Reue Gottes (AT)
(erstellt: April 2012)
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→ Gnade
1. Die Rede von der Reue Gottes – eine theologische Problemanzeige
Gottes Reue ist ein herausragendes Theologumenon alttestamentlicher Rede von Gott. Das Neue Testament nimmt das Motiv explizit nur in Röm 11,29
Theologiegeschichtlich war Gottes Reue oft Gegenstand kritisch-apologetischer Verdrängung, Reduktion und Harmonisierung mit dem dogmatischen und philosophischen Begriff eines unbewegten, leidenschaftslosen und stets souveränen Gottes. Man bemühte in Antike (vgl. hier etwa → Philo von Alexandrien
Von diesen systematisch-theologischen Vorbehalten hat sich die Forschung gelöst. Sie fragt nach „der Brisanz und dem theologischen Gewicht“ (Jeremias, 5) des Motivs für die alttestamentliche Rede von Gott. Traditionsgeschichtliche Ansätze betonen die positive Dimension des Motivs und beschreiben seine diachrone Entwicklung (Jeremias): Am Anfang dieser Entwicklung habe die prophetische Vorstellung gestanden, dass Gott seine Einstellung ändere, sich selbst beherrsche und bereits geplantes Unheil nicht durchführe (Am 7,3
Biblisch-theologische Ansätze finden in systematisierender Zusammenschau in Gottes Reue einen gattungs- und traditionsübergreifenden metaphorischen Schlüssel zum alttestamentlichen Gottesbegriff (Fretheim, 47). Er erlaube, in der Vielfalt der Metaphern die Offenheit der Gott-Welt-Beziehung mit Gottes unveränderlichen Heilswillen und seiner beständigen Liebe zu verbinden.
Ansätze der Auslegung, die sich an der Endgestalt der Bibel orientieren, rücken statt systematisierenden und theologiegeschichtlichen Folgerungen die literarische Funktion des Motivs im Geflecht der Handlungs- und Beziehungsdynamik zwischen Gott und Mensch ins Zentrum. Sie wollen theologisch ernst nehmen, dass Gott (als literarische Figur der Texte) aufs Engste mit dem Tun und Lassen der Menschen verwoben ist (Andersen / Freedman; Döhling). In dieser Perspektive erscheinen die Texte weniger abstrakt um Gottes Freiheit besorgt. Eher geht es ihnen darum, dass Menschen in der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit diese Freiheit als Chance zu eigener Umkehr ernst nehmen. Zeichnet die Mehrzahl der Texte Gottes Reue als reziproke, d.h. wechselseitige Reaktion auf menschliche Aktivität, so bietet Hos 11,8f
Die Verbindung der Reue Gottes mit der sog. Gnadenformel wird als Integration der Reue in die Eigenschaften der Gnade (Jeremias, Fretheim) verstanden oder als Versuch, die Vorstellung vom strafenden und vom gnädigen Gott auf der Ebene des Erzählens dynamisch aufeinander zu beziehen (Döhling).
Die Hebräische Bibel bezeugt mit Gottes Reue, besonders durch das häufig parallel gebrauchte Verb שׁוּב šûv „umkehren“, Jhwhs tiefe Beweglichkeit und Bewegbarkeit in den Beziehungen zu Israel, der belebten Schöpfung, einzelnen Völkern und Menschen. In ihnen bewegt sich Gott meist auf menschliche Impulse hin und zeigt sich, selbst wo die Reueabsicht von ihm ausgeht, bis zur Bedürftigkeit empfänglich für die Aktivität des Gegenübers. Dort aber, wo sich in Gottes Reue die Bezogenheit auf diese Partner ohne ihr Zutun transformiert, sind diese in Gott präsent (Hos 11,8a
2. Belege und Kontexte
Die Hebräische Bibel spricht über 30-mal von Gottes Reue. Sie tut dies meist verbal, teils mit Nominalformen der Wurzel נחם nḥm in Nif. und Hitp., die nur selten mit menschlichem Subjekt verwendet wird (Ex 13,17
Belege. 1) Erzählende Texte: Gen 6,6f
2) Kompositorisch zentrale Texte: Gen 6-9
3. Sprachlicher Befund
3.1. Die Bedeutungsbreite der Wurzel נחם
Wo Übersetzungen „sich gereuen“ o.ä. bieten, steht im Hebräischen die Wurzel נחם nḥm (Nif. und Hitp.). Kontext- und Syntaxanalysen ergeben, was diese ausdrückt: Das Subjekt ändert seine frühere Haltung, Einstellung oder Absicht gegenüber einem Gegenstand, einem Ereignis oder einer Personengruppe.
