Rahab (Person)
(erstellt: Januar 2010)
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1. Name
Der Name Rahab (hebräisch רָחָב rāḥāv, griechisch Ῥαάβ Raab, in Mt 1,5
2. Rahab in biblischen Texten
2.1. Rahab im Buch Josua
2.1.1. Die Erzählungen
Die Erzählung über Rahab (Jos 2
Der Erzählfaden wird in der Erzählung über die Einnahme Jerichos durch die Israeliten (Jos 6
2.1.2. Literarhistorische Fragen
Dass die Landnahmeerzählungen des Buches Josua und insbesondere die Erzählung über die Einnahme Jerichos keine historischen Berichte über eine tatsächlich so geschehene Eroberung des Landes durch Israel sein können, ist schon seit den archäologischen Ausgrabungen von Ernst Sellin und Carl Watzinger bekannt, die in den Jahren 1907 bis 1909 durchgeführt und deren Ergebnisse 1917, 1922 und 1926 veröffentlicht wurden. Dabei wiesen beide Ausgräber in einer revolutionierenden Revision ihrer (eigenen) Chronologie nach, dass Jericho zur Zeit der „Landnahme“ längst zerstört war und nicht mehr bestand.
Umso schärfer stellt sich dann aber die Frage nach Ursprung und Sinn der nun als fiktiv erkannten Erzählungen des Josuabuchs und damit auch der Rahaberzählung in Jos 2
Einige Stationen der Forschungsgeschichte sollen im Folgenden skizziert werden.
Ernst Sellin (1917; → Sellin
Johannes P. Floß (1982): Die Annahme einer mündlichen Vorgeschichte der Erzählung wurde auch in der Folgezeit, wenngleich mit Differenzierungen, weiter beibehalten. So rekonstruierte Floß in einer umfangreichen Studie als vorliterarische Stufe die Geschichte einer namenlosen Prostituierten, die ihre Kunden (!) vor Übergreifern schützte und ihnen zur Flucht verhalf (Jos 2,1*.2b.3*.4*.5.6.15.16.22. Erst auf literarischer Ebene sei diese Geschichte zu einer Kundschaftergeschichte geworden und zudem mit Hilfe von Orts- und Personennamen auf die Verhältnisse in Jericho angepasst worden. Weitere Ergänzungen brachten zunächst eine Schwerpunktverlagerung auf die Stadtübergabe durch JHWH selbst (keine Eroberung auf Grund der Auskundschaftung), weitere Präzisierungen der Vereinbarungen sowie schließlich die Eroberung des gesamten Landes (Jos 2,24
Manfred Görg (1991): Diese Geschichte der Erzählung wird in den Grundzügen von Görg rezipiert: „Aus einer Kurzerzählung über den Besuch von Männern bei einer Dirne und deren geglücktes Versteckspiel ist die Darstellung einer signifikanten Episode zu Beginn der Landnahme geworden“ (15). So belässt Görg als Grundschicht lediglich die Verse Jos 2,1-3
Volkmar Fritz (1994): Eine in der Königszeit entstandene lokale Überlieferung, die das Überleben einer kanaanäischen Familie in einer besonderen Tat eines Familienmitgliedes begründet sah, oder auch eine mündlich überlieferte Geschichte vom Verrat der Stadt Jericho durch eine Hure sieht Fritz als möglichen Kern der Erzählung an. Als Grundschicht rekonstruiert er die gegenüber Görg nur wenig umfangreicheren Verse Jos 2,1-3
Klaus Bieberstein (1995): Behutsamer geht Klaus Bieberstein in seinen literarkritischen Operationen vor. Eine den größten Teil des heute vorliegenden Textes umfassende Grundschicht C1 (Jos 2,1-9a.[11b?].12-16.[21aβb?]22-24) wurde von einer postpriesterlichen Redaktion um die Verse Jos 2,9b-10a.11a*.(11b?) erweitert und schließlich durch weitere, nicht stratifizierbare Zusätze ergänzt (Jos 2,10b.[11*].17-21aα.[21βb?]). Die Grundschicht habe eine in Jericho ansässige und als nichtisraelitisch geltende Sippe Rahab als Aufhänger gewählt und ihre Eponymin ins Zentrum einer symmetrisch um ihr Glaubensbekenntnis gestalteten Einheit gestellt. Wenn die Einheit in spätvorexilische oder frühexilische Zeit datiert wird, fungiert Rahab „als augenfälliges Exempel für das von Jesaja gut ein Jahrhundert zuvor verkündete und gerade am Vorabend der babylonischen Zerstörung wiederholte (2Kön 18-19) Programm ,glaubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht‘, und so wurde sie, die auf Grund ihres Glaubens überlebt hatte, zum lebendigen Denkmal“ (431f). Wenn die Einheit hingegen erst in nachexilische Zeit datiert wird, erscheint Rahab ähnlich wie → Rut
Ed Noort (1998): So resümiert Noort am Ende seines Forschungsberichts zu Jos 2
Allerdings sind, und darauf machen nicht zuletzt auch einige der bislang genannten Autoren aufmerksam, mit der Rekonstruktion des (vor)literarischen Werdens dieser Erzählung längst nicht alle Aspekte der Geschichte und ihrer Hauptfigur in den Blick gekommen.
