Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Januar 2011)

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Rechtskorpora: → Bundesbuch; → Heiligkeitsgesetz; → Dekalog; → Deuteronomium; → Tora

Asylrecht; → Bodenrecht; → Erbrecht; → Haftungsrecht; → Leihrecht; → Löser / Loskauf; Königsgesetz → König / Königtum; Kriegsgesetze → Krieg; Reinigungsgesetze → Reinheit / Unreinheit

1. Hebräische Begriffe für „Recht“

1.1. Tora

Wenn man → Tora (תּוֹרָה tôrāh) von ירה jrh III „die Hand / die Finger ausstrecken, um den Weg zu zeigen“ ableitet (vgl. HALAT, 1575f.), ergibt sich als Grundbedeutung „Wegweisung / Weisung“. Möglicherweise war Tora ursprünglich ein terminus technicus für Gebot (Imperativ) und Verbot (so Liedke, 195-200).

Subjekte der Weisung sind in der → Weisheitsliteratur vor allem die → Eltern oder auch Weisheitslehrer (Spr 4,1f.; Spr 5,13; Spr 7,2; Spr 31,26 u.ö.). Die Priester erteilen Tora als konkrete Einzelweisung bzw. als Bescheid (Jer 18,18; Ez 7,26 u.ö.), z.B. bei der Unterscheidung zwischen → heilig und profan, → rein und unrein sowie über die rechte Beschaffenheit der → Opfer. Ob der weisheitliche oder der priesterliche Hintergrund primär sind, ist kaum sicher zu entscheiden. Ferner sind auch die → Propheten Künder der Tora (vgl. Jes 1,10ff.; Ez 22,26 u.ö.). Ihren letzten Grund hat die Tora bei JHWH, die Menschen sind lediglich Mittler dieser Tora Gottes.

Das Verständnis der Tora als am → Sinai offenbartes und letztlich verschriftlichtes Gesetz ist Kennzeichen der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur im weiteren Sinne, also unter Einschluss der deuteronomistischen bzw. deuteronomistisch beeinflussten Überarbeitungen der Geschichts- und Prophetenbücher (→ Deuteronomismus). Das deuteronomische Gesetz ist das „Buch der Tora“ (2Kön 22,8.11), das formal auf → Mose, dem Gehalt nach jedoch auf JHWH zurückgeht (vgl. z.B. Mal 3,22).

Im deuteronomisch-deuteronomistischen Literaturbereich wird die Tora in enger Beziehung zum → Bund gesehen. Das Buch der Tora ist das Buch des Bundes (2Kön 23,2.21; vgl. Ex 24,7). Im Gegenzug wird die Übertretung der Tora als Bruch des Bundes verstanden (vgl. Jer 31,31-34).

Die chronistische Theologie (→ Chronikbücher) übernimmt das deuteronomisch-deuteronomistischen Verständnis von Tora, allerdings wird mit Tora hier auch schon der gesamte Pentateuch bezeichnet (vgl. Neh 13,1-3).

Die Tora-Psalmen, Ps 1; Ps 19 und Ps 119, loben die lebensförderliche Kraft der Tora.

1.2. Gebot (מִצְוָה)

Das Nomen מִצְוָה miṣwāh „Gebot“ kommt vom Verb צוה ṣwh Pi. „befehlen“, dessen regierendes Subjekt ganz überwiegend JHWH / Gott ist. Es begegnet in hervorgehobener Bedeutung bei der Gesetzesproklamation, z.B. in Ex 25,22; Ex 27,20; Dtn 4,5.13f.; Dtn 5,12.15f. (Dekalog); Jos 1,7 u.ö.

Das Nomen begegnet 181-mal im Alten Testament, an etwa 90 Prozent der Belege in Zusammenhang mit JHWH / Gott; bei den übrigen Belegen steht die Weisheit an erster Stelle der Häufigkeit. Das Nomen war möglicherweise ursprünglich terminus technicus für die Rechtsform des Prohibitivs, also des mit „du sollst …“ formulierten Gebotes (Liedke 187-194).

1.3. Satzungen und Rechtssätze (חֻקִּים וּמִשְׁפָּטִים)

Die Nomina חֻקִּים ḥuqîm „Satzungen“ und מִשְׁפָּטִים mišpāṭîm kommen häufig – bes. im Plural – zusammen vor, insbesondere im → Deuteronomium (u.a. an den hervorgehobenen Stellen Dtn 4,1; Dtn 5,1; Dtn 12,1; Dtn 6f. In den der priesterlichen Tradition nahe stehenden Schriften → Ezechiel und → Heiligkeitsgesetz findet sich dagegen die feminine Plural-Variante חֻקּוֹת ḥuqqôt zusammen mit מִשְׁפָּט mišpāṭ (Ez 5,6; Ez 11,20; Ez 18,9.17 u.ö.; Lev 18,4f.26; Lev 19,37; Lev 26,14f. u.ö.; vgl. Grünwaldt, 1999, 211). Es hat den Anschein, als sollte mit den beiden Begriffen die Gesamtheit der Rechtssätze bezeichnet werden (dazu weiter u.).

1. חֹק ḥoq kommt vom Verb חקק ḥqq, das in seiner Grundbedeutung „aushauen / einritzen / einzeichnen“ bedeutet; davon abgeleitet ist dann die Bedeutung „festsetzen / bestimmen“ (vgl. HALAT, 334). Das Nomen, das sowohl maskulin als auch feminin vorkommt (Verhältnis 129:104; tendenziell gilt: mask. im deuteronomisch-chronistischen Bereich; fem. eher bei Ezechiel, im Heiligkeitsgesetz und in der Priesterschrift), bezeichnet entsprechend etwas, das festgesetzt bzw. bestimmt ist – unumstößlich wie das, was etwa in eine Steintafel eingehauen ist.

Im weisheitlichen Bereich ist חֹק ḥoq die Ordnung, die Grenze, etwa in schöpfungstheologischen Kontexten wie Spr 8 oder auch im → Hiobbuch. In ähnlicher Weise ist das feminine Nomen חֻקָּה ḥuqqāh auch in der → Priesterschrift gebraucht, wo etwa die Passaordnung in Ex 12,14.17 als eine „ewige Ordnung“ bezeichnet wird (vgl. den Begriff „Passa-Ordnung“ in Ex 12,43; Num 9,12.14). Überhaupt findet sich der Begriff חֻקָּה ḥuqqāh häufig in den Einleitungs- und Schlusswendungen von Kultbestimmungen.

Eine präzise Bedeutungsbestimmung der männlichen Form ist kaum möglich; der Begriff begegnet ganz überwiegend zusammen mit anderen Rechtstermini.

2. מִשְׁפָּט mišpāṭ leitet sich vom Verb שׁפט špṭ ab, das „Recht sprechen / Recht schaffen“ bedeutet (vgl. HALAT, 1500). Der Begriff ist also in der Rechtssphäre beheimatet und bedeutet „Schiedsspruch / Rechtsentscheid“. Darum erstaunt es, dass das Substantiv außer im → Deuteronomium (37-mal) vor allem in den → Psalmen (65-mal) sowie in den Büchern → Ezechiel (43-mal), → Jesaja (42-mal) und → Jeremia (32-mal) belegt ist.

Nach Liedke bezeichnet מִשְׁפָּט mišpāṭ den kasuistischen, חֻקָּה ḥuqqāh bzw. חֹק ḥoq dagegen den apodiktischen Rechtssatz (zu den Formen der Rechtssätze vgl. unten 2.1. und 2.2.). Von der reinen Wortbedeutung her hat diese These eine gewisse Plausibilität. Dagegen ist unklar, ob sie auch für die späten Schriften und Schichten des Alten Testaments zutrifft.

1.4. Zeugnis / Gesetzesbestimmungen (עֵדוּת)

Das Nomen עֵדוּת ‘edût hängt mit dem Verb עוֹד ‘ôd II „als Zeugen anrufen / bezeugen / Zeuge sein“ zusammen und bedeutet „Zeugnis / Bezeugung“ und abgeleitet dann auch im Plural „Gesetze / Gesetzesbestimmungen.“ Andere leiten es von יעד j‘d „bestimmen“ ab, wodurch das Nomen mit מוֹעֵד mô‘ed verwandt wäre, das in der Wendung אֹהֶל מוֹעֵד ’ohæl mô‘ed „Zelt der Begegnung“ in der → Priesterschrift vorkommt.

