Deutsche Bibelgesellschaft

Qina-Metrum

Andere Schreibweise: Kina-Metrum

(erstellt: Februar 2013)

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Als Qina oder Qina-Metrum bezeichnet man ein Versmaß mit in der Regel 3 + 2 Hebungen, das für Totenklagelieder charakteristisch sein soll (→ Klagefeier; → Totenklage).

1. Einführung

Von einem Metrum spricht man, wenn Wörter so gewählt und gesetzt sind, dass sich die Abfolge von langen und kurzen oder betonten und unbetonten Silben in mehr oder weniger festen Abständen wiederholt und damit ein relativ festes System bildet. Für die althebräische Metrik stehen traditionell zwei Ansätze zur Diskussion: Das alternierende System, bei dem jede zweite Silbe betont wird (vgl. jüngst Tropper, 11-20, im Blick auf die altsemitische Poesie), und das meist vertretene akzentuierende System, bei dem die normale Wortbetonung den Rhythmus bestimmt.

2. Das Qina-Metrum – eine These von Karl Budde

Nach einer erstmals 1882 von Karl Budde vertretenen These gab es in Israel für Leichenklagelieder, die bei der Trauer um Verstorbene insbesondere von → Klagefrauen angestimmt wurden, ein spezielles Metrum, das „Qina“-Metrum, das seinen Namen dem hebräischen Begriff für „Leichenklage“ (קִינָה qînāh) verdankt (vgl. z.B. Gerstenberger 471). Es besteht – ausgehend vom akzentuierenden System – aus 3 + 2 Hebungen, doch können es nach Budde seltener auch 4 + 2 (Klgl 2,13a; Klgl 3,56) oder 4 + 3 Hebungen sein. Entscheidend ist, dass die Zeilen aus einem längeren ersten und einem kürzeren zweiten Stichos bestehen (Budde, 1882, 5f; vgl. Freedman / Von Fange [280f.287.289], die das Metrum nach der Zahl der Silben bestimmen). Wo mit 2 + 2 Hebungen gleichlange Stichen vorliegen, sieht Budde (1882, 7) ein Übergewicht des ersten Stichos in der „Länge und Wucht“ der Wörter dieses Versteils begründet (z.B. Klgl 1,1b.c.4c.9b.13c.14b.17c.18c.19a). Wenn der erste Stichos sogar kürzer als der zweite ist, will Budde (1882, 7) den Text gegen den Sinn, jedoch mit dem Metrum der Umgebung lesen (z.B. Klgl 1,10c.13a). Schließlich nimmt Budde eine Fülle von Textänderungen vor und kommt so für Lied I-IV der → Klagelieder Jeremias zu dem Ergebnis, dass das Qina-Metrum hier nicht nur in den meisten, sondern sogar in allen Versen vorliege (1882, 6-11).

Wegen des ungleichen Gewichts der Stichen hat man das Qina-Metrum als hinkendes Versmaß bezeichnet. In der Verkürzung des zweiten Teils, den Budde (1882, 5) auch als „das verstümmelte zweite Versglied“ bezeichnet, sah man ein Abwürgen, ein Schluchzen, ja ein Dahinsiechen zum Ausdruck gebracht und damit einen Verweis auf den Inhalt, die Totenklage. Als Beleg dafür, dass dieses Metrum seinen „Sitz im Leben“ tatsächlich im Leichenlied hatte, diente z.B. die in Jer 9,20 zitierte Totenklage, da sie in dem beschriebenen Metrum formuliert ist.