2.1.3. Eine positive Erzählfigur
Die von Klaus Bieberstein rekonstruierte Grundschicht von Jos 2
Sichtbar wird eine aktive Hauptfigur der Erzählung, die ab Jos 2,4
Damit ist Rahab deutlich aus den übrigen Erzählfiguren herausgehoben, sie handelt eigenständig, klug und unkonventionell und wird mit ihrem Handeln vom Text als positiv dargestellt. Mit ihrem Handeln wahrt sie die Unverletzlichkeit der im Haus aufgenommenen Fremden (Fritz) und wird so zur ersten Anwältin Israels (Görg). Durch ihr pointiertes Erkennen, dass das Land von Gott an Israel übereignet wurde, erhält sie prophetische Qualitäten (Görg; Viola Raheb), und Jos 2,12
Erstaunlich genug: Es ist eine Nichtisraelitin und damit aus der Perspektive des Textes eine → Fremde
2.1.4. Eine schillernde Erzählfigur
Doch Rahabs Handeln lässt sich auch anders betrachten. Immerhin liefert sie ihre Heimatstadt an die Feinde aus und gibt sie wissentlich dem Untergang preis. In dieser Perspektive erscheint sie als Verräterin und Kollaborateurin. Der Text problematisiert dies nicht; wohl aber die Auslegungsgeschichte (s.u.).
Ebenso wenig wertet der Text Rahabs Beruf. In Jos 2,1
Von Kultprostitution (→ Hure / Hurerei
Sozialgeschichtlich betrachtet war Prostitution für viele allein stehende Frauen eine Notwendigkeit, um den Lebensunterhalt verdienen zu können. Es ist bemerkenswert, dass der Text (im Unterschied zur Auslegungsgeschichte, s.u.) Rahabs Beruf nicht wertet, sondern ausgerechnet ihr, der Illegitimen, Fremden und Verräterin der eigenen Stadt, ein bedeutsames JHWH-Bekenntnis in den Mund legt und eine entscheidende Rolle bei der Einnahme der ersten Stadt im verheißenen Land zugesteht. Dies macht subversive Aspekte des Textes sichtbar, der offenbar allzu klare Grenzen zwischen gut und böse, richtig und falsch, hintertreibt, aufsprengt und Leserinnen und Leser irritiert zurücklässt.
So kann es nicht verwundern, dass sich postkoloniale Lektüren oder auch christliche Lektüren im Kontext Palästinas äußerst kritisch mit der Erzählung und ihrer Hauptfigur auseinandergesetzt haben (s.u. 3.4.) oder dass andere zeitgenössische Lektüren die Irritationen aufgriffen und folkloristische, humorvolle oder ironische Aspekte der Erzählung aufzuspüren suchten (Spencer, Zakovitch).
2.2. Rahab im Neuen Testament
2.2.1. Rahab im Stammbaum Jesu
Gemeinsam mit drei weiteren alttestamentlichen Frauenfiguren wird Rahab im → Matthäusevangelium
Mit der Figur der Rahab werden auch und gerade die unkonventionellen, schillernden, irritierenden und gebrochenen Aspekte ihrer Geschichte in die Jesusüberlieferung eingebracht und fordern zu entsprechenden Lektüren der Jesusfigur heraus.
2.2.2. Rahab als Glaubenszeugin und Vorbild
Weitere neutestamentliche Texte sehen Rahab in ihrem Glauben sowie ihrem Handeln an den israelitischen Kundschaftern als Vorbild. So listet Hebr 11,31
Der → Jakobusbrief
3. Nachbiblische Rezeption
Sowohl in der jüdischen, als auch in der christlichen Tradition finden sich vielfältige weitergehende Deutungen und Interpretationen der Rahabfigur. Einer der Ausgangspunkte der Weiterentwicklung mag dabei die Diskrepanz zwischen der negativen Bewertung von Prostitution in beiden Traditionen und der fehlenden Wertung des Berufs der Rahab in den biblischen Texten sein. So wurde entweder dieser Beruf uminterpretiert, oder Rahab musste eine entsprechende Bekehrung und Wandlung durchlaufen, oder aber die Geschichte wurde überhaupt allegorisch verstanden.