עֵדוּת ‘edût ist im Sing. überwiegend in der Priesterschrift belegt, wo es „die schriftl. aufgezeichneten Bestimmungen des Sinaibundes“ bzw. den Inhalt der Lade bezeichnet (HALAT 747; zu den Belegen vgl. Seebaß, 206). Belege für den Plural finden sich zunächst im deuteronomistischen Geschichtswerk und im Jer-Buch, dann aber v.a. in den Psalmen, bes. Ps 119, und im Chronistischen Geschichtswerk. Der Plural wird mit assyrisch adū in Verbindung gebracht, womit schriftliche Abmachungen bzw. Vertragsbestimmungen bezeichnet sind (Borger, 238). „Das Wort wird … nur in Verträgen zwischen einem Höhergestellten (Gott, König, Mitglied der königlichen Familie) und seinen Untergeordneten gebraucht und ist … terminus technicus für den Vasallenvertrag“ (van Leeuwen, 219).

2. Formen der Rechtssätze

Es ist immer noch sinnvoll, zwischen apodiktischen und kasuistischen Rechtssätzen zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist zuerst von → Albrecht Alt (1934) näher ausgearbeitet worden. Zwar ist sie in der Folge kritisiert worden (etwa durch Gerstenberger), an der grundsätzlichen Unterscheidung ist dennoch nicht zu zweifeln.

Auf der einen Seite stehen insbesondere reine Gebote bzw. Verbote, auf der anderen Seite Fallbeschreibungen mit darauf bezogenen Sanktionen.

2.1. Apodiktisches Recht

Albrecht Alt betrachtet als apodiktische Rechtssätze 1. die Talionisformel (Ex 21,23-25 par. Lev 24,18-20; Dtn 19,21), 2. sog. Todesrechtssätze mit der Formulierung מוֹת יוּמָת môt jûmāt „Wer … tut, muss gewiss sterben“ (Ex 21,12.15-17; vgl. Lev 20,9-16*), 3. Fluchsätze mit אָרוּר ’ārûr „Verflucht ist, wer … tut“ (Dtn 27,15-26, der sog. sichemitischen Dodekalog) und 4. Prohibitivsätze „du sollst nicht …“ (Ex 22,17-30*; Ex 23,1-3.6-9; Lev 18,7-17; Dekaloge Ex 20; Dtn 5). Diese Rechtssätze unterscheiden sich zwar deutlich, was sie nach Alt jedoch verbindet, ist neben der Tendenz zur Reihenbildung „der gleiche(n) Ton kategorischer Unbedingtheit“ (Alt 240). Alle genannten Texte seien auch dadurch miteinander verbunden, dass sie nicht kasuistisch sind. Da Albrecht Alt noch keine formalen altorientalischen Parallelen zu den apodiktischen Sätzen beibringen konnte, hielt er sie für genuin israelitisch und jhwhistisch: „Alles in ihnen ist vielmehr volksgebunden israelitisch und gottgebunden jahwistisch, auch wo das in dem knappen Wortlaut keinen unmittelbaren Ausdruck findet“ (Alt 248).

Die von Albrecht Alt als apodiktisch klassifizierten Rechtssätze sind formal uneinheitlich. Das wird auch von der neueren Forschung betont, etwa von Gerstenberger und Herrmann. So lassen sich die Todesrechtssätze in Ex 21,12.15-17 und die Fluchsätze in kasuistische Sätze mit der Formulierung „wenn – dann“ auflösen. Es bleiben vor allem die Prohibitiv- bzw. Verbotsreihen als apodiktische Rechtssätze im eigentlichen Sinne übrig. Hans Jochen Boecker unterscheidet zwischen apodiktischen Rechtssätzen in der Partizipial- und Relativsatzform und apodiktischen Rechtssätzen in der Prohibitivform. Inwiefern man bei den ersten noch von apodiktischen Rechtssätzen reden kann, ist jedoch unklar.

Auch die These der genuin israelitischen Formulierung lässt sich nach Beibringung altorientalischer Parallelen wohl nicht mehr halten (Gerstenberger 130ff; Schottroff 1977, 7, zusammenfassend Belzer 1991, 123). Sowohl im mesopotamischen als auch im ägyptischen Raum sind Parallelen nachgewiesen worden, u.a. in Weisheitstexten.

Damit steht auch die Frage nach der Bestimmung des Sitzes im Leben der apodiktischen Rechtssätze, den Albrecht Alt insgesamt in der Verlesung am Laubhüttenfest fand, erneut zur Disposition, und zwar für alle nicht kasuistischen Rechtsformen getrennt.

2.1.1. Prohibitive („du sollst nicht …“)

Für die Gattung der Prohibitive, also der apodiktischen Sätze im eigentlichen Sinne, führt Erhard Gerstenberger aus: „Mit dem Blick auf den Inhalt der altorientalischen Prohibitive ist auch schon ein Wort über die Herkunft dieser Gattung gesagt. Man wird nicht fehlgehen anzunehmen, dass staatliche und kultische Großorganisationen für die Entstehung dieser Verbote weder in Mesopotamien noch in Ägypten verantwortlich zu machen sind. Es handelt sich auf der ganzen Linie um volkstümliches Ethos, oder, anders gesagt, um eine Lebensordnung, die für alle gültig war und besonders in den kleineren sozialen Gruppen gepflegt wurde. Die natürliche Gliederung der altorientalischen Völker war aber die nach Familien und Sippen. … Wir hätten somit mit der internationalen Verbreitung eines in Prohibitive gefaßten Sippenethos zu rechnen“, welches „die allgemeine Norm für Gut und Böse dargestellt“ habe (zustimmend Schottroff 1977, 23-25). „Der Ursprung solcher normativen Verhaltensregeln, die unmittelbar der Sozialisation der heranwachsenden Jugend und dem Erhalt der Gemeinschaft dienen, ist das Sippenethos“ (Gerstenberger 15).

Entstehungs- und Geltungsbereich der Prohibitive ist die Familie. Angesprochen ist ein nicht näher bestimmtes männliches „Du“, worunter man sich wohl nicht den pater familias, sondern am ehesten die nachwachsenden männlichen Jugendlichen vorzustellen hat. Der pater familias dürfte dagegen als Sprecher der Sätze zu denken sein. Außerdem sind die Prohibitive unberührt von staatlichen Instanzen und Vorstellungen. Dies sagt zwar nichts aus über einen etwaigen Entstehungszeitraum, macht sie jedoch rezipierfähig für die Aufnahme in eine Reihe oder einen Kodex zu jedweder Zeit.

Allerdings stellt die Einordnung der Prohibitive in das Sippenethos auch vor Fragen. Vor allem ist nicht recht deutlich, wie man sich den Prozess der Tradition einer solchen Reihe vorzustellen hat. Hat der pater familias sie aufgeschrieben? Wie wurde sie verbreitet, und wie weit war sie verbreitet? Diese für die Traditionsgeschichte relevanten Fragen, auf die die Sekundärliteratur keine Antworten gibt, wären entschieden leichter zu beantworten, wenn die apodiktischen Rechtssatzreihen, wie Albrecht Alt vermutete, aus dem (offiziellen) Bundeskult stammten – jedoch ist ein solcher offizieller Bundeskult nicht hinreichend belegt und die These auch aus anderen Gründen abgelehnt worden. Da man hinsichtlich der Anfänge der Traditionsgeschichte über Vermutungen nicht hinauskommt, soll hier nicht weitergefragt werden.

