Richter, kleine
(erstellt: Februar 2005)
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1. Die kleinen Richter im Alten Testament
Als kleine Richter bezeichnet man die Richter, von denen im → Richterbuch
2. Die Richterliste
2.1. Intention und Struktur der Liste
Die Richterliste will offensichtlich die vorstaatliche Zeit der Richter in ein günstiges Licht rücken und als Epoche des Wohlstands und der Ordnung charakterisieren. Das zeigen die Angaben, die sich in der Zusammenstellung über den Kinderreichtum und die damit verbundene Prosperität der Richter Jaïr (Ri 10,4
Die Detailinformationen zu Jaïr, Ibzan und Abdon sind in alternierendem Rhythmus in sie eingestreut. Durch Ri 10,6-12,6
2.2. Die Funktion der Liste im Kontext des Richterbuches und des deuteronomistischen Geschichtswerks (DtrG)
Die Aufteilung der Richterliste in einzelne Fragmente ist nicht das Ergebnis einer Textverwirrung, sondern resultiert aus der planvollen Editionstätigkeit der Deuteronomisten (→ Deuteronomistisches Geschichtswerk
3. Die historische Rolle der kleinen Richter
Die Aufgabe der Richter wird im Hebräischen mit dem Verb špṭ (שׁפט) bezeichnet, das ein relativ breites semantisches Spektrum aufweist und sowohl „herrschen“ und „leiten“ als auch ›richten‹ bedeuten kann. Die mit špṭ umschriebene Tätigkeit der Richter bezieht sich nach Auskunft der Liste auf die nicht näher bezeichnete Größe „Israel“.
Heute wird z.T. die Auffassung vertreten, die kleinen Richter hätten ihren historischen Ort nicht in der vorstaatlichen Zeit. Man meint, die Liste bezöge sich auf die Phase der assyrischen Fremdherrschaft und versteht die kleinen Richter nach Art der von Josephus (Contra Apionem I 156-158; Text gr. und lat. Autoren
Die Richter waren kaum Verwaltungsgouverneure, die lediglich das Geschick einzelner Städte und Landkreise lenkten (so jedoch Richter, bes. 71). Das Verb šapaṭ wird eben nicht ausschließlich oder vorwiegend im Sinne von ›herrschen‹ und ›leiten‹ verwendet (vgl. Mayes, 83). Erst recht bedeutet es nicht nur ›verwalten‹. Nichts in der Liste verweist auf eine lokal eng begrenzte Tätigkeit! Samuel ist als Richter in insgesamt vier Ortschaften (Bethel, Gilgal, Mizpa, Rama) aus dem Bereich von immerhin zwei Stammesgebieten (Ephraim und Benjamin) tätig. Von den übrigen kleinen Richtern wohnen Ibzan und Abdon in auffallend grenznahen Orten. Tola, der aus Issachar stammt, lebt gleichwohl auf ephraimitischem Territorium und wird auch dort begraben. Das alles lässt an einen einzelne Stammesgrenzen überschreitenden Einfluss der Richter denken. Der Sache nach darf man sich ihre Aufgabe in Analogie zur Funktion von Kontrollinstanzen in neuzeitlichen akephalen Gesellschaften vorstellen (vgl. dazu Scherer, 2005, 173-175). Es handelt sich um einflussreiche Persönlichkeiten, die ohne physischen Sanktionsapparat, ausschließlich aufgrund ihrer persönlichen Autorität, die Rolle von Beratern und Schiedsrichtern übernehmen. Sie vermitteln in besonders problematischen Rechtsfällen und greifen im Falle einer Krise moderierend in das gesellschaftliche Zusammenleben ein. Auf diese Weise fördern sie die Ordnung des Gemeinwesens und den kollektiven Zusammenhalt.