3.1. Jüdische Rezeption
Flavius Josephus gleicht in seiner Version der Erzählung (Antiquitates 5,1-15; Text gr. und lat. Autoren
In der rabbinischen Tradition gehört Rahab neben → Sara
3.2. Christliche Rezeption
Nach den Untersuchungen von Elßner wird in der frühchristlichen Literatur aus den Landnahmeerzählungen vor allem die Rahaberzählung aufgegriffen (225). Dabei erfährt die Erzählung je nach geschichtlicher Situation verschiedene Interpretationen und Aktualisierungen (Felber).
Seit dem → 1. Clemensbrief
Auch die Interpretation des „Roten“ bzw. des roten Seils (Jos 2,18
Seit Justin (Dial. 111,4) werden vielfach Rahabs Herkunft, ihre Sündhaftigkeit als Hure und in der Konsequenz auch ihre Bekehrung betont und in einen christlichen Deutehorizont gestellt. Rahab verkörpert das sündhafte Heidentum, das sich bekehrt und erlöst wird. Seit Irenäus von Lyon (Adversus haereses IV,20,12; Bibliothek der Kirchenväter
Zum ersten Mal führt Hippolyt von Rom in seinem Kommentar zum Buch Daniel bei der Exegese von Dan 3
Seit den Josuahomilien des → Origenes
Wie auch schon andere Ausleger vor ihm anerkennt Augustinus Rahab als eine der großen Heilsgestalten des Alten Testaments (z.B. Ep. 140,11,28). Mit seinem Nachdenken über die Bedeutung der Befehlsverweigerung gegenüber den staatlichen Autoritäten bringt er eine brisante Aktualisierung der Erzählung in die Auslegung ein (Brev. coll. 3,13,25). Zudem ringt er, ebenso wie Hilarius, Severin von Gabala, Paulin von Nola und Johannes Cassian, mit dem Problem von Rahabs Lüge, die grundsätzlich zu verwerfen sei und nur deshalb nicht geahndet wurde, weil Rahab Barmherzigkeit übte (Contra mend. 15,32).
Der Durchgang sei beschlossen mit dem Resümée aus Felbers Untersuchungen: „Rahab zählt in der Patristik zu den großen Heilsgestalten der Bibel. Sie ist Prophetin und Patriarchin; ihre Gestalt ist von ähnlicher Komplexität wie Josua in seiner Transparenz auf Christus hin. So verwundert es nicht, daß Josua 2 in der patristischen Zeit als Schriftlesung im Gottesdienst diente“ (167).
3.3. Pilgertraditionen
Pilgerinnen und Pilger, die seit der Antike das Heilige Land bereisten, nahmen offenbar die ätiologische Notiz in Jos 6,25
Auch Theodosius sieht um 518 das Haus der Rahab bei der Elisa-Quelle (Kap. 1; Donner, 189). Dieses Haus sei um 570 nach dem Bericht des Pilgers von Piacenza wieder eine Herberge gewesen, und an der Stelle des Obergemachs, aus dem Rahab die Kundschafter hinab gelassen habe, befinde sich nun eine Kapelle, die der Maria geweiht sei (Kap. 13; Donner, 255). Der Abt Adomnanus schließlich blickt auf drei Zerstörungen Jerichos zurück, die das Haus der Rahab bis in seine Zeit (um 680) überstanden habe, allerdings ohne Dach (Kap. XIII; Donner, 359).
3.4. Beispiele zeitgenössischer Lektüren
3.4.1. Postkoloniale Lektüren
In postkolonialer Kritik geriet das Buch Josua als eine Geschichte der Eroberung und Kolonisierung eines Landes in den Focus der Aufmerksamkeit. So repräsentiert Rahab nach Lori L. Rowlett die „gute Eingeborene“, die sich sogleich auf die Seite der Eroberer schlägt und allzu bereitwillig ihrem Volk den Rücken kehrt, weil sie von der Überlegenheit der kolonisierenden Kultur überzeugt ist. Als Frau rettet sie die männlichen Eindringlinge vor ihrem eigenen Volk und ermöglicht ihnen damit, sie selbst und ihr Land zu kolonisieren. Mit den sexuellen Konnotationen und dem Bild der Hure werde gleichzeitig die kanaanäische, d.h. indigene Religion massiv abgewertet und verurteilt. Doch werde die Hure domestiziert und den Kolonisatoren fügsam gemacht. Sie gibt ihre eigenen Wurzeln und ihre Identität auf und passt sich in die Kultur der Kolonisatoren ein. Sie bekennt sich zwar zum neuen Gott JHWH; doch hatte sie zuvor nichts über diesen erfahren, und ihr Bekenntnis ist von Gewaltrhetorik geprägt (Jos 2,9f
Auf ähnliche Weise kritisiert auch Musa W. Dube die kolonisierenden Ideologien, von denen die Rahaberzählung geprägt ist. Rahab erscheint ebenfalls als eine von den Kolonisierern gezähmte Figur, die von der Überlegenheit der Eindringlinge überzeugt ist, deren Herrschaft über das eigene Land und das eigene Volk bejaht und nicht an die Stärke ihres eigenen Volkes glaubt.