2.1.2. Todesrechtssätze und Fluchsätze

Die apodiktischen Rechtssatzreihen im uneigentlichen Sinne (Ex 21,12.15-17, vgl. Lev 20,9-16*, dazu die Reihe fluchwürdiger Verbrechen Dtn 27,15-26) haben gemeinsam, dass in ihnen Todesrecht oder Vergleichbares überliefert wird. Das bedingte Recht, sie unter die apodiktischen Sätze zu fassen, liegt darin begründet, dass sie die Funktion haben, Grenzen festzusetzen, die nicht überschritten werden dürfen, ohne dass die schwerstdenkbare Sanktion eintritt. Aufgrund dieser Funktion ist auch für sie ein Sitz im Leben in einem familiären Umfeld bzw. Sippenumfeld sehr wahrscheinlich. Denkbar ist, dass der „Sitz im Leben … sich gewandelt (hat): von der Stammesgemeinschaft über die Ortsgerichtsbarkeit (die sich im Fall der Todesstrafe kultisch absichern musste) zur Rezitation durch Priester bei einem großen kultischen Gerichtsverfahren“ (Belzer 1991, 123). Auch für die Fluch-Reihe Dtn 27 ist eine vergleichbare Entwicklung von der Verankerung in der Sippe hin zur Ortsgerichtsbarkeit in Verbindung mit kultischen Institutionen denkbar (Schottroff 1969; vgl. Preuss 153).

2.2. Kasuistisches Recht

Von diesen apodiktischen Rechtssätzen sind solche zu unterscheiden, die nicht unbedingte Willensbekundungen sind, sondern eine andere Konstruktion aufweisen. Z.B. im ersten Teil des → Bundesbuches (Ex 21,1-22,16) sowie innerhalb des deuteronomischen Gesetzes (bes. in Dtn 19-25) finden sich so genannte kasuistische Rechtssätze. Sie tragen ihren Namen vom lateinischen Wort casus „Fall“. Sie konstruieren also einen Rechtsfall und benennen für dessen Eintreten eine Rechtsfolgebestimmung. Als einfaches Beispiel möge Ex 21,26 dienen:

„Wenn ein Mann das Auge seines Sklaven oder das Auge seiner Sklavin schlägt und es zerstört, dann soll er sie als Freigelassene für ihr Auge ziehen lassen.“

Der Aufbau des Satzes ist denkbar einfach: Auf ein einleitendes „wenn“ (אִם ’im) folgt die so genannte Protasis, der Vorsatz, in dem der Tatbestand festgestellt wird. Danach, in der deutschen Übersetzung eingeleitet mit „dann“, steht die so genannte Apodosis, der Nachsatz, mit der Rechtsfolgebestimmung. Der erste Teil sagt also, was geschehen ist, der zweite Teil, was daraufhin zu erfolgen hat.

Neben diesem sehr einfachen Fall gibt es aber auch weitaus kompliziertere Fälle. Ein solcher ist Ex 21,28-32:

„(28) Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau stößt, so dass er zu Tode kommt, so soll das Rind unbedingt gesteinigt werden. Sein Fleisch darf nicht gegessen werden. Der Besitzer des Rindes aber bleibt straffrei. (29) Falls es sich um ein Rind handelt, das schon vorher stößig war, und sein Besitzer ist gewarnt worden, er hat es aber trotzdem nicht bewacht, und es tötet einen Mann oder eine Frau, so soll das Rind gesteinigt werden, aber auch sein Besitzer soll getötet werden. (30) Falls ihm eine Sühnezahlung auferlegt wird, so soll er so viel, als ihm auferlegt wird, als Lösegeld für sein Leben zahlen. (31) Stößt es (das Rind) einen Knaben oder ein Mädchen, so soll mit ihm nach diesem Rechtssatz verfahren werden. (32) Falls es einen Sklaven oder eine Sklavin stößt, so soll er seinem Besitzer 30 Schekel Silber zahlen, und das Rind soll gesteinigt werden.“

Es handelt sich hier um einen einzigen Fall. Von der Grundvoraussetzung „Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau stößt“ hängen verschiedene Unterfälle ab. Diese Unterfälle werden jeweils mit „falls“ (hebräisch אִם ’im) eingeleitet. Geht Ex 21,28 davon aus, dass der Besitzer von der Stößigkeit des Rindes nichts wusste, so entscheidet Ex 21,29 darüber, wie zu verfahren ist, wenn ihm dies bekannt war. Ex 21,30 differenziert dann noch einmal (Ex 21,29) auf Seiten des Geschädigten: Vielleicht sind sie mit einer Sühneleistung einverstanden. Danach wird in Ex 21,31 in Erwägung gezogen, wie bei der Tötung eines Jungen oder eines Mädchens zu verfahren ist, und schließlich wird darüber nachgedacht, was geschehen soll, wenn ein → Sklave oder eine Sklavin zu Tode kommt. So kommen nach und nach alle möglichen Facetten des Falles in den Blick.

Ex 21,28-32 mag ein Musterfall gewesen sein, gleichsam ein Schulbeispiel von Rechtsgelehrsamkeit. Hierauf deutet hin, dass der Fall auch in anderen altorientalischen Rechtsbüchern in ähnlicher Weise abgehandelt wird. Man kann hieran aber das Bestreben studieren, einen Fall in allen erdenklichen Eventualitäten durchzuspielen, und man erkennt die Herkunft kasuistischer Rechtssätze aus echten Fällen vor Gericht.

Formal von diesen unpersönlich („ein Mann“) gehaltenen Rechtssätzen zu unterscheiden sind solche, die eine Person oder Gruppe direkt ansprechen („wenn du / ihr …“; vgl. Dtn 20,1.10 u.ö.) und solche, die – wie die oben unter den apodiktischen Sätzen genannten – im Partizipial- oder Infinitivstil gehalten sind (Partizipial: Ex 21,12; Lev 20,9-13 u.ö.; infinitivisch z.B. Ez 18,26f.).

Kasuistische Rechtssätze kommen auch in anderen altorientalischen Rechtsbüchern vor. Sie stellen den Normalfall altorientalischer Rechtssätze dar (vgl. TUAT I / 1; Kodex → Hammurabi; Texte aus Mesopotamien).

Der Sinn und die Funktion solcher Rechtssätze bestehen u.a. darin, dass es Rechtssicherheit gibt. Sowohl die potentiellen „Täter“ oder Verursacher als auch die „Opfer“ oder Geschädigten wissen, was bei Feststellung eines Verursachers oder eines Schuldigen zu geschehen hat.

Traditionsgeschichtlich legt es sich für die kasuistischen Sätze damit nahe, an ein funktionierendes Gemeinwesen als Entstehungsort zu denken, für das es solcher Rechtssicherheit bedurfte; das kann die Sippe oder auch ein Dorf oder ein Bezirk gewesen sein. Dabei dürften vor- bzw. außerisraelitische Rechtstraditionen, wie sie uns als Parallelen zu alttestamentlichen Rechtssätzen in den keilschriftlichen Korpora überliefert sind, aufgenommen worden sein. Die genaue Art der Rezeption ist trotz fortgesetzter Bemühungen der Forschung (Otto) kaum sicher zu erheben.

3. Rechtssammlungen

3.1. Das Bundesbuch (Ex 20,22-23,33)

1. Bezeichnung. Seinen Namen trägt das älteste alttestamentliche Rechtsbuch aufgrund von Ex 24,7. Dort heißt es im Rahmen der Bundesschlussszene zwischen JHWH und Israel: „Und er (Mose) nahm das Buch des Bundes und las es dem Volk vor. Und sie sagten: ‚Alles, was JHWH gesagt hat, wollen wir gehorsam tun’.“ Mit diesem „Buch des Bundes“ ist die Rechtssammlung gemeint sein, die unmittelbar vorher überliefert worden ist, also Bundesbuch.

2. Aufbau und Inhalt. Diese werden in Tabelle 1 deutlich.

Recht 1
Es geht im Bundesbuch um grundsätzliche religiöse Fragen wie das Verbot von Bildern Gottes, das Errichten eines Altars und die großen Feste des Jahres, es geht aber auch um so profane Dinge wie die Frage, wer haftet, wenn ein zur Aufbewahrung überlassenes Gerät abhanden kommt. Daneben und dazwischen stehen Ermahnungen, die sozial Schwachen nicht zu unterdrücken, aber auch Sätze, die festhalten, welche Delikte die Todessanktion nach sich ziehen.