Das Qina-Metrum im Druckbild der Bibelausgaben. Buddes These war so einflussreich, dass sie in Threni das Druckbild der Biblia Hebraica Kittel (BHK 1. Aufl. 1906; 2. Aufl. 1913; 3. Aufl. 1937) und der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS 1975) prägte. Die verantwortlichen Herausgeber, R. Kittel (BHK 1. und 2. Aufl.) und Th.H. Robinson (BHK 3. Aufl. und BHS), haben die Zeilen durch ein Spatium sehr oft so aufgeteilt, dass sich 3 + 2 Hebungen ergeben. Dabei folgen sie vielfach der masoretischen Akzentsetzung (z.B. Klgl 3,16-18), in einer Reihe von Fällen haben sie das Spatium jedoch unter dem Einfluss der These Buddes gegen die Akzente gesetzt. So unterteilen sie in Klgl 1,10c: „von dem du befohlen hast: Sie dürfen nicht kommen // in die Gemeinde, die dir ist!“ Nach der Akzentsetzung müsste man jedoch abgrenzen: „von dem du befohlen hast: // Sie dürfen nicht kommen in die Gemeinde, die dir ist!“. Die Akzentsetzung richtet sich hier nach dem Inhalt, die Spatiumsetzung dagegen nach dem Metrum, das sich für die Zeile jedoch nur postulieren lässt. Man kann nicht zeigen, dass der Verfasser 3 + 2 Hebungen intendiert hat, zumal die voranstehende Zeile ein anderes Metrum aufweist. Auch in weiteren Fällen ändern BHK und BHS die Abtrennung der Stichen gegenüber der masoretischen Akzentsetzung durch ein Spatium, um 3 + 2 Hebungen zu erhalten, z.B. in Klgl 1,13a.14a.14c; Klgl 2,4a (nur BHK 3. Aufl.; BHS); Klgl 3,20.27.32; Klgl 4,1a.15b.20b. In Klgl 1,14c und Klgl 2,14c werden dabei sogar constructus-Verbindungen auseinandergerissen. Der Verweis auf die masoretische Abtrennung besagt noch nicht, dass die Spatiensetzung der genannten Editionen falsch ist, die Beobachtung mahnt jedoch zur Vorsicht gegenüber der Suggestivkraft des Druckbilds von BHK und BHS. Die neue BHQ (Threni hg. von Rolf Schäfer) folgt in der Setzung des Spatiums verstärkt der Akzentsetzung (Klgl 1,10c.13a.14c; Klgl 2,4a.8b.14c; Klgl 3,20.27; Klgl 4,1a.15b.20b), weicht jedoch in Klgl 1,14a und Klgl 3,32 noch von ihr ab, um ein 3 + 2 Metrum zu suggerieren.

3. Kritik an Buddes These

Buddes These ist nach wie vor weithin anerkannt, wird in neuerer Zeit jedoch zu Recht kritisch gesehen (vgl. de Hoop).

1. Das sog. Qina-Metrum ist in den Klageliedern Jeremias nicht durchgängig anzutreffen. Schon E. Sievers (121) hat gezeigt, dass sich Buddes These eines durchgängigen Qina-Metrums in Threni 1-4 nicht halten lässt. Sie beruht erstens auf einer Fülle von Textänderungen, zweitens auf der problematischen Annahme, dass Anfangsstichen mit nur zwei Wörtern drei Hebungen tragen können, und drittens auf der ebenfalls schwierigen These, dass 2 + 3 Hebungen (vgl. z.B. Klgl 1,9b.10c; Klgl 2,8b.12a) gegen den Sinn als 3 + 2 Hebungen zu lesen sind. Um trotzdem an einem Qina-Metrum festhalten zu können, haben E. Sievers (120-123) 2 + 2 Hebungen, Rudolph (192) 3 + 3 Hebungen, Meek 2 + 3 sowie 3 + 2 + 2 Hebungen und Groß wie schon Budde 4 + 3 Hebungen zu Varianten erklärt, die innerhalb des Qina-Metrums möglich sein sollen.

Zu 2 + 2 Hebungen vgl. z.B. Klgl 1,4c.8b.c.13c.14b.19a.22c; Klgl 2,14b; Klgl 3,15.23.60; zu 3 + 3 Hebungen vgl. z.B. Klgl 1,4a.8a.16a; Klgl 2,4a.9a.17c.20a; Klgl 3,29; Klgl 4,1a.2b.4b.8b.11a; zu 4 + 3 Hebungen vgl. Klgl 4,15a.16b.

Da diese Varianten in den Klageliedern Jeremias jedoch unregelmäßig gesetzt sind und innerhalb der Gedichte keine besonderen Einschnitte markieren, wird mit ihrer Einbeziehung die für eine Metrik konstitutive Regelmäßigkeit aufgehoben. Zudem finden sich auch Verse mit 4 + 2 (Klgl 1,21b; Klgl 2,17a; Klgl 3,24.58) und 2 + 4 (Klgl 3,56) Hebungen. Insgesamt ergibt sich durch den unregelmäßigen Wechsel unterschiedlich aufgebauter Zeilen in Threni kein regelmäßiges Metrum, sondern eher ein sehr unruhiges Bild (vgl. Diller, 208f.; Salters 15-17; Parry 9f.).

