Rest
(erstellt: Februar 2020)
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Die Vorstellung von einem „Rest“, insbesondere einem „Rest Israels“, findet sich – in unterschiedlicher Ausprägung – in weiten Bereichen der Hebräischen Bibel. Für deren Verfasser und Tradenten trat sie vor allem dann in den Vordergrund, wenn sie selbst sich der Gefahr einer völligen Vernichtung ausgesetzt sahen. So dürften die mutmaßlich ältesten Belege zumindest den Untergang → Samarias
Rolf Rendtorff hat treffend formuliert:
„Die גולה der Esrazeit ist Israel wie es die aus der Hungersnot gerettete Schar der Söhne Jakobs mit ihren Familien und die nach der Wüstenzeit übrig gebliebene neue Generation war und ebenso das nach der „Reichstrennung“ übrig gebliebene Juda und schließlich auch die גולה in Babylonien, wie sie der Prophet in Jesaja 40-55 und Jeremia angeredet und getröstet haben.“ (Rendtorff)
Dem könnte man hinzufügen: Der Rest ist nicht weniger als die Existenz des Volkes Israel in der Geschichte. Die Qumrangemeinschaft etwa, die sich in der letzten Epoche vor dem nahen Gericht lebend wähnt, ist ebenfalls Israel, ähnlich wie die Grundfrage nach der Definition Israels oder der Zugehörigkeit zum „Rest“ die Dynamik mutatis mutandis auch des Neuen Testaments prägt, des Rests, der übrig ist und der doch zugleich den Neubeginn des Weges auf das Heil hin in sich trägt.
Dass sich nach Kriegsende auch Überlebende der Schoah, die sich in den „Displaced Persons (DP) Camps“ zusammenfanden und Europa verlassen wollten, zumeist, um nach Palästina / Israel auszuwandern, als šə’erît happəlêṭāh bezeichneten, sei hier lediglich angemerkt.
1. Zur Terminologie
Die → Hebräische
Eine andere Möglichkeit, „Übriggebliebene(s)“ zu bezeichnen, liegt mit der Wurzel יתר jtr I Nif. „übrigbleiben, übriggelassen werden“ und Ableitungen davon vor, etwa יֶתֶר jætær „Rest“. Nahe liegen außerdem פלט plṭ Qal „entkommen“, Hif. „in Sicherheit bringen“, מלט mlṭ Qal „retten“, Hitp. „sich davonmachen“ sowie שָׂרִיד śārîd „Entronnener“ (von שׂרד śrd Qal „davonlaufen“), in gewisser Hinsicht auch אַחֲרִית ’aḥǎrît „Ende / Ausgang / Zukunft“ (vgl. zur Terminologie insbesondere Hausmann). Von diesem Sprachgebrauch zu unterscheiden ist die Rede (oder der Vorstellungskomplex [Rendtorff]) von einem „Rest des Volkes Israel“, der zugleich den Grundstock für das Fortbestehen und eine Keimzelle des Neuen darstellt, in gewisser Weise also der theologische Gebrauch des Motivs. Ein spezifisches hebräisches Vokabular dafür liegt allerdings nicht vor (vgl. vor allem Rendtorff), so dass von Fall zu Fall entschieden werden muss.
Darüber hinaus ist freilich auch ohne Nennung der spezifischen Termini die Vorstellung von einem „Rest“ des Volkes sowie die einer Unterscheidung zwischen einer Mehrheit und einer davon getrennten Minderheit innerhalb Israels biblisch allgegenwärtig. In diesem letzteren, umfassenden Sinn kann die Restvorstellung geradezu als Grundmotiv oder doch jedenfalls zentraler Aspekt der Theologiegeschichte der Hebräischen Bibel (und darüber hinaus) betrachtet werden.