Dieser Themenfülle steht die Beobachtung zur Seite, dass das Bundesbuch einen gut erkennbaren Aufbau hat, was auf bewusste literarische Gestaltung hinweist. Mit Einleitung (Ex 20,22) und Schlussrede (Ex 23,20-33) hat es einen äußeren Rahmen, an den sich ein innerer Rahmen (Ex 20,23-26 / Ex 23,14-19) einfügt, in dem es um den Gottesdienst geht. Das Sklavenrecht (Ex 21,2-11) und die Verse über Brachjahr und Ruhetag (Ex 23,10-12) sind nach dem Schema 6 / 7 aufgebaut. Die Sammlung Ex 21,12-22,19 ist gerahmt von den Todesrechtssätzen (Ex 21,12-17 / Ex 22,17-19); die Sammlung Ex 22,20-23,9 ist gerahmt von dem Verbot, den → Fremdling zu bedrücken (Ex 22,20 / Ex 23,9). Alles dieses weist darauf hin, dass das Bundesbuch keine planlose Sammlung von Gesetzen ist, sondern bewusst zu der vorliegenden Einheit komponiert worden ist. Hierzu passt auch, dass Ex 21,1-22,16 ganz überwiegend aus kasuistischen (fallbezogenen) Gesetzen besteht, während Ex 22,17-23,19 hauptsächlich ethische Weisungen enthält.

3. Datierung. Die Frage nach dem Alter des Bundesbuches lässt sich am besten anhand der vorausgesetzten Lebensverhältnisse beantworten. Vorausgesetzt ist eine sesshafte, bäuerliche Gemeinschaft; man treibt Ackerbau (Ex 22,4-5) und Viehzucht (Ex 21,28-22,3), man baut Häuser (Ex 22,6) und Altäre (Ex 20,24-26), es gibt schon Ansätze einer Geldwirtschaft (Ex 22,24), und die Gesellschaft ist so weit differenziert, dass es Sklaven (Ex 21,2-11.26-27 u.ö.) sowie anderweitig Verarmte gibt (Ex 22,24-26). Staatliche Verhältnisse, also das Königtum oder Beamte, werden nicht erwähnt – lediglich ein „Oberer“ wird in Ex 22,27 genannt. Alles dieses passt sehr gut in die Zeit kurz vor der Staatenbildung, also etwa um 1100-1000 v. Chr. (dies ist die am häufigsten vertretene Datierung). Freilich kann es auch sein, dass der Staatsapparat für die Menschen in den Dörfern, für die das Bundesbuch galt, keine Bedeutung hatte. Dann wäre vielleicht an die Zeit zwischen 1000-800 v. Chr. zu denken, wozu auch die soziale Differenzierung und die bewusste Abgrenzung von fremdreligiösen Einflüssen besser passen könnte. Wahrscheinlich muss man damit rechnen, dass nicht alle Rechtssätze aus derselben Zeit stammen.

4. Trägerkreis. Als verantwortlichen Trägerkreis wird man am ehesten an die Schicht der freien, Grund besitzenden Bürger denken, denn diese waren in Israel für die Pflege und die Durchsetzung des Rechts verantwortlich.

3.2. Das deuteronomische Gesetz (Dtn 12-26)

1. Bezeichnung. Seinen Namen verdankt das → Deuteronomium, in dem das deuteronomische Gesetz enthalten ist, einem Übersetzungsfehler. Im Königsgesetz (Dtn 17,14-20) findet sich die Vorschrift, der König solle eine Abschrift des Gesetzes in ein Buch schreiben lassen (Ex 17,18). In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wurde nun aus der „Abschrift des Gesetzes“ ein „zweites Gesetz“, griechisch deuteronomion. Im Unterschied zum Bundesbuch und zum Heiligkeitsgesetz ist das deuteronomische Gesetz keine Gottesrede, sondern eine Rede des Mose an das Volk Israel.

Recht 2

2. Aufbau und Inhalt. Diese werden in Tabelle 2 deutlich.

Schon die Darstellung des Inhaltes des deuteronomischen Gesetzes zeigt, wieviel umfangreicher der Stoff und wieviel schwieriger zu gliedern der Inhalt ist.

Einigermaßen sicher lassen sich drei verschiedene Teile des deuteronomischen Gesetzes erkennen:

1. Dtn 12,1-16,17 (oder Dtn 17,1) betreffen die Beziehung zwischen dem Gott JHWH und dem Volk Israel; die Gesetze untermauern den Anspruch JHWHs auf Israel, schreiben sein Privileg fest und werden deshalb in der Forschung „Privilegrecht“ genannt (dazu s. unten).

2. Dtn 16,18-18,22 (oder Dtn 17,2-18,22) enthalten Bestimmungen über die Ämter, die es in Israel gibt, sie werden deshalb „Ämtergesetze“ genannt.

3. Dtn 19-25 enthalten die Rechtssätze im eigentlichen Sinn. Sie lassen kein bestimmtes Gliederungsprinzip erkennen; auch der Versuch, hier eine Anordnung der Gesetze nach dem 5.-10. Gebot des Dekaloges zu finden (Braulik), geht nicht ohne Schwierigkeiten auf.

Demgegenüber wirkt Dtn 26 wie ein formelhafter Anhang: in Dtn 26,2-9 findet sich das so genannte → „kleine geschichtliche Credo“, das eine knappe Zusammenfassung wichtiger heilsgeschichtlicher Ereignisse bringt, und in Dtn 26,16-19 findet sich die doppelte sogenannte „Bundesformel“, die die Beziehung zwischen JHWH und Israel umschreibt.

3. Datierung. Für die Ermittlung des Alters der deuteronomischen Gesetze kann man zwei Wege gehen: a) über das Verhältnis zum Bundesbuch; b) durch einen Vergleich mit der Reform des Königs → Josia im Jahr 622 v. Chr. (2Kön 22-23).

a) Vergleicht man Gesetze, die sowohl im Bundesbuch als auch im deuteronomischen Gesetz vorkommen, stellt das Vorkommen im deuteronomischen Gesetz eine spätere Stufe dar.

Beispiele: 1) Während im Bundesbuch noch jede Gottesdienststätte, die JHWH sich erwählt, als erlaubte Stätte gilt (Ex 20,24-26), ist im deuteronomischen Gesetz nur noch von einer erlaubten Stätte die Rede (Dtn 12). 2) Regelt das Sklavenrecht des Bundesbuches (Ex 21,2-11) vor allem die Bedingungen für die Freilassung und die freiwillige Selbstversklavung, so werden im deuteronomischen Sklavengesetz (Dtn 15,12-18) Regelungen für Gaben getroffen, die ihm bei der Freilassung mitgegeben werden sollen, und die Gesetze werden auch begründet. 3) Der Festkalender im deuteronomischen Recht gerät weit ausführlicher (Dtn 16,1-17) als im Bundesbuch (Ex 23,14-19). Die Beispiele ließen sich vermehren. Insgesamt ist zu beobachten, dass gegenüber dem Bundesbuch vermehrt predigtartige Passagen sowie Begründungen begegnen.

b) Zwischen dem deuteronomischen Gesetz und der Reform des Königs Josia bestehen viele Parallelen, denn was das Gesetz fordert, führt Josia in 2Kön 23 aus: Einheit des Kultortes (Dtn 12 / 2Kön 23,4f.8.12f.15f.19); Abschaffung heidnischer Kultbräuche (Dtn 16,21f. / 2Kön 23,4.6f.14); Verbot fremder Priester (Dtn 17,2f. / 2Kön 23,20); Abschaffung des Gestirnskultes (Dtn 17,3 / 2Kön 23,4f.); Verbot der Sitte, ein Kind durchs Feuer gehen zu lassen (Dtn 18,10 / 2Kön 23,10); Verbot von Geisterbeschwörung usw. (Dtn 18,11 / 2Kön 23,24); Verbot von Tempeldirnen (Dtn 23,18 / 2Kön 23,7); Passa (Dtn 16,1-8 / 2Kön 23,21-23); Bund (Dtn 26,16-19 / 2Kön 23,3). Und wenn wirklich Dtn 6,4-6, das „Höre, Israel“, der Beginn des deuteronomischen Gesetzes gewesen sein soll, wäre in 2Kön 23,3b auch hierzu noch eine Parallele zu nennen.