2. Das sog. Qina-Metrum ist in den Klageliedern Jeremias zwar häufig anzutreffen, hat aber keine zentrale Bedeutung. Wie viele Zeilen in Klgl 1-4 nach der Intention des Verfassers mit 3 + 2 Hebungen zu lesen sind, lässt sich nicht genau sagen. Beispielsweise muss die Maqqeph-Schreibung, die Wörter durch einen „Bindestrich“ verknüpft und nur dem letzten Wort eine Hebung zukommen lässt, nicht dem ursprünglichen Vortragsstil entsprechen. Vermutlich lässt sich nur gut die Hälfte der Zeilen mit 3 + 2 Hebungen lesen. Längere Passagen von mehr als fünf Zeilen, die eindeutig in diesem Metrum formuliert wurden, sind zudem selten (Klgl 3,40-45). Vor allem lässt sich an einer Reihe von Stellen zeigen, dass der Dichter nicht an einer Formulierung mit 3 + 2 Hebungen gelegen war.

In Klgl 4,8b wird durch die eigentlich nicht notwendige Formulierung mit היה („sein“) auf eine Verkürzung des zweiten Stichos offensichtlich bewusst verzichtet und damit ein Metrum mit 3 + 2 Hebungen gerade verhindert. Auch in Klgl 2,19b und Klgl 4,21a hätte der zweite Stichos leicht mit 3 + 2 Hebungen formuliert werden können, wenn es der Verfasser gewünscht hätte. Klgl 2,8b und Klgl 4,19b haben 2 + 3 Hebungen, doch hätte der Dichter die beiden Zeilenhälften jeweils leicht vertauschen können, wäre ihm an 3 + 2 Hebungen gelegen gewesen. In Klgl 3,58a zeigt die ungewöhnliche Formulierung des Possessivums mit נֶפֶשׁ ebenso wie die keineswegs notwendige Anrede „Herr“, dass dem Dichter nicht daran gelegen war, sich wie in den ersten Vershälften der anliegenden Zeilen auf drei Hebungen zu beschränken.

3. Es ist fraglich, ob das sog. Qina-Metrum seinen „Sitz im Leben“ tatsächlich in der Totenklage hatte, ja ein Spezifikum dieser Klage darstellte und die Bezeichnung „Qina“ damit berechtigt ist. Dass 3 + 2 Hebungen z.B. in Jer 9,20; Ez 19,1-9.10-14; Ez 27,25-36 und Am 5,2 im Kontext der Totenklage begegnen, ist nicht zu bestreiten. Jedoch handelt es sich bei diesen Texten nur um fiktive prophetische Totenklagen, die mit dem Metrum allenfalls auf die übliche Form der Totenklage anspielen, falls dieses dort tatsächlich seinen Sitz im Leben gehabt haben sollte. Wirkliche Leichenklagelieder begegnen uns in narrativem Kontext nur in 2Sam 1,17-27 und 2Sam 3,33f. (vgl. 2Sam 19,1). Ausgerechnet sie sind jedoch nicht mit 3 + 2 Hebungen formuliert. Umgekehrt weisen beispielsweise Ps 19,8-10 und viele Verse in Ps 119 das besagte Metrum auf, obwohl sie mit Totenklage nicht das Geringste zu tun haben; das gilt z.B. auch für V. 3-4a in dem Siegeslied Ex 15,2-18, ja das → Hohelied zeigt, dass sogar Liebeslieder 3 + 2 Hebungen haben können (z.B. Hhld 1,5a.6a.8a.b.9-10.17; Hhld 2,1.6). In Threni fällt auf, dass Verse mit 3 + 2 Hebungen in Klgl 3,21-33, wo es um die Gnade Gottes geht und Hoffnung geweckt wird, keineswegs schwinden. Das besagte Metrum kann also nicht als Spezifikum der Totenklage gelten. Dass es auch in ihr Verwendung fand, mag sein, ob es die ersten Hörerinnen und Hörer aber an die Situation der Totenklage denken lassen konnte, bleibt fraglich (vgl. de Hoop, 80-104; Salters 17).

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