In der → Tora
2. Tora und Vordere Propheten (Genesis – 2Könige)
Das Thema taucht, wenn man so will, erwartungsgemäß, erstmals im Zusammenhang der → Sintflutgeschichte
Die folgende vorgenommene Eingrenzung in der Erwählung → Abrahams
Anders steht es mit der lehrhaften Erzählung über → Sodom und Gomorra
Der einzige Beleg für das Substantiv „Rest“ im Buch Genesis findet sich dann, kaum von ungefähr, in Gen 45,7
Eine weitere Sicht zeigt sich in den Fluchandrohungen des → Heiligkeitsgesetzes
In den vielfältig mit Lev 26 verbundenen Segens- und Fluchtexten des → Deuteronomiums
Vorherrschend in diesem Buch und in den davon beeinflussten Texten ist allerdings die Theorie einer vollständigen Vernichtung der Vorbewohner des Landes – in gewisser Weise die entgegengesetzte Vorstellung: Wer restlos vernichtet ist, kann nie wieder zur Gefahr für Israel werden (Dtn 2,34
3. (Hintere) Propheten (Jesaja – Maleachi)
Ist das Thema in Tora und Geschichtsbüchern vergleichsweise spärlich gesät, tritt die Vorstellung umso prominenter in den prophetischen Büchern hervor (שְׁאֵרִית šə’erît etwa ist hier mit 54 von 66 Belegen vertreten, davon allein 27 in Jeremia).
3.1. Jesajabuch
3.1.1. Jesaja 1-39 („Protojesaja“)
Das (Proto-)Jesajabuch ist wie sonst höchstens noch das Jeremiabuch von der Thematik eines Rests geprägt. Das zeigt sich nicht ohne Grund bereits in Kap. 1: Die Leseperspektive für das Jesajabuch ist damit vorgegeben.
„Und übriggeblieben ist (יתר jtr Nif.) die Tochter Zion wie eine Hütte im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt. Wenn JHWH der Heerscharen nicht ein paar Entronnene (שָׂרִיד כִּמְעָט śārîd kim‘āṭ) für uns übriggelassen hätte (wieder יתר jtr, diesmal Hif.), so wären wir wie Sodom geworden, wir wären Gomorra (vgl. Gen 19) gleich.“ (Jes 1,8f
Zugleich liegt im jetzigen Text damit ein Rahmen um die Kapitel Jes 1-11.12 (Jes 11,1ff
Vielleicht am bekanntesten ist der Symbolname des Jesaja-Sohnes in Jes 7,3
Der „heilige Same“ (Jes 6,13
Dem positiven Rest Israels steht dann in den Völkersprüchen Jes 13-23 und Jes 24 stets negativ der „Rest der Völker“ gegenüber, bis in Jes 38,5ff. wieder die heilvolle Restitution der Gemeinde im Mittelpunkt steht.
3.1.2. Jesaja 40-66 („Deutero-“ und „Tritojesaja“)
In der zweiten Buchhälfte ist die Thematik stets präsent, wird aber nur selten mit den üblichen Begriffen ausgedrückt. Wenn man so will, spricht der ganze Zweite Jesaja von der Wiederkehr JHWHs und damit auch der Exulanten (→ Exil
„Und die Erlösten JHWHs werden zurückkehren und nach Zion kommen unter Jauchzen, und ewige Freude wird über ihrem Haupt sein. Frohlocken und Freude werden bei ihnen sein, aber Kummer und Seufzen werden fliehen. Ich, ich bin, der euch tröstet!“ (Jes 51,11-12a
Um die Frage der Zugehörigkeit zum rechten Gottesvolk kreisen dann auch Jes 56-66: „while the remnant may be inclusive it is not universal. The remnant is a remnant still.“ (Webb zu Jes 66,24
3.2. Jeremiabuch
Das Jeremiabuch verwendet am häufigsten den Restbegriff. Neben den negativen Aussagen über ein vollständiges Gericht (Jer 8,3
„Denn so spricht JHWH: Singt Jakob ‚‘ und jauchzt über das Haupt der Nationen! ‚Lasst‘ hören, preist und sprecht: ‚Gerettet‘ hat JHWH, ‚sein‘ Volk, den Rest Israels! Siehe, ich bringe sie zurück aus dem Land des Nordens, und aus den entlegensten Winkeln der Erde sammle ich sie, Blinde und Lahme sind unter ihnen, Schwangere und Gebärende allzumal! Als große Versammlung werden sie hierher zurückkehren.“ (Jer 31,7f
Die Gleichsetzung von „dein Volk“ und „der Rest Israels“ ist sprechend. Auch wenn hier ein Späterer die Feder führt (cf. BHS), so ist doch spätestens für ihn „Israel“ dadurch Israel, dass es sich in der Nachfolge der Exilierten versteht. Ganz Israel war im Exil, ganz Israel ist „der Rest“, oder umgekehrt: Nur der Rest ist Israel, denn er war im Exil. In diesem Licht will die Verheißung des Neuen Bundes von Jer 31,31-34
3.3. Ezechielbuch
Im Ezechielbuch finden sich zunächst negative Qualifizierungen für den „Rest“, wie auch insgesamt am ehesten „neutral“ über ihn gesprochen wird. Für das kommende Strafgericht angesichts der Gräuel im Tempel etwa wird mit drastischen Worten angekündigt:
„Darum: Väter werden in deiner Mitte Söhne essen, und Söhne werden ihre Väter essen. Und ich werde Gerichte vollziehen, und deinen Rest in alle Winde zerstreuen.“ (Ez 5,10
Dem Gericht wird niemand entgehen (vgl. auch Ez 6,12
3.4. Zwölfprophetenbuch
Der Vorstellungskomplex eines Rests des Volkes wird innerhalb der Zwölf vor allem in den Büchern Amos, Micha und Zefanja thematisiert, einen weiteren Schwerpunkt bilden die Propheten des Zweiten Tempels Haggai und Sacharja.