Diese Parallelen sind so auffällig, dass sie kaum auf einem Zufall beruhen können. So gehen die meisten Bibelwissenschaftler davon aus, dass das deuteronomische Gesetz und die Reform des Königs Josia in einem engen Verhältnis miteinander stehen.

Aber wie genau stellt sich das Verhältnis dar? → De Wette hatte angenommen, dass das deuteronomische Gesetz kaum älter war als die josianische Reform. Und es ist tatsächlich auffällig, dass viele theologische Ideen erstmalig im deuteronomischen Gesetz und in der josianischen Reform begegnen, so vor allem die Idee der Einheit des Kultortes. Wäre das Gesetz viel älter als die Reform, so könnte man annehmen, dass die in ihm enthaltenen Vorstellungen auch anderswo im Alten Testament schon Spuren hinterlassen haben. Da dies aber nicht oder nur sehr begrenzt der Fall ist, hat die These de Wettes einige Wahrscheinlichkeit für sich. Wann genau das deuteronomische Gesetz geschrieben wurde und unter welchen Umständen es in den Tempel gelangt ist, wissen wir nicht; oder mit de Wette: „Woher das Buch gekommen sei, darüber zieht die Geschichte ihren Vorhang, und es würde vermessen sein, ihn wegziehen zu wollen.“

4. Trägerkreis. Im Hinblick auf den Trägerkreis ist immer wieder vermutet worden, dass das deuteronomische Gesetz im Wesentlichen auf Laien zurückzuführen ist. Diese These hat viel für sich, denn im Mittelpunkt des Gesetzes steht der freie, Grund besitzende Bauer. Die die Gesellschaft und auch das deuteronomische Gesetz tragende Bewegung der Grundbesitzer hatte keinerlei Interesse daran, dass es zu große soziale Unterschiede gab, dass freie Bauern verarmten und ihr Land verloren und in Massen in die Schuldknechtschaft gerieten. Die Motivation für ein solches in hohem Maße sozial eingestelltes Denken holten sie sich aus dem JHWH-Glauben. Weil JHWH ein Gott der Befreiung ist, sollen die Israeliten Freie sein, und nicht Sklaven (Dtn 15,15); das deuteronomische Gesetz kann sogar zugespitzt formulieren, dass es Segen nur dann gibt, wenn der freie Bauer den Armen im Lande – → Fremdlingen, → Witwen und Waisen – genug gibt (Dtn 14,28f.). In seiner sozialen Ausrichtung und in seinem Streben nach einer gerechten Gesellschaft gleichberechtigter Menschen nimmt das deuteronomische Gesetz ein zentrales Anliegen der alttestamentlichen Prophetie auf.

3.3. Das Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26)

1. Bezeichnung. Seinen Namen verdankt das Heiligkeitsgesetz der das Buch durchziehenden Forderung nach Heiligkeit: „Ihr sollt heilig sein, denn ich, JHWH, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2; Lev 20,26 u.ö.).

Recht 3

2. Aufbau und Inhalt. Diese werden in Tabelle 3 deutlich.

Das Heiligkeitsgesetz ist klar strukturiert. Den Rahmen bilden Bestimmungen über den Ort des Gottesdienstes (Lev 17) und Ermahnungen zum Halten der Gebote (Lev 26), womit eine ähnliche Rahmung entsteht wie im Bundesbuch und im deuteronomische Gesetz. Die Mitte findet sich in den Priestergesetzen (Lev 21-22). Lev 18-20 bilden einen Block, in dem Bestimmungen über Familie und Sexualität (Lev 18; Lev 20) das vermischte Gebote enthaltende Kapitel Lev 19 rahmen. In Lev 23-25 rahmen Gebote über heilige Zeiten (Lev 23; Lev 25) das Kapitel Lev 24, in dem es vor allem um Gotteslästerung und die Talio-Formel (Auge um Auge…) geht.

3. Datierung. Ein Vergleich mit dem deuteronomischen Gesetz zeigt, dass das Heiligkeitsgesetz dieses voraussetzt, also jünger als dieses ist.

Besonders gut ist dies an dem Kapitel über die Jahresfeste zu erkennen. Während im deuteronomischen Gesetz nur von drei Festen die Rede ist, sind es im Heiligkeitsgesetz derer sieben. Die größere Ausführlichkeit spricht für ein jüngeres Datum. Auch die Bestimmungen über das → Brachjahr und die Freilassung der israelitischen Sklaven sind in Lev 25 weitaus präziser gehalten als in der Parallele Dtn 15. Anschaulich kann man die Fortentwicklung auch an den Bestimmungen über das Verfahren mit dem Blut des Opfertieres nachvollziehen. Hieß es in Dtn 12,16: „Nur das Blut sollst du nicht genießen“, und folgte dazu in Lev 12,23 die Begründung: „Denn das Blut ist das Leben“, so wird dieses beides im Heiligkeitsgesetz zusammengefasst und dazu durch den Hinweis auf die sühnende Funktion des Opferblutes untermauert: „Die Lebenskraft des Fleisches sitzt nämlich im Blut. Dieses Blut habe ich euch gegeben, damit ihr auf dem Altar für euer Leben die Sühne vollzieht; denn das Blut ist es, das für das Leben sühnt“ (Lev 17,11).

Im Hinblick auf die Frage nach dem Alter des Heiligkeitsgesetzes bedeutet dies nicht nur, dass es jünger ist als das deuteronomische Gesetz. Gerade das intensive Fragen nach der Gestalt des Gottesdienstes (Jahresfeste Lev 23), den Amtsträgern im Gottesdienst (Priestergesetze Lev 21-22) und, wie eben gesehen, seine Theologie, macht es wahrscheinlich, dass das Heiligkeitsgesetz seinen historischen Ort in der Zeit der Einweihung des zweiten Tempels, also um 515 v. Chr. hatte und den neu beginnenden Gottesdienst in diesem Tempel in Grundzügen regeln wollte. Der Bau eines zweiten Tempels war nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels durch die Babylonier im Jahre 587 v. Chr. (→ Zerstörung Jerusalems) notwendig geworden und wurde bald nach der Rückkehr vieler Familien aus dem → Exil in Angriff genommen (das biblische Buch → Haggai gibt hiervon ein lebendiges Zeugnis). Doch will das Heiligkeitsgesetz nicht allein den Gottesdienst im zweiten Tempel in seinen Grundzügen regeln, auch das gesellschaftliche und vor allem familiäre Leben ist für den Gesetzgeber von besonderem Interesse. So wird das jüngste alttestamentliche Gesetzbuch zu einer Programmschrift für das gesamte Leben im Israel nach der Katastrophe des babylonischen Exils.

4. Trägerkreis. Der Verfasserkreis des Heiligkeitsgesetzes dürfte nicht, wie in der Forschung meistens angenommen, in erster Linie aus Priestern bestanden haben. Dafür sind die spezifisch gottesdienstlichen Vorschriften nicht präzise genug (vgl. etwa die Opfervorschriften Lev 21-22 mit Lev 1-15!). Auch ist es bemerkenswert, dass die Gesetze, die sich um das Priestertum drehen, nicht ihre Privilegien herausgekehrt haben, sondern ihre Pflichten, ihre Aufgaben. Das spricht ebenfalls eher dafür, dass hier Laien am Werk waren.

3.4. Weiteres

3.4.1. Kultbestimmungen

Die Kultgesetzgebung macht im Alten Testament den größten Teil der Gesetzgebung überhaupt aus, ohne dass dies in der Forschung zum alttestamentlichen Recht angemessen gewürdigt würde. Kultische Bestimmungen sind, abgesehen von den entsprechenden Gesetzen in den drei besprochenen Codices, u.a. an den in Tabelle 4 aufgelisteten Stellen zu finden:

Recht 4

Die unvollständige Übersicht zeigt bereits an, wie vielfältig die Bereiche sind, in denen Regelungsbedarf bestand. Im Alten Testament erscheint offensichtlich die rituelle bzw. gottesdienstliche Beziehung zu Gott in besonderem Maße regelungsbedürftig. Man wollte unbedingt vermeiden, in diesem sensiblen, heiligen Bereich „Fehler“ zu machen, da eine Störung in der Beziehung zu Gott als hochgradig gefährlich galt.

