ist, dass das betende Subjekt seinem Gott stets unmittelbar gegenüber tritt; wer die Psalmen betet, bedarf keines priesterlichen Mittlers. Viele Psalmen verknüpfen diese Gottunmittelbarkeit mit einer imaginierten → Audienz
Das Verhältnis zwischen betendem Ich und Jhwh hat eine große Spannweite: Die Psalmen enthalten Hilfeschreie zu Jhwh aus tiefster Not (Ps 22
5.2.3. Die Feinde
Sehr häufig sprechen die Psalmen von den Feinden (→ private Feinde
Im Hintergrund der Feindklage des Einzelnen dürfte u.a. die Erfahrung stehen, dass Krankheit den Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutete (Ps 22
Viele Psalmen verknüpfen die Feindmotivik mit der Rede von den רְשָׁעִים rəšāʽîm „Frevlern“, die die Gerechten bedrohen (z.B. Ps 73,6-8
5.3. Die Antwort Israels und das weltweite Gotteslob
Nach von Rad (1957) hat Jhwh „sich sein Volk nicht als stummes Objekt seines Geschichtswillens, sondern zum Gespräch erwählt“; die „Antwort Israels“ auf Jhwhs erwählendes Handeln und Reden sei vor allem dem Psalter zu entnehmen. Tatsächlich können die Psalmen als Gebete des um den Zion versammelten Gottesvolkes gelesen werden, das die Völkerwelt und den gesamten Kosmos zum Lob Gottes aufruft (Ps 47
6. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte
Entscheidend ist, dass die Psalmen in Judentum und Christentum eine zweifache Rezeptions- und Wirkungsgeschichte erfahren haben, die bei aller grundlegenden Differenz zwischen beiden Religionen zahlreiche Parallelen aufweist (vgl. Gillingham, 2008).
Die Psalmen wurden schon früh zum Gegenstand von Auslegung und theologischer Reflexion: Aus dem antiken Judentum sind vor allem die Kommentierungen einzelner Psalmen in Qumran zu erwähnen (v.a. 4Q171 zu Ps 37
Im jüdischen und christlichen Gottesdienst wuchs den Psalmen eine zentrale liturgische Bedeutung zu; dabei entwickelte sich in beiden Religionen aus der Psalmenlesung die Praxis des Psalmengesangs, die eine Fülle von Vertonungen und liturgischen Formen aus sich heraussetzte. Daneben ist für den christlichen Gottesdienst die von den Psalmen inspirierte Lieddichtung hervorzuheben, die vor allem durch Luthers Nachdichtungen (z.B. „Ein feste Burg ist unser Gott“ nach Ps 46
Die anthropologische Dimension der Psalmen entfaltete vor allem für die moderne Lyrik inspirierende Wirkung (z.B. Celan). In der neuzeitlichen Musik begegnen besonders seit der Romantik Vertonungen von Psalmen, die konzertant aufgeführt werden (z.B. in Brahmsʼ Deutschem Requiem). Die bildende Kunst hat seit der Spätantike bis in die Moderne auf vielerlei Weise Motive der Psalmen aufgenommen.
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- David spielt die Harfe vor Saul (Lucas van Leyden; 1509).
- König David, Harfe spielend (1Sam 18,10; Haggada aus Mähren; um 1740).
- Aufbau des Hymnus am Beispiel von Ex 15,21.
- Aufbau des Klagelieds des Einzelnen am Beispiel von Ps 13.
- David spielt Harfe vor Saul (Rembrandt; 1660 n. Chr.).
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