Deutsche Bibelgesellschaft

Richter, kleine

(erstellt: Februar 2005)

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1. Die kleinen Richter im Alten Testament

Als kleine Richter bezeichnet man die Richter, von denen im → Richterbuch nur eine listenartige Überlieferung vorliegt (Ri 10,1-5; Ri 12,7-15). Sie heißen: Tola, Jaïr, Ibzan, Elon, Abdon und Jeftah. Jeftah ist zugleich einer der charismatischen Helden der Frühzeit, von denen im Richterbuch längere Erzählungen handeln und die man große Richter nennt. Wahrscheinlich haben die Deuteronomisten große und kleine Richter miteinander identifiziert und die Überlieferungen verbunden, weil Jeftah sowohl unter den kleinen als auch unter den großen Richtern erscheint. Zur ursprünglichen Richterliste gehört möglicherweise auch der Grundbestand von 1Sam 7,15-17; 1Sam 25,1a, d.h.: Samuel war vermutlich der letzte kleine Richter.

2. Die Richterliste

2.1. Intention und Struktur der Liste

Die Richterliste will offensichtlich die vorstaatliche Zeit der Richter in ein günstiges Licht rücken und als Epoche des Wohlstands und der Ordnung charakterisieren. Das zeigen die Angaben, die sich in der Zusammenstellung über den Kinderreichtum und die damit verbundene Prosperität der Richter Jaïr (Ri 10,4), Ibzan (Ri 12,9) und Abdon (Ri 12,14) finden. Anders als das kehrversartige Motto aus Ri 17,6; Ri 18,1; Ri 19,1; Ri 21,25 suggerieren möchte, war die vorstaatliche Zeit der Richter nach Auskunft der Liste alles andere als eine anarchische Epoche. Die Zusammenstellung dürfte also in relativ früher Zeit entstanden sein, als man sich mit der Institution des Königtums noch nicht arrangiert hatte. Den Deuteronomisten lässt sie sich auf keinen Fall zuweisen, da die je unterschiedlich bemessenen Dienstzeiten der einzelnen Richter nicht mit der vierzigjährigen Ruhephase harmonieren, die von den Deuteronomisten regelmäßig im Zusammenhang mit den großen Richtern veranschlagt wird (Ri 3,11; Ri 5,31; Ri 8,28, vgl. auch Ri 3,30). Die Liste ist planvoll gestaltet.

Richter kleine 1

Die Detailinformationen zu Jaïr, Ibzan und Abdon sind in alternierendem Rhythmus in sie eingestreut. Durch Ri 10,6-12,6 wird die Zusammenstellung unterbrochen; 1Sam 7,15-17; 1Sam 25,1a sind von ihr abgesplittert. Außerdem weist die Liste Anzeichen redaktioneller Überarbeitung auf. In Ri 10,1 ist der Errettungsgedanke kein ursprüngliches Element, sondern von den Deuteronomisten zur kontextuellen Verknüpfung eingetragen. Noch deutlich stärker sind die durch den Zusammenhang und die deuteronomistische Hochschätzung Samuels bedingten Bearbeitungsspuren in 1Sam 7,15-17; 1Sam 25,1a. In 1Sam 7,15b hat die Formulierung „alle Tage seines Lebens“ eine ursprünglich konkretere Angabe über die Dauer von Samuels Wirksamkeit verdrängt. Bei 1Sam 7,16b.17aβb; 1Sam 25,1aβ handelt es sich jeweils um Zusätze.