Das Alter der kultischen Vorschriften ist nur annähernd zu bestimmen. Zwar können wir die einzelnen Texte der → Priesterschrift (im weitesten Sinne PS) zuschreiben, damit ist aber nur die schriftliche Fixierung in nachexilischer Zeit festgestellt. Die Tradition kann sehr viel älter sein, zumal in diesem Literaturbereich mit einer festen mündlichen oder auch schon schriftlichen Tradition gerechnet werden muss.

Als Tradentenkreis ist an Priester zu denken, weil diese Berufsgruppe am ehesten mit dieser Materie befasst gewesen ist.

3.4.2. Privilegrecht

Der Begriff „Privilegrecht JHWHs“ „ist fruchtbar durch F[riedrich] Horst in die Erforschung der israelitischen Rechtsgeschichte eingeführt worden“ (Halbe 227 Anm. 17). Friedrich Horst betitelte mit diesem Begriff seine Untersuchung zu Dtn 12,1-18,22. Eine griffige Definition bietet Jörn Halbe: „Gemeint ist Anspruch, der dadurch entsteht, dass ein Mächtiger einen Schwachen in ein Verhältnis zu sich setzt, das als dies spezifische Verhältnis beider davon lebt, dass entsprechend spezifische Pflichten erfüllt und zu ihrer Erfüllung die dinglichen oder rechtlichen Voraussetzungen vom Höhergestellten dem Niederen eingeräumt werden.“ (Halbe 227). Auf das Verhältnis JHWH-Israel bezogen: Privilegrecht schreibt JHWHs Privileg an Israel fest und verpflichtet Israel auf das Halten seiner Gebote.

Neben Dtn 12-18 wird insbesondere Ex 34,10-26 als Privilegrecht JHWHs bezeichnet (vgl. hierzu die Monographie Halbes, zuletzt Blum; Hossfeld; Crüsemann 138-170). Letzterer Text ist nach der evtl. sekundären Einleitung Ex 34,10 zweigeteilt: Ex 34,11-16 kreisen um das Verbot des engen Kontaktes zu den Vorbewohnern des Landes, und in 34,18-26 finden sich gottesdienstliche Gebote (Festkalender, Abgaben). Beide Teile werden getrennt durch das Verbot 34,17, sich metallene Götter zu machen.

Es gibt gute Gründe, das Privilegrecht in Ex 34 zumindest in einem Grundbestand als vordeuteronomisch, wahrscheinlich sogar als älter als das Bundesbuch anzusehen. Es ist eines der ältesten Zeugnisse des Gebotes der Alleinverehrung JHWHs im Alten Testament.

3.5. Gesetzestafeln

Im Pentateuch ist im Zusammenhang mit den oben genannten Rechtssammlungen und dem → Dekalog mehrfach von „Tafeln“ bzw. „Gesetzestafeln“ als dem Medium ihrer Verschriftlichung die Rede. Zwar decken sich die Vorstellungen wegen der unterschiedlichen Zusammenhänge nicht, sollen aber offenkundig teilweise zur Deckung gebracht werden. So gibt es steinerne Tafeln nach Ex 24,12 für das verschriftete „Bundesbuch“ in Ex 20 bzw. Ex 21-23, während sich auf den Tafeln von Ex 34,28-29 offenkundig das Privilegrecht von Ex 34 befindet. Ab Dtn 4,13 ist zweifellos von jenen zwei Steintafeln die Rede, auf denen der Dekalog verschriftet ist, und die nach Dtn 10,5 in die → Lade bzw. Bundeslade (Dtn 10,8) gelegt werden (vgl. auch 1Kön 8,9 und dazu schon Ex 25,16.21). Für das biblische Zwei-Tafel-Motiv, das sich speziell mit dem Dekalog verbindet, könnte die aus dem assyrischen Vertragswesen bekannte Praxis maßgeblich gewesen sein, dass Vertragsinhalte auf Ton- oder Steintafeln ausgefertigt werden und je eine Ausfertigung an jede der beiden Parteien geht. Denkbar ist als Hintergrund weiter der noch bei den Babyloniern übliche Vorgang, auch private Rechtsakte doppelt zu beurkunden und eine Urkunde in öffentlicher Hand zu verwahren. Vielleicht ist also ursprünglich beim Zweitafelmotiv sogar daran gedacht, dass eine Tafel an den göttlichen, eine an den menschlichen Bündnispartner geht. Die weitere innerbiblische Rezeption dieses Motivs führt später aber mehr und mehr dazu, dass insbesondere der Dekalog mit seinen vorgeblich zehn Ge- und Verboten nach unterschiedlichen Gesichtspunkten auf die beiden Tafeln verteilt erscheint, mit dem Elterngebot als letztem Gebot der ersten Tafel oder als erstem der zweiten.

4. Der leitende Gedanke des alttestamentlichen Rechts (talio)

Das Alte Testament hat keine Vokabel für Strafe. Deswegen ist besser von einer Sanktion oder noch neutraler von einer Tatfolgebestimmung zu sprechen. Mit Sanktion bezeichne ich eine Tatfolge, die etwas mit der Tat selbst zu tun hat, während eine Strafe von der Tat abstrahieren kann.

Das alttestamentliche Recht hat unterhalb der Lebensgrenze keinen Impetus zur Bestrafung eines Täters. Solange nicht Leib und Leben eines Einzelnen, einer Sippe oder des Volkes angetastet sind, hat ein Täter seinen Schaden einfach, doppelt oder mehrfach auszugleichen.

Die alttestamentlichen Gesetzgeber scheinen vor allem von zwei Grundideen geleitet worden zu sein: a) Es muss unbedingt gewährleistet sein, dass das durch eine Straftat geschädigte Opfer zu seinem Recht kommt; b) die Sanktion muss in irgendeiner Weise mit der Straftat zu tun haben.

a) Die Unterscheidung zwischen Strafrecht und Zivilrecht, die für unser Recht konstitutiv ist, kennt das Alte Testament unterhalb der Lebensgrenze nicht. Vereinfacht kann man sagen: Das Alte Testament kennt nur Zivilrecht, in dem das Prinzip des Schadensersatzes greift, und Todesrecht.

b) Die Idee des Schadensersatzes bringt es mit sich, dass die Sanktion für ein Delikt in der Regel etwas mit diesem Delikt zu tun hat. Wer etwas stiehlt oder wer für den Verlust von fremdem Eigentum verantwortlich ist, der muss es erstatten.

„Wenn ein Mann einem anderen Geld oder Geräte zur Aufbewahrung übergibt und es aus dem Haus des anderen Mannes gestohlen wird: falls dann der Dieb ertappt wird, so soll er den doppelten Ersatz leisten“ (Ex 22,6).

Wer einen anderen verletzt, so dass er arbeitsunfähig wird, muss sein Darniederliegen erstatten und die Arztkosten übernehmen:

„Wenn Männer miteinander streiten und einer den anderen mit einem Stein oder einer Hacke schlägt, so dass er zwar nicht stirbt, aber bettlägerig wird: sobald er dann wieder aufsteht und draußen an seinem Stock umhergehen kann, ist der Schläger frei (von weiterer Haftung). Nur sein Darniederliegen muss er erstatten und für die Heilung aufkommen“ (Ex 21,18-19).

Diese Regelungen und die Grundidee, die dahintersteht, werden noch eindrücklicher, wenn man wahrnimmt, dass die im Alten Orient – jedenfalls theoretisch – verbreiteten Verstümmelungsstrafen im Alten Testament praktisch unbekannt sind. Ausnahme:

„Wenn zwei Männer miteinander raufen und die Frau des einen läuft herzu, um ihren Mann aus der Hand dessen zu befreien, der ihn schlägt, und sie streckt ihre Hand aus und ergreift diesen bei der Scham, so sollst du ihr die Hand abhauen; du sollst kein Erbarmen kennen“ (Dtn 25,11-12).