Viele Nif. und Hitp.-Belege sind gut mit „sich etwas Leid sein lassen“, „Reue üben“ wiederzugeben, andere tragen Konnotationen von „sich getrösten / sich erbarmen“, aber auch „sich rächen“. Im Piel ist stets die Bedeutung „trösten“ und „Mitleid haben“ dominant. נחם nḥm hat also ein breites Bedeutungsspektrum. Das Problem belegen schon die unterschiedlichen Wiedergaben der antiken Übersetzungen. Die unterschiedlichen Bedeutungen lassen sich kaum auf eine einzige Grundbedeutung zurückführen, zumal die Veränderungen gegenüber dieser Grundbedeutung nicht der Systematik der hebräischen Stammesmodifikationen entsprechen.
Die Forschung sucht, die Bedeutungsbreite mit der Annahme einer sich steigernden emotionalen Erleichterung zu klären, die im Arabischen naḥama „heftig ausatmen“ anklingt (Nöldeke, Snaith, Jeremias). Alternativ wird ein erweitertes Verständnis von Trost im Hebräischen angenommen, das Mitleiden und Erleichterung in sich vereinigt (Van Dyke Parunak). Doch fügt sich dies nur schwer zum konkreten Gebrauch in den Texten. Auch ist fraglich, ob wortgeschichtliche Verwandtschaften auch gleiche Wortbedeutungen implizieren. Der biblische Gebrauch wird als Anzeige eines Stimmungsumschwungs (Willi-Plein) oder als Nebeneinander der Hauptbedeutungen „Trost“ und „Reue“ (Stoebe) beschrieben. Syntax-Analysen zeigen, dass sich die niḥam-Handlung bei Nif. und Hitp. am oder im Subjekt selbst vollzieht. Taten, Absichten oder Personen, auf die hin dies geschieht, stehen mit Präposition (אֶל ’ael oder עַל ‘al „gegenüber“), seltener als kî-Satz („gereute, dass …“). Sprachliche Unterschiede bei Menschen oder Gott als Subjekt fehlen (Döhling, 30; anders Jeremias, 18). Auch gelingt es kaum syntaktische Differenzen zwischen präpositionaler und kî-Ergänzung inhaltlich auszuwerten (Rücknahme einer Heilssetzung beim kî-Satz, Abkehr von einem unausgeführten Unheilsplan bei der Präposition עַל ‘al; vgl. Jer 42,8
3.2. Differenzen gegenüber dem deutschen Sprachgebrauch
Im Deutschen meint „Reue / bereuen“ einzig die innere, rückblickende Einsicht in eigene Schuld. Der alttestamentlich-biblische Sprachgebrauch ist weiter: נחם nḥm (Nif. und Hitp.) kann retrospektiv und prospektiv sein, also auch nicht ausgeführten Vorhaben gelten. Die Wurzel נחם nḥm impliziert als Änderung der inneren Einstellung auch ein verändertes Handeln. נחם nḥm kann auch die Haltungsänderung im Blick auf Geschick und Ergehen Dritter bezeichnen. Trotz dieser breiteren Bedeutung bleibt die Wiedergabe mit Reue sinnvoll, da der inhaltliche Kern des Verbs, d.h. die grundlegende Änderung einer vorgängigen Haltung auch im Deutschen am ehesten mit diesem Begriff zur Sprache gebracht wird.