2.2. Die Funktion der Liste im Kontext des Richterbuches und des deuteronomistischen Geschichtswerks (DtrG)

Die Aufteilung der Richterliste in einzelne Fragmente ist nicht das Ergebnis einer Textverwirrung, sondern resultiert aus der planvollen Editionstätigkeit der Deuteronomisten (→ Deuteronomistisches Geschichtswerk). Diese haben die Liste nicht in erster Linie aus historischem Interesse übernommen, sondern um die Richterzeit als Epoche der idealen Vereinigung von ‚Charisma‘ und ‚Amt‘ darzustellen. Das Zusammenfallen unterschiedlicher Aufgaben, das im Falle Jeftahs in der Tradition vorgegeben war, hat sie dazu veranlasst, die großen und kleinen Richter, sprich die charismatischen Helden und die überregionalen Kontrollinstanzen aus vorstaatlicher Zeit, grundsätzlich gleichzusetzen. Deshalb ist die Liste ganz bewusst literarisch mit den Erzählstoffen über Jeftah verschmolzen (vgl. Scherer, 2005, 31f). Was bezogen auf Jeftah der historischen Realität nahe gekommen sein dürfte, weiten die Deuteronomisten programmatisch auf alle übrigen Führergestalten der vorstaatlichen Zeit aus. Das zeigt besonders deutlich die von den Deuteronomisten frei disponierte → Otniel-Episode (Ri 3,7-11). Die Geistbegabung macht Otniel zu einem dauerhaften Richter; sein erstes Geschäft bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe ist die charismatische Kriegsführung (V. 10). Die Gestalt Deboras, der Seherin, die die Israeliten und ihren Anführer Barak bei der Schlacht am Bach Kischon maßgeblich motiviert und unterstützt hat (vgl. Ri 4f), wird von den Deuteronomisten durch Zusatz von Ri 4,4b-5 um den Zug der Richterin Israels bereichert, der ihr ursprünglich kaum eigentümlich war. Schließlich haben die Deuteronomisten sogar Samuel in ihr Konzept der Richterzeit einbezogen. In 1Sam 7,15-17 folgt der Hauptteil der mit Samuel verbundenen Fragmente der Richterliste auf einen Abschnitt, der von der entscheidenden Beteiligung Samuels an einer erfolgreichen militärischen Unternehmung der Israeliten gegen die Philister handelt (1Sam 7,7-14). Auch hier wird durch die Textzusammenstellung eine Doppelfunktion suggeriert, die es historisch gesehen so kaum als regelmäßige Einrichtung gegeben haben dürfte. Was den Deuteronomisten für die vorkönigliche Zeit vorschwebt, ist offenbar eine ideale Vereinigung von ‚Charisma‘ und ‚Amt‘. Das Richteramt ist ein gutes Amt. Das von Gott für die Leitung seines Volkes berufene Werkzeug ist ebenso Garant für andauernde Stabilität wie für die Krisenbewältigung in Ausnahmefällen.

3. Die historische Rolle der kleinen Richter

Die Aufgabe der Richter wird im Hebräischen mit dem Verb špṭ (שׁפט) bezeichnet, das ein relativ breites semantisches Spektrum aufweist und sowohl „herrschen“ und „leiten“ als auch ›richten‹ bedeuten kann. Die mit špṭ umschriebene Tätigkeit der Richter bezieht sich nach Auskunft der Liste auf die nicht näher bezeichnete Größe „Israel“.