Die Schärfe dieser Sanktion erklärt sich aus dem Delikt: Das Zeugungsglied des Mannes repräsentiert das Leben und die Generationenkette innerhalb seiner Familie. Wer sich daran vergeht, vergeht sich am Leben der Familie, und bei Lebensdelikten ist das Alte Testament kompromisslos.

Den Grund für die Notwendigkeit des Ausgleiches erkennt man an einer sprachlichen Beobachtung. Den zu leistenden Ersatz bezeichnet das Alte Testament mit der Verbform יְשַׁלֵּם jəšallem „er soll ersetzen“. Diese Verbform kommt von dem Verb, mit dem auch das bekannte hebräische Wort שָׁלוֹם šālôm (Schalom) „Heil / Friede“ verwandt ist (→ Friede). Der Ersatz als Mittel des Rechtsausgleichs ist darauf angelegt, einen heilvollen Zusammenhang, der durch ein Delikt gestört wurde, wieder herzustellen. Es geht darum, das Zusammenleben von Tätern und Geschädigten in einer Gemeinschaft wieder zu ermöglichen, mit der Wiedergutmachung der Tat auch die Gemeinschaft wieder gut zu machen (vgl. hierzu Graupner). Das Ziel des alttestamentlichen Rechtes war also die Versöhnung zwischen Täter und Opfer in einem Maße, dass beide wieder zusammen in einem Dorf leben konnten, ohne dass ihre Beziehung ständig ge- bzw. zerstört wäre. Der durch das alttestamentliche Recht erstrebte Zustand ist der Zustand des Rechtsfriedens.

Hier gewinnt die Frage nach der Grundidee des alttestamentlichen Rechts ihre theologische Dimension. Zum einen ist nämlich Versöhnung nicht nur eine zwischenmenschliche, sondern auch eine theologische Kategorie; zum anderen ist die Ordnung, die einem Gemeinwesen innewohnt, ja die Ordnung, die der Welt innewohnt, von Gott gemacht und garantiert. Gott ist der Schöpfer und Erhalter der Welt, er hat sie „ordentlich“ geschaffen und will, dass sie „in Ordnung“ bleibt.

Von Versöhnung, Sühne spricht ein Vers im Bundesbuch. Es geht um den im ganzen Alten Orient verbreiteten Fall des „stößigen Rindes“, eines Rindes, das mit seinen Hörnern ständig die Integrität von Menschen, Tieren und Sachen gefährdet. Falls dieses Rind erstmals einen Menschen tötet, soll das Rind getötet werden, sein Besitzer bleibt straflos. Falls dies aber wiederholt vorkommt, der Besitzer also von der Gefährlichkeit des Tieres weiß, hat auch er den Tod verdient (Ex 21,28-29).

„Wird ihm aber ein Sühnegeld auferlegt, so soll er Lösegeld zahlen, wieviel ihm auferlegt wird“ (Ex 21,30). Zwar hat der Betreffende sein Leben verwirkt, weil durch seine Fahrlässigkeit ein anderer Mensch zu Schaden gekommen ist, doch kann er durch eine von der geschädigten Familie bestimmte Geldzahlung sein Leben freikaufen und durch dieses „Sühnegeld“ Versöhnung mit der Familie erreichen. Die Blutschuld, die durch die fahrlässige Tötung eines Menschen entstanden ist, wird durch die Geldzahlung „bedeckt“ (die Wortgruppe כפר kpr „versöhnen / Versöhnung / Sühne“ hat die Grundbedeutung „bedecken“). Das Sprachbild will sagen: Das unschuldige Blut, das durch die Fahrlässigkeit des Viehbesitzers vergossen wurde, kann jetzt durch die „Bedeckung“ nicht mehr seine unheimliche Macht entfalten, nicht mehr die Ordnung des Gemeinwesens stören. Die „bedeckende“ Sühnegeldzahlung hat die Ordnung, den Frieden (Schalom) wiederhergestellt.

Der Wille zum Ausgleich und zur Versöhnung wird beispielhaft anschaulich in der Talionisformel. Diese ist leider durch Missverständnisse belastet.

Die älteste Belegstelle der Talionisformel findet sich im Bundesbuch. Dort steht sie im Zusammenhang mit dem Fall einer Rauferei zwischen zwei Männern, in deren Verlauf es zur Körperverletzung einer schwangeren Frau kommt.

Ex 21,22 Wenn Männer sich raufen und stoßen eine schwangere Frau, so dass ihr Kind / ihre Kinder herauskommt /-kommen, aber kein weiteres Unglück passiert, wird er mit einer Geldbuße belegt, wie sie der Ehemann der Frau auflegt, und er soll sie durch Schiedsrichter geben. (23) Falls aber weiterer Schaden entsteht, dann sollst du geben: Leben um Leben, (24) Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, (25) Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.

Die Formel begegnet im Zusammenhang eines konkreten Rechtsfalls: des Falls von der Körperverletzung einer schwangeren Frau. Regelt Ex 21,22 den Fall, dass sie sich in das Handgemenge der Männer einmischt und durch einen Stoß – wohl in den Bauch – ihr Kind oder ihre Kinder verliert, durch die Geldzahlung im Beisein von Zeugen, so bezieht sich die Talionisformel auf den Fall, dass weiterer Schaden entsteht. Der Gesetzgeber denkt wohl daran, dass sie durch einen besonders schweren Stoß – etwa an den Kopf – ihr Leben verliert oder dass sie eine der anderen genannten Verletzungen erleidet. Es handelt sich also um einen Fall von fahrlässiger oder unfallartiger Tötung oder Körperverletzung.

1. Würde hier eine unfallartige Tötung mit der Todessanktion bedroht, so ergäbe sich ein Widerspruch zu einer anderen Rechtsbestimmung aus dem Bundesbuch. In Ex 21,13 heißt es nämlich:

„Hat er (der jemanden getötet hat) ihm (dem Getöteten) aber nicht nachgestellt, sondern hat Gott es so durch ihn gefügt, so will ich dir eine Stätte bestimmen, wohin er fliehen kann.“

Im Falle eines unfallartigen Todes besteht für den, der einen anderen getötet hat, hiernach die Möglichkeit, eine Asylstätte, ein Heiligtum aufzusuchen, an dem er vor der Nachstellung möglicher Bluträcher geschützt ist (→ Asyl). Ex 21,13 regelt also genau solche Fälle, in denen es durch einen tragischen Zufall zum Tode eines Menschen kommt. Dabei kommt der, der getötet hat, nicht völlig an einer Sanktion vorbei: Er hat ja am Asylort zu bleiben. Aber er entgeht immerhin der Todessanktion. Wenn im Fall der getöteten Frau der unabsichtlich handelnde Verantwortliche die Todessanktion erleiden müsste, würde also ein unerklärbarer Widerspruch vorliegen.

2. Das gleiche gilt für den Fall von Körperverletzungen. Auch gibt es im Bundesbuch eine Rechtsvorschrift: Wer einen anderen verletzt, muss dessen Arbeitskraft für die Zeit der Genesung ersetzen und die Heilungskosten zahlen (Ex 21,18-19). Wer die in der Talionisformel genannten Körperverletzungen im Sinne einer „spiegelnden Strafe“ verstehen will, muss den Widerspruch zu Ex 21,18-19 erklären.

3. Ein weiterer Grund gegen das Verständnis der Talionisformel als spiegelnder Strafe ist das zu Beginn der Formel stehende Verb „geben“.

a) Zum einen ist, wenn im Bundesbuch das Verb „geben“ verwendet wird, vor allem an die Zahlung von Geld gedacht. In Ex 21,19 (Körperverletzung) ist der Arbeitsausfall des Verletzten aktiv zu ersetzen, und in Ex 21,30.32 werden mit dem Verb Ausgleichszahlungen für durch das stößige Rind Getötete bezeichnet. Dafür, ebenfalls in der Talionisformel an Geldzahlung zu denken, spricht auch das Ergebnis der Untersuchung ähnlicher sprachlicher Wendungen durch Hans-Winfried Jüngling in altorientalischen Rechtssammlungen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Wendung „etwas für etwas geben“ „in Zusammenhängen gebraucht (wird), die Ersatzleistungen vorsehen“ (Jüngling 19).

b) Zum anderen muss man fragen, was es bedeutet, dass zu Beginn der Formel steht: „Du sollst geben …“. Angesprochen ist ja nicht die Rechtsgemeinde, die vom Verursacher etwas einzufordern hätte (etwa sein Leben), sondern der Verursacher selbst. Dass er sich das Auge oder den Zahn selbst ausschlagen, Hand oder Fuß brechen, sich ein Brandmal oder eine Strieme zufügen soll, ist unsinnig.

