Richter / Richterbuch
(erstellt: Dezember 2005)
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1. Name
Das Richterbuch trägt auf Hebräisch den Namen šofəṭîm, was die Septuaginta und die Vulgata mit den Bezeichnungen KPITAI und LIBER IUDICUM wiedergeben. Gleichwohl hat man über weite Strecken des Richterbuches nicht den Eindruck, dass die šofəṭîm einer juridischen Funktion nachkommen, wie es das deutsche Wort „Richter“ und sein griechisches wie lateinisches Äquivalent nahe legen.
Nur in der geschichtstheologischen Präambel des Buches werden die Protagonisten ausdrücklich als šofəṭîm eingeführt (Ri 2,16
2. Aufbau, Inhalt, Komposition
2.1. Aufbau
Zum Aufbau s. die nebenstehende Tabelle.
2.2. Inhalt
Ri 1,1-2,5. Das Richterbuch beginnt mit einem Rückblick auf die → Landnahme
Dann folgt das ‚negative Besitzverzeichnis’ (Ri 1,27-36
Ri 2,6-3,6. Dieser Komplex kann als Einleitung in die Richterzeit im engeren Sinne gelten. Der Passus setzt ein mit dem stark an Jos 24,29-31
Ri 3,7-12,15. Hier finden sich die eigentlichen Richtererzählungen. Sie schildern, wie einzelne Stammeshelden im Auftrag und in der Kraft JHWHs Israel aus der Hand übermächtiger Feinde befreien.
In den Kontext dieser Schilderungen haben einige Textpartien Eingang gefunden, die sich nach Genre oder Inhalt klar von den Richtererzählungen unterscheiden.
a) Das gilt an erster Stelle für das sog. ‚Deboralied’ in Ri 5
b) Auch das Abimelech-Kapitel Ri 9
c) Aus dem Rahmen fällt schließlich noch die Liste der kleinen Richter (→ Richter, kleine
Ganz anders verhält sich das in den sechs Darstellungszusammenhängen, die von den bewegten Auseinandersetzungen aus der Frühzeit handeln. Die hier geschilderten Kämpfe nehmen jeweils auf die eine oder andere Weise einen für Israel vorteilhaften Ausgang.
Ri 3,7-11. Der relativ kurzen → Otniel
Ri 3,12-30. Erzählerisch anspruchsvoller gibt sich die spannende und skurrile Geschichte vom listigen Attentäter → Ehud
Ri 3,31. Über Schamgar ist uns nur ein einziger Vers erhalten. Der eigentümliche Kriegsheld soll 600 → Philister
Ri 4-5. In Ri 4
Ri 6-8. Im umfangreichen Gideon-Zyklus bekommt Israel es mit den → Midianitern
Ri 10,6-12,6. → Jeftah
Ri 13-16. Über den Daniten → Simson
Ri 17-18. Anders als die Richtererzählungen handeln die Anhänge nicht von Israels Kriegen mit Nichtisraeliten. Vielmehr kommen jetzt gleichsam die ‚inneren Angelegenheiten’ aus der Frühzeit Israels in den Blick. In Kap. 17-18 spielen kultische Gegebenheiten eine wichtige Rolle, mit denen sich das Problem des noch fehlenden „Erbteils“ für den Stamm Dan verbindet.
Ri 19-21. Kap. 19 berichtet von einer unerhörten Freveltat: Die Nebenfrau eines Leviten aus Ephraim fällt im benjaminitischen Gibea einer vielfachen Vergewaltigung mit Todesfolge zum Opfer. Kap. 20 und 21 knüpfen auf je verschiedene Weise daran an, indem sie einerseits die blutige Strafexpedition Israels gegen Benjamin schildern, andererseits aber auch von den Bemühungen zu erzählen wissen, die darauf abzielen, den Stamm Benjamin trotz allem zu erhalten.
2.3. Komposition
Ein durchgängiges Kompositionsprinzip, das alle Teile des Richterbuches in gleicher Weise systematisch umfasst, lässt sich nicht nachweisen. Immerhin gibt es einzelne Elemente, die Anfang und Ende der Schrift miteinander verbinden. Dazu gehört vor allem die Vorreiterrolle Judas, die sowohl in Ri 1,1-2
Ri 1,1-2,5. Der erste Hauptabschnitt wird vom Thema Landnahme dominiert. Der erfolgreichen Landnahme Judas (Ri 1,1-7
Ri 2,6-12,15. Die beiden folgenden Hauptabschnitte Ri 2,6-3,6
Ri 13-16. Der Simson-Komplex figuriert als vierter Hauptabschnitt des Buches. Er weicht deutlich vom Schema der Richtererzählungen ab. Den abenteuerlichen Episoden in Ri 14-15
Ri 17-21. Die Anhänge werden durch den sog. ‚königsfreundlichen Kehrvers’ in Ri 17,6
3. Textüberlieferung
Der masoretische Text. Er ist für das Richterbuch der wichtigste Zeuge. Seine Qualität wird im konkreten Fall außerordentlich hoch veranschlagt (vgl. Moore, 7. Aufl. 1958, xliii; Soggin, 2. Aufl. 1987, 12; Block, 1999, 72). Nur das Deboralied nimmt man gelegentlich von dieser optimistischen Einschätzung aus (vgl. Soggin, 2. Aufl. 1987, 12). Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass viele Probleme des poetischen Textes nicht auf eine mangelhafte Textüberlieferung zurückgehen, sondern auf unserer immer noch lückenhaften Wortkunde beruhen.