Heute wird z.T. die Auffassung vertreten, die kleinen Richter hätten ihren historischen Ort nicht in der vorstaatlichen Zeit. Man meint, die Liste bezöge sich auf die Phase der assyrischen Fremdherrschaft und versteht die kleinen Richter nach Art der von Josephus (Contra Apionem I 156-158; Text gr. und lat. Autoren) im Zusammenhang mit Tyrus bzw. Phönizien erwähnten Richter (δικασταί). Doch lässt sich der Zusammenstellung keine euphemistische Tendenz entnehmen (anders Guillaume, 2002, 12-17; ders., 2004, 118-128), und eine Beschönigung der prämonarchischen Zeit ergibt im Blick auf das Königtum Josias ganz und gar keinen Sinn. Die Vorstellung, die Deuteronomisten hätten „das Richteramt der josianischen Verwaltung in die vorkönigliche Zeit“ (Niehr, ThWAT VIII, 425) zurückprojiziert, lässt sich ebenfalls nicht plausibel machen, da sich die Liste aus dem oben genannten Grund disparat zur deuteronomistischen Konzeption verhält und für die Hypothese einer Rückprojektion kein überzeugender Grund benannt werden kann. Dass die Liste zur Legitimation der Expansionsbestrebungen Josias und des Verwaltungssystems seiner Zeit gedient hätte, bleibt bloße Vermutung. Müsste ein reines Kunstprodukt dieser Zeit nicht viel aufwendiger gestaltet sein und seinem propagandistischen Zweck eindeutig eine königsfreundliche Note beimengen? Unzutreffend ist außerdem die zunehmend geäußerte Ansicht, es hätte in der Geschichte Israels gar keine Epoche der Richter gegeben (vgl. Guillaume, 2004, 252). Solche Tendenzen entsprechen teils einem historischen Agnostizismus, der die historische Verwertbarkeit des biblischen Materials zu pessimistisch beurteilt, teils einer generellen Vorliebe für Spätdatierungen, die wenigstens im vorliegenden Fall nicht zu rechtfertigen ist. De facto entsprach die Richterzeit zwar nicht dem strengen Konzept, das die Deuteronomisten für diese Epoche entworfen haben, dennoch dürfen wir davon ausgehen, dass es im vorstaatlichen Israel Strukturen von begrenzter Reichweite gab, die für die Gestaltung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens von Belang waren. In diesem Kontext ist die Funktion der Richter angesiedelt.

Die Richter waren kaum Verwaltungsgouverneure, die lediglich das Geschick einzelner Städte und Landkreise lenkten (so jedoch Richter, bes. 71). Das Verb šapaṭ wird eben nicht ausschließlich oder vorwiegend im Sinne von ›herrschen‹ und ›leiten‹ verwendet (vgl. Mayes, 83). Erst recht bedeutet es nicht nur ›verwalten‹. Nichts in der Liste verweist auf eine lokal eng begrenzte Tätigkeit! Samuel ist als Richter in insgesamt vier Ortschaften (Bethel, Gilgal, Mizpa, Rama) aus dem Bereich von immerhin zwei Stammesgebieten (Ephraim und Benjamin) tätig. Von den übrigen kleinen Richtern wohnen Ibzan und Abdon in auffallend grenznahen Orten. Tola, der aus Issachar stammt, lebt gleichwohl auf ephraimitischem Territorium und wird auch dort begraben. Das alles lässt an einen einzelne Stammesgrenzen überschreitenden Einfluss der Richter denken. Der Sache nach darf man sich ihre Aufgabe in Analogie zur Funktion von Kontrollinstanzen in neuzeitlichen akephalen Gesellschaften vorstellen (vgl. dazu Scherer, 2005, 173-175). Es handelt sich um einflussreiche Persönlichkeiten, die ohne physischen Sanktionsapparat, ausschließlich aufgrund ihrer persönlichen Autorität, die Rolle von Beratern und Schiedsrichtern übernehmen. Sie vermitteln in besonders problematischen Rechtsfällen und greifen im Falle einer Krise moderierend in das gesellschaftliche Zusammenleben ein. Auf diese Weise fördern sie die Ordnung des Gemeinwesens und den kollektiven Zusammenhalt.