Und diese Unsinnigkeit ist ein weiteres wichtiges Argument, die Talionissanktion im Sinne der Forderung einer Ausgleichszahlung zu verstehen.

Diese Auslegung geht nicht nur damit konform, dass auch im Fall des stößigen Rindes ein Todesfall durch Geldzahlung „bedeckt“ und der Rechtsfriede wiederhergestellt wird, sondern sie kann sich auch auf die alte jüdische Interpretation der Talionisformel berufen:

„Wer seinen Nächsten verletzt, schuldet ihm fünf Dinge: Schadensersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Verdienstausfall und Entehrungsgeld. Wie erfolgt der Schadensersatz? Wenn einer jemandem dessen Auge geblendet, dessen Hand abgeschnitten, dessen Fuß gebrochen hat, betrachtet man ihn wie einen Sklaven, der auf dem Markt verkauft wird, und schätzt, wieviel er zuvor wert war und wieviel er jetzt wert ist“ (Babylonischer Talmud, Traktat Baba Qamma 83b; Text Talmud).

Kann Schuld unterhalb der Lebensgrenze durch Wiedergutmachung gesühnt werden, so lässt sich Blutschuld nur durch das Blut des Verursachers sühnen. Dabei reicht der alttestamentliche Begriff von Lebensdelikten wesentlich weiter, als es sich unsere moderne Gesellschaft vorzustellen vermag.

Das zu schützende Leben umfasst auch die Familie, als deren Lebensquelle die Frau gilt. Das Alte Testament gibt dem seinen schönsten Ausdruck dadurch, dass in der Geschichte von der Erschaffung der Menschen (Gen 2-3) die Frau den Namen Eva „Leben“ verliehen bekommt. Hier finden wir den Grund dafür, dass das Alte Testament die Verbindung von Mann und Frau, deren Rechtsform die → Ehe ist, als Keimzelle des Lebens besonders hoch achtete und besonders wirksam zu schützen suchte. Darum wird auch Ehebruch mit der Todessanktion bedroht.

Doch nicht allein die Ehe, sondern die ganze Familie als Lebensader der Gemeinschaft ist geschützt. Deswegen sind auch sexuelle sowie weitere die Familie belastende oder bedrohende Delikte (z.B. Verfluchung oder Tätlichkeiten gegen die Eltern: Ex 21,15.17) mit dem Tode bedroht.

Eine dritte Gruppe von Delikten, die mit dem Tode bedroht sind, kann man grob als religiöse Delikte bezeichnen. Nicht alle Delikte gegen religiöse Vorschriften werden derart sanktioniert – Lev 4 stellt z.B. heraus, dass unwissentlich begangene Delikte durch Sühnopfer wieder gutgemacht werden können. Aber Verstöße gegen das Erste Gebot (Fremdgötterverbot) und zentrale Institutionen des Gottesdienstes stehen unter der Todesdrohung.

5. Zur Theologie des alttestamentlichen Rechts

Die alttestamentlichen Rechtssätze und Rechtskorpora sind nach dem Zeugnis des Alten Testaments Gottes Wort. Zwar ist das Deuteronomium als Moserede stilisiert, es ist aber evident, dass hinter Mose die Autorität Gottes steht.

Das alttestamentliche Recht hat das Ziel, zum einen die Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk zu schützen und zu stärken, zum anderen die Gemeinschaft und das Leben in ihr zu schützen.

5.1. Gott und Volk

Die Beziehung zwischen Gott und Volk wird in den privilegrechtlichen und kultischen Geboten mit regelnden Bestimmungen versehen. Sie können als Exemplifizierung der doppelten Bundesformel (JHWH Gott Israels, Israel Volk JHWHs) verstanden werden (→ Bund).

Für das grundsätzliche Verständnis der Rechtsvorschriften des Alten Testamentes ist ihr Ort im Alten Testament zu berücksichtigen: Dekalog, Bundesbuch, Privilegrecht und Heiligkeitsgesetz sind Bestandteil der Sinaierzählung und damit Teil der Verpflichtung des Volkes, das eben zuvor von Gott aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit worden ist. Der auf JHWHs gnädigem Befreiungshandeln gründende Bund zwischen Gott und Volk ist also der Hintergrund, auf dem die Gesetzesbestimmungen erlassen worden sind.

Für das Deuteronomium gilt analog die Landgabe als Folie des Gesetzes.

Die privilegrechtlichen Bestimmungen (Ex 22,17ff.; Ex 34,11-26; Dtn 12-18) sind ihrem Wesen nach Ausführungsbestimmungen des Gebotes der Alleinverehrung JHWHs. Sie beschreiben oder umschreiben, welche Folgen es haben muss, wenn Israel JHWH allein verehren soll.

Im engeren Sinne betrachtet, wird die Anbetung anderer, fremder Götter bei Androhung der Todessanktion (vgl. Ex 22,19) scharf untersagt. Da JHWH Spender und Bewahrer des Lebens ist, würde eine Einflussnahme anderer Götter auf Israel eine lebensbedrohliche Situation heraufbeschwören, was nicht zugelassen werden darf. Positiv gewendet, werden die gottesdienstlichen Zeiten (vgl. in den älteren Korpora Ex 34,18ff.; Ex 23,10-17) bestimmt, an denen das Erscheinen vor JHWH verpflichtend vorgeschrieben ist. JHWH ist ein Gott, der die Gemeinschaft zu seinen Menschen, seinem Volk sucht. Diese Beziehung ist sowohl gottesdienstlich als auch im alltäglichen Leben zu bewahren. Für die gottesdienstliche Gestaltung stehen die Gebote über den Kultort (etwa Ex 20,24-26; Dtn 12) und die kultischen Gebote im engeren Sinne (s.o.).

5.2. Die menschliche Gemeinschaft

Das alttestamentliche Recht hat im Blick auf die menschliche Gemeinschaft die Funktion, das Zusammenleben in Familie, Dorf, Stadt und Volk lebensförderlich zu gestalten.

Zu diesem Zweck ist vor allem der Schutz des Lebens besonders hoch angesetzt und umfasst auch die Bedrohung des familiären Bereiches (Ehebruch), weil dieser Bereich für das Leben eine besondere Schutzfunktion hat. Aber auch religiöse Vergehen sind aus diesem Grund mit der Todessanktion bedroht.

Darüber hinaus ist der Rechts-Grundsatz der Talio für das Zusammenleben bestimmend: Wenn Schaden entsteht bzw. Delikte verübt werden, so sind diese auszugleichen; der Rechtsfrieden ist so weit wie möglich wiederherzustellen, damit über den Rechtsfrieden der zwischenmenschliche Zusammenhalt weiterhin gewährleistet ist, denn dieser Zusammenhalt in Stadt und Dorf ist für die Gemeinschaft tragendes Gerüst.

Schließlich ist der tiefe soziale Charakter des alttestamentlichen Rechtes hervorzuheben. Es ist ein Recht mit einem besonderen Impetus für die Benachteiligten, und zwar aus gutem Grund: „Ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen“ (Ex 22,20)! Das heißt, aus der Erfahrung erlittenen Unrechtes bzw. erlittener Bedrückung und Benachteiligung setzt das Recht den Schutz für rechtlose Gruppen wie → Fremdlinge (Ex 22,20; Lev 19,33), → Witwen und Waisen (Ex 22,21), → Arme (Ex 22,24-26; Dtn 24,12f.) u.a.m. sehr hoch an. Die inzwischen sozial gut gestellten Israeliten werden angehalten, Gnade walten zu lassen, denn – so JHWH – „ich bin gnädig“.

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