3.4.1. Amos, Micha und Zefanja
Die Belege im → Amosbuch
Im → Michabuch
Im → Zefanjabuch
3.4.2. Haggai und Sacharja
Wie in den chronistischen Erwähnungen des „Rests“ (s.u.) wird im Buch → Haggai
Gemäß dem zweiten Orakel (Hag 2,2-9
Auf die Verhältnisse im Haggaibuch blickt → Sacharja
„Und nun: nicht bin ich für den Rest dieses Volkes (שְׁאֵרִית הָעָם הַזֶּה šə‘erît hā‘ām hazzæh!) wie in den früheren Tagen, Spruch JHWHs der Heerscharen. Denn die Saat des Friedens ist: Der Weinstock gibt seine Frucht, und die Erde gibt ihren Ertrag, und der Himmel gibt seinen Tau, und all dies lasse ich den Rest dieses Volkes (s.o.) erben!“ (Sach 8,8f
4. Schriften
4.1. Psalmen, Hiob, Sprüche, Rut, Hoheslied, Kohelet, Klagelieder, Esther, Daniel
Wie bereits erwähnt, wird eine theologisch qualifizierte Restvorstellung im Kanonteil „Schriften“ weit seltener thematisiert. In den Psalmen, bei Hiob, im Sprüchebuch, in Rut, dem Hohenlied, Kohelet, den Klageliedern und im Buch Esther spielt sie keine Rolle.
Eine gewisse Ausnahme bietet allerdings das → Danielbuch
4.2. Esra / Nehemia und Chronikbücher
Darüber hinaus greifen einzig die Bücher, die das sog. → Chronistische Geschichtswerk
„Seit den Tagen unserer Väter bis zum heutigen Tag sind wir in großer Schuld, und wegen unserer Übertretungen sind wir, unsere Könige, unsere Priester, in die Hand der Könige der Länder ausgeliefert worden durch das Schwert, die Gefangenschaft und die Plünderung und durch öffentliche Schande, wie es heute ist. Und nun: für einen kleinen Moment ist uns Erbarmen widerfahren von JHWH, unserem Gott, indem er uns Entkommene (פְּלֵיטָה pəlêṭāh) übrig gelassen hat, indem er uns einen → Pflock
Diese „Belebung“ ermöglicht den Wiederaufbau des Tempels und Jerusalems. Ebenso ist auch die übrige Geschichte ein Handeln Gottes, der die Israeliten Gnade bei den persischen Königen hat finden lassen. Dem Bewusstsein, dass das Vorhandensein eines „Rests Israels“ sich stets der göttlichen Gnade verdankt, dem der Einzelne untersteht, prägt sowohl die Frömmigkeit und Demut als auch das Selbstbewusstsein derer, die sich dazu zählen dürfen. Wie Neh 1 zeigt, können auch die im Land gebliebenen Israeliten die Bezeichnung „Rest“ tragen (vgl. Neh 1,2f
5. Ausblick: Qumran und Neues Testament
5.1. Qumranschriften
Die Überzeugung, dass der „Rest“ zugleich ein Keim des Neuen ist, wird geradezu plakativ sichtbar im Rückblick auf die Geschichte, den die Qumrangemeinschaft einer ihrer zentralen Schriften, der Damaskusschrift, einmal an die Spitze gestellt hat:
„Denn wegen ihrer Untreue, dass sie ihn verlassen hatten, verbarg er sein Angesicht vor Israel und vor seinem Heiligtum und überließ sie dem Schwert. Weil er aber des Bundes mit den Früheren gedachte, ließ er einen Rest übrig von Israel und gab sie nicht der Vernichtung preis. Zur Zeit des Zorns, dreihundertneunzig Jahre, nachdem er sie in die Hand Nebukadnezars, des Königs von Babel, gegeben hatte, suchte er sie heim. Und er ließ eine Wurzel der Pflanzung (vgl. 1QS VIII,5; 1QS XI,8; 1QHa XIV,18; 1QHa XVI,7.11: die Gemeinschaft als „ewige Pflanzung“) aus Israel und aus Aaron sprießen, damit sie sein Land in Besitz nehme und satt würde durch die Güte seines Bodens. Und sie sahen ihre Schuld ein und erkannten, dass sie schuldige Männer waren. Wie Blinde waren sie, und wie welche, die den Weg ertasten – zwanzig Jahre lang. Da bedachte Gott ihre Werke, dass sie ihn mit vollkommenem Herzen gesucht hatten, und er ließ ihnen einen (o. den) Lehrer der Gerechtigkeit aufstehen, sie auf den Weg seines Herzens zu führen.“ (CD I,3-11; die davor nur in Qumran belegte Mahnrede dürfte sekundär sein.)
Die „Geschichte Israels“ ist demnach deckungsgleich mit der „Geschichte der Gemeinschaft“, so wie denn auch der „Neue Bund“ als Bezeichnung dieser Gemeinschaft eben nichts anderes sein möchte als der erste (vgl. insgesamt CD und Jer 31,31ff
Die Zugehörigkeit zum „Neuen Bund“ wird schließlich von der konkreten Zugehörigkeit in eine eschatologische Erwählung transformiert, wie sie in den Hodajot 1QHa oder der Kriegsregel 1QM zu sehen ist (dort die meisten Belege für das Substantiv; vgl. Hartog). Dem übrigen Teil der Menschheit steht die sichere Vernichtung bevor:
„… Und in allen festgesetzten Zeiten deiner Herrlichkeit war die Erinnerung deiner […] in unserer Mitte, als Hilfe des Rests (שְׁאֵרִית šə’erît) und des Auflebens (s.o.) für deinen Bund, und um deine zuverlässigen Taten und die Gerichte deiner wunderbaren Krafterweise zu erzählen. Du, [Gott, erkauf]test (o., mit anderer Lesung, ersch]ufst) uns dir zum ewigen Volk.“ (1QM XIII,8)
„… [Denn] ich [we]iß, dass du in Kürze ein wenig Aufleben in deinem Volk aufrichten wirst und einen Rest (שְׁאֵרִית šə’erît) in deinem Erbe. Und du wirst sie läutern, um sie von der Schuld zu reinigen…“ (1QHa XIV,10f.)
„… Dann aber wird sich das Schwert Gottes zur festgesetzten Zeit des Gerichts beeilen, und alle Söhne seiner Wahrheit werden erwachen, um [die Söhne des] Frevels auszurot[ten], und alle Söhne der Schuld werden nicht mehr sein. …“ (1QHa XIV,32f.)
5.2. Neues Testament
Noch deutlicher als in der Hebräischen Bibel und in Qumran ist im Neuen Testament zu beobachten, dass es sich beim „Rest“ um einen Vorstellungskomplex handelt, dem kein eindeutiger Begriff der Ursprache entspricht. Die Evangelien verwenden keinen spezifischen Ausdruck (wie etwa Bildungen mit λεῖμμα leimma) für „Rest“, gleichwohl weisen Forderungen wie die des Täufers (Mk 1) oder die Vorstellung von wenigen Erwählten (Mt 7,14
Die Argumentation des Paulus in Röm 9-11 legt ebenfalls Wert darauf, dass nur ein Rest gerettet werde (Röm 9,24-29
Literaturverzeichnis
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