Ob die von der Liste suggerierte Abfolge der einzelnen Richter der historischen Realität entspricht oder auf das systematisierende Interesse ihres Verfassers zurückgeht, lässt sich kaum mehr mit Gewissheit entscheiden. Anders als Alt und Noth unter Voraussetzung der Existenz einer JHWH-Amphiktyonie oder eines sakralen Stämmebundes (vgl. dazu auch Thiel, 136) annahmen, kann man kaum davon ausgehen, dass die Richter Funktionäre eines gesamtisraelitischen Amtes waren. Samuels Einfluss war offenbar auf Ephraim und Benjamin beschränkt. Darüber hinaus kommen als konkrete stammesterritoriale Bezugsgrößen für weitere Richter in der Zusammenstellung nur noch die Gebiete Issachar, Gilead und Sebulon (Bethlehem) in den Blick. Das spricht nicht für ein auf die feste Größe von zwölf Stämmen ausgerichtetes Amt. Oder man müsste annehmen, dass die Dauer der Richterzeit entweder sehr kurz war oder dass große Teile der Liste auf unerklärliche Weise verloren gegangen sind. Wenn die Richtertätigkeit in der Liste immer wieder auf Israel bezogen wird, kann sich darin entweder ein Hang zur Universalisierung bekunden oder Israel meint in der Liste nicht das Zwölf-Stämme-Volk, sondern eine Vorstufe. Nimmt man alle Indizien zusammen, legt sich die Schlussfolgerung nahe, dass die einzelnen Richter ihrer Aufgabe zwar überregional nachgingen, jedoch immer nur einige wenige israelitische Stämme übergreifend als Berater, Schieds- und Friedensrichter tätig waren. An militärischen Operationen werden sie sich im Normalfall kaum beteiligt haben. Jedoch mag neben Ansehen und Reichtum kriegerischer Erfolg zur Qualifikation für die Aufgabe des Richters beigetragen haben, wie sich beispielsweise im Falle Jeftahs vermuten lässt. Die kleinen Richter waren Sachwalter einer Funktion zur Regulierung von Streit- und Problemfällen in Friedenszeiten, nicht Träger eines gesamtisraelitischen Amtes oder Anführer spektakulärer Kriegsunternehmungen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.

2. Weitere Literatur

  • Alt, A., 4. Aufl. 1968, Die Ursprünge des israelitischen Rechts (1934), in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I, München, 278-332 (300-302)
  • Fritz, V., 1996, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. (Biblische Enzyklopädie 2), Stuttgart, 45-47
  • Guillaume, Ph., 2002, From a Post-monarchical to the Pre-monarchical Period of the Judges, BN 113, 12-17
  • Guillaume, Ph., 2004, Waiting for Josiah. The Judges (JSOT.S 385), London / New York, 118-128
  • Hecke, K.-H., 1985, Juda und Israel. Untersuchungen zur Geschichte Israels in vor- und frühstaatlicher Zeit (FzB 52), Würzburg, 165-173
  • Mayes, A.D.H., 1985, Judges (OTGu), Sheffield, 78-83
  • Mommer, P., 1991, Samuel. Geschichte und Überlieferung (WMANT 65), Neukirchen-Vluyn, 35-37.215-220
  • Niehr, H., 1986, Herrschen und Richten. Die Wurzel špṭ im Alten Orient und im Alten Testament (FzB 54), Würzburg
  • Niehr, H., 1987, Rechtsprechung in Israel. Untersuchungen zur Geschichte der Gerichtsorganisation im Alten Testament (SBS 130), Stuttgart, 55-58
  • Noth, M., 1950 (1969), Das Amt des „Richters Israels“, in: Baumgartner, W. (Hg.), FS A. Bertholet, Tübingen, 404-417, wieder abgedruckt, in: M. Noth, Gesammelte Studien zum Alten Testament II, hg. von H.W. Wolff (TB 39), München, 71-85
  • Richter, W., 1965, Zu den »Richtern Israels«: ZAW 77, 40-72
  • Rösel, H.N., 1981, Die »Richter Israels«. Rückblick und neuer Ansatz: BZ N.F. 25, 180-203
  • Scherer, A., 2005, Überlieferungen von Religion und Krieg. Exegetische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Richter 3-8 und verwandten Texten (WMANT 105), Neukirchen-Vluyn, 173-175
  • Scherer, A., 2007, Die ›kleinen‹ Richter und ihre Funktion: ZAW (im Druck)
  • Thiel, W., 2. Aufl. 1985, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn, 133-136

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