4. Zentrale Reue-Texte der Hebräischen Bibel
4.1. Schlüsselstellen des Pentateuchs
4.1.1. Die Sintfluterzählung (Gen 6,6f; 8,21)
Die erste Erwähnung der Reue Gottes, im Prolog der (nichtpriesterlichen) Fluterzählung, gilt der Erschaffung der Menschheit (→ Fluterzählung
Gen 6,5
4.1.2. Die Erzählung vom Goldenen Kalb (Ex 32,12.14)
Gottes Reue in Ex 32,14
Gottes Vernichtungsbeschluss gilt hier wie in Gen 6,6-8
Der erzählende Rahmen um Moses Gebet in Ex 32,11
4.2. Gottes Reue und Nicht-Reue gegenüber Saul (1Sam 15)
In 1Sam 15,11
1Sam 15,29
Wie 1Sam 15,11
Die Auslegungsgeschichte sah dies lange Zeit anders: Sie las beide Verse, 1Sam 15,29
Ein von dogmatischen Vorurteilen freier Blick zeigt, dass die o.g. Verneinungen eine konkrete Differenz zwischen Gott und Mensch meinen.
Auch die übrigen Verneinungen von Gottes Reue (Jer 4,28
4.3. Im hebräischen Jeremiabuch
Das hebräische Jeremiabuch bietet die meisten Belege der Reue Gottes. Sie erscheint meist als Gottes, von → Jeremia
Für die Komposition der Reuepassagen im Buchganzen zentral sind Jer 8,6
4.4. Im Zwölfprophetenbuch
Gottes Reue durchzieht als Leitmotiv mehrere Schriften und zentrale Kapitel des → Zwölfprophetenbuches
4.4.1. In Hosea 11
Die Rede von Gottes Reue in Hos 11,8f
Die Erklärung des Umschwungs mit Gottes Heiligkeit in Hos 11,9
4.4.2. Im Joelbuch (Jo 2,13)
Jo 2
Die in Jo 2,14
4.4.3. In den Visionen des Amosbuches (Am 7,1-6)
In Am 7,1-6
4.4.4. Im Jonabuch
Das spätperserzeitliche oder frühhellenistische → Jonabuch
Wie in Jo 2
Die Kombination von Gnadenformel und Reue könnte eine traditionsgeschichtliche Spätform darstellen. In ihr wäre die Reue in die positive Reihe der sog. Eigenschaften Gottes integriert und diese würde auch den Völkern, sogar Israels Erzfeinden gelten (Jeremias; Fretheim). Doch fällt auf, dass Jona die Langform der Formel von Ex 34,6
Handeln und Antwort Gottes in Jon 4,6-11
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. u.a. 1993-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl., München / Zürich 2004
2. Weitere Literatur
- Andersen, F.I. / Freedman, D.N., 1989, When God Repents. Excursus, in: dies., Amos. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 24A), New York, 638-679
- Ebach, J., 2001, Noah. Die Geschichte eines Überlebenden (Biblische Gestalten 3), Leipzig
- Döhling, J.-D., 2009, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des Motivs der Reue Gottes in der Hebräischen Bibel (HBS 61), Freiburg (i. Br.)
- Fretheim, T.E., 1988, The Repentance of God. A Key to Old Testament Godtalk, HBT 10, 47-70.
- Fretheim, T.E., 1989, The Suffering of God. An Old Testament Perspective, Philadelphia
- Franz, M., 2003, Der gnädige und barmherzige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6-7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt (BWANT 160), Stuttgart
- Hofius, O., 1973, Die Unveränderlichkeit des göttlichen Heilsratschlusses. Erwägungen zur Herkunft eines neutestamentlichen Theologoumenons, ZNW 64, 135-145
- Jeremias, J., 2002, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung (BThSt 31), Neukirchen-Vlyun
- Müller, A.K., 2008, Gottes Zukunft. Die Möglichkeit der Rettung am Tag JHWHs nach dem Joelbuch (WMANT 119), Neukirchen-Vluyn
- Ratschow, C.-H., 1986, Von den Wandlungen Gottes, in: ders., Von den Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie (hg. v. Ch. Keller-Wentorf / M. Repp), Berlin, 117-139
- Scoralick, R., 2002, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6f und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg (i. Br.)
- Van Dyke Parunak, H., 1975, A Semantic Survea of NHM, Bib. 56, 512-532
- Willi-Plein, I., 1983, Hiobs Widerruf? – Eine Untersuchung der Wurzel נחם und ihrer erzähltechnischen Funktion im Hiobbuch, in: A. Rofé / Y. Zakovitch (Hgg.), Isac Leo Seeligmann Volume. Essays on the Bible in the Ancient World. III Non-Hebrew Section, Jerusalem, 273-289
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