Ob die von der Liste suggerierte Abfolge der einzelnen Richter der historischen Realität entspricht oder auf das systematisierende Interesse ihres Verfassers zurückgeht, lässt sich kaum mehr mit Gewissheit entscheiden. Anders als Alt und Noth unter Voraussetzung der Existenz einer JHWH-Amphiktyonie oder eines sakralen Stämmebundes (vgl. dazu auch Thiel, 136) annahmen, kann man kaum davon ausgehen, dass die Richter Funktionäre eines gesamtisraelitischen Amtes waren. Samuels Einfluss war offenbar auf Ephraim und Benjamin beschränkt. Darüber hinaus kommen als konkrete stammesterritoriale Bezugsgrößen für weitere Richter in der Zusammenstellung nur noch die Gebiete Issachar, Gilead und Sebulon (Bethlehem) in den Blick. Das spricht nicht für ein auf die feste Größe von zwölf Stämmen ausgerichtetes Amt. Oder man müsste annehmen, dass die Dauer der Richterzeit entweder sehr kurz war oder dass große Teile der Liste auf unerklärliche Weise verloren gegangen sind. Wenn die Richtertätigkeit in der Liste immer wieder auf Israel bezogen wird, kann sich darin entweder ein Hang zur Universalisierung bekunden oder Israel meint in der Liste nicht das Zwölf-Stämme-Volk, sondern eine Vorstufe. Nimmt man alle Indizien zusammen, legt sich die Schlussfolgerung nahe, dass die einzelnen Richter ihrer Aufgabe zwar überregional nachgingen, jedoch immer nur einige wenige israelitische Stämme übergreifend als Berater, Schieds- und Friedensrichter tätig waren. An militärischen Operationen werden sie sich im Normalfall kaum beteiligt haben. Jedoch mag neben Ansehen und Reichtum kriegerischer Erfolg zur Qualifikation für die Aufgabe des Richters beigetragen haben, wie sich beispielsweise im Falle Jeftahs vermuten lässt. Die kleinen Richter waren Sachwalter einer Funktion zur Regulierung von Streit- und Problemfällen in Friedenszeiten, nicht Träger eines gesamtisraelitischen Amtes oder Anführer spektakulärer Kriegsunternehmungen.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.
2. Weitere Literatur
- Alt, A., 4. Aufl. 1968, Die Ursprünge des israelitischen Rechts (1934), in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I, München, 278-332 (300-302)
- Fritz, V., 1996, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. (Biblische Enzyklopädie 2), Stuttgart, 45-47
- Guillaume, Ph., 2002, From a Post-monarchical to the Pre-monarchical Period of the Judges, BN 113, 12-17
- Guillaume, Ph., 2004, Waiting for Josiah. The Judges (JSOT.S 385), London / New York, 118-128
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- Mayes, A.D.H., 1985, Judges (OTGu), Sheffield, 78-83
- Mommer, P., 1991, Samuel. Geschichte und Überlieferung (WMANT 65), Neukirchen-Vluyn, 35-37.215-220
- Niehr, H., 1986, Herrschen und Richten. Die Wurzel špṭ im Alten Orient und im Alten Testament (FzB 54), Würzburg
- Niehr, H., 1987, Rechtsprechung in Israel. Untersuchungen zur Geschichte der Gerichtsorganisation im Alten Testament (SBS 130), Stuttgart, 55-58
- Noth, M., 1950 (1969), Das Amt des „Richters Israels“, in: Baumgartner, W. (Hg.), FS A. Bertholet, Tübingen, 404-417, wieder abgedruckt, in: M. Noth, Gesammelte Studien zum Alten Testament II, hg. von H.W. Wolff (TB 39), München, 71-85
- Richter, W., 1965, Zu den »Richtern Israels«: ZAW 77, 40-72
- Rösel, H.N., 1981, Die »Richter Israels«. Rückblick und neuer Ansatz: BZ N.F. 25, 180-203
- Scherer, A., 2005, Überlieferungen von Religion und Krieg. Exegetische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Richter 3-8 und verwandten Texten (WMANT 105), Neukirchen-Vluyn, 173-175
- Scherer, A., 2007, Die ›kleinen‹ Richter und ihre Funktion: ZAW (im Druck)
- Thiel, W., 2. Aufl. 1985, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn, 133-136
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