In der Interpretation von Judith McKinlay wurde Rahab vom Text zu einer „Anderen“ gemacht, um dem „Wir“ Israels eine Identität zu verschaffen. Kolonisierte Menschen dürften sich nicht zu schnell mit der Figur der Rahab identifizieren, da diese bereits von den Kolonisatoren vereinnahmt worden sei.
In Auseinandersetzung mit solchen Positionen setzt Katherine Doob Sakenfeld die Entstehungszeit des Textes gegen Ende des 7. Jh.s v. Chr. an, als Juda selbst von übermächtiger assyrischer Herrschaft bedrängt war und sich in der Rolle der Kolonisierten befand (vgl. auch Kim). In dieser Zeit, als Juda von der Befreiung der assyrischen Herrschaft träumte oder nach Wegen des Überlebens unter dieser Herrschaft suchte, könnte die Figur der Rahab als Vertreterin der assyrischen Übermacht gelesen werden, die sich mit den Unterlegenen solidarisiert und auch die Verehrung des (unterlegenen) Gottes JHWH propagiert. Die Geschichte wäre eine judäische Widerstandsgeschichte. Obgleich diese Lektüre, wie Sakenfeld selbst zugesteht, nicht ohne Probleme ist, ermöglicht sie modernen Leserinnen und Lesern eine Identifikation mit der Position der Rahab als Vertreterin der überlegenen Macht, die sich aber mit den Unterlegenen verbündet. Sie haben die Bedingungen der Kolonisierten für ein Zusammenleben zu akzeptieren; diese bedeuten – wie für die Rahab des Textes – für die bisherigen Profiteure des Systems nicht die volle Integration.
3.4.2. Christliche Lektüren im Kontext Palästinas
Von besonderer Brisanz ist eine Lektüre der Rahabgeschichte im Kontext Palästinas. Denn Palästinenserinnen und Palästinenser erleben im Konflikt um das Land täglich, wie die Landverheißungstexte des Alten Testaments und besonders das Buch Josua gegen sie eingesetzt werden. Christliche Theologien im Kontext Palästinas haben versucht, sich der Schwierigkeit der Texte zu stellen und produktive Leseweisen zu entwickeln, die es christlichen Palästinenserinnen und Palästinensern ermöglichen, an der Bibel als ihrer Heiligen Schrift und Quelle der Ermutigung festzuhalten. So fordern Mitri und Viola Raheb, einerseits die biblischen Texte im Kontext ihrer Entstehungszeit sowie in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit wahrzunehmen und andererseits ihre Auslegungen kritisch zu analysieren und zu kontextualisieren. Für Viola Raheb ist Rahab eine zutiefst ambivalente Figur, Heldin und zugleich Anti-Heldin, deren Verrat und Betrug vom Text und großen Teilen der Auslegung zwar positiv bewertet werden, jedoch im Kontext ihrer eigenen Gemeinschaft tödliche Folgen nach sich ziehen. Zur Gewalt wird weder in der Rahaberzählung noch im Buch Josua eine echte Alternative angeboten. Es bleibt nur die Kapitulation vor der neuen Macht. Schließlich ist das in den Texten gezeichnete Gottesbild zu kritisieren. Für Leserinnen und Leser gilt es, Position zur Gewalt zu beziehen, die in einer Figur wie Rahab ausgemalt wird. Der Text zeigt, „wie Menschen oft kaum eine Wahl haben, wenn erst einmal die Sprache der Gewalt herrscht … Dennoch sind wir eingeladen, über das Zusammenspiel von Gewalt, Krieg und Sexualität nachzudenken und die Funktion von Frauen in diesem Zusammenspiel kritisch zu beleuchten“ (Viola Raheb 2010, 66). Es gilt, Alternativen zur Gewalt zu suchen.
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Rahab lässt die Kundschafter über die Stadtmauer entkommen (Handschrift der Nationalbibliothek Florenz; 14. Jh.).
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