Die griechische Übersetzung. Fehlerfrei ist indessen auch der masoretische Text des Richterbuches nicht. An einigen Stellen weist die → Septuaginta
Die Qumran-Fragmente. Neben dem masoretischen Text und der Septuaginta leisten neuerdings auch vier → Qumran-Fragmente
4. Entstehung
4.1. Das eroberte und das uneroberte Land (Ri 1,1-2,5)
Der erste Hauptabschnitt des Buches gehört, redaktionsgeschichtlich betrachtet, auf jeden Fall zu seinen jüngeren Bestandteilen. Seine Entstehung hängt mit der Gestaltwerdung des alttestamentlichen Kanons oder wenigstens mit der Einteilung der vorderen Propheten in einzelne Bücher zusammen. Der Komplex sucht die Verbindung zur Zeit der Landnahme unter Josua und will zugleich den Gedanken der erfolgten Landnahme mit den Gegebenheiten der Richtererzählungen in Einklang bringen, die voraussetzen, dass Völker im Lande ihren Einfluss ausüben, mit denen sich Israel kriegerisch auseinandersetzen muss. Bei alledem spielt der Primat Judas eine wesentliche Rolle. Dieser Stamm schlägt bei der Landnahme nicht nur als erster los, sondern vermag auch besonders eindrückliche Erfolge zu erzielen (Ri 1,1-17
Altes Überlieferungsgut kann sich hinter der Adoni-Besek-Episode aus Ri 1,5-7
Als literarisch sekundäre Bestandteile von Ri 1,1-2,5
4.2. Die Richtererzählungen (Ri 2,6-12,15)
4.2.1. Die vorliterarischen Überlieferungen
Die literarhistorische und überlieferungskritische Analyse der Richtererzählungen führt zu dem Ergebnis, dass sich in den meisten Fällen ein vorliterarisches Stadium der Texte nachweisen oder zumindest wahrscheinlich machen lässt.
Ri 3,12-30. So steht hinter der Ehud-Episode die alte Überlieferung vom Benjaminiten Ehud, der den unmäßig beleibten Moabiterkönig Eglon mit einer scharfen Stichwaffe ermordet und dadurch das Signal zur Befreiung Benjamins von der moabitischen Fremdherrschaft setzt.
Ri 3,31. Von Schamgar, der außerdem in Ri 5,6
Ri 4-5. Die Kapitel handeln vom selben Ereignis. Beide Texte können als literarische Kunstwerke bezeichnet werden. Sie beziehen sich auf die Schlacht am → Kischon
Ri 6-8. Im Hintergrund des Gideon-Zyklus können wir schon für die vorliterarische Entstehungsphase einen regelrechten Erzählkranz vermuten (vgl. Scherer, 2005, 420f). Ausgangspunkt für die überlieferungskritische Spurensuche ist Gideons Blutrache an den Mördern seiner Brüder (Ri 8,18-21
Ri 10,6-12,6. Über Jeftah wusste die Überlieferung recht farbig und ausführlich zu berichten, wie er als Ausgestoßener durch seinen militärischen Erfolg über die Ammoniter die Herrschaft über sein Stammland Gilead zu erringen vermochte.
Ri 9. Auch das Abimelech-Kapitel, das literarhistorisch nicht auf einer Stufe mit den Richtererzählungen steht, jetzt aber redaktionell in den Kontext dieser Darstellungen integriert ist, fußt auf einem Erzählkranz, der wahrscheinlich einen kanaanäischen Hintergrund aufweist (vgl. Scherer, 2005, 353-360).
4.2.2. Die schriftliche Abfassung der Texte
1. Forschungsgeschichte. Die Frage, wie die Richtererzählungen zu literarischen Texten geworden sind, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Schon Noth (3. Aufl. 1967, 47f) ging davon aus, dass den Deuteronomisten die einzelnen Erzählungen bereits als Sammlung vorlagen. Er machte sich jedoch keine Gedanken über die genaue Gestalt der vordeuteronomistischen Schilderungen. Demgegenüber entwickelte Richter (2. Aufl. 1966, 319-343) die These von einem scharf profilierten vordeuteronomistischen „Retterbuch“, das er in die Zeit → Jehus
2. Der JHWH-Kriegs-Zyklus. Eine Untersuchung der Texte zeigt, dass die Darstellungszusammenhänge über Ehud, Debora und Barak, Gideon und auch Jeftah von der Topik des JHWH-Krieges geprägt sind. Besonders deutlich manifestiert sich dieser Gesichtspunkt in Ri 4und Ri 6-8, aber auch in Ri 3,28-29 und Ri 10,17-18; Ri 11,5a.9aβ.30b.32b; Ri 12,1.4a.6b. Es ist daher davon auszugehen, dass ein sammelnder und bearbeitender Verfasser einen Zyklus von JHWH-Kriegserzählungen aus der Richterzeit geschaffen hat. Dabei standen ihm vor allem mündliche Überlieferungen zur Verfügung. Im Falle des Jeftah-Komplexes hatte die mündliche Überlieferung wahrscheinlich schon ein sehr weit fortgeschrittenes Entwicklungsstadium erreicht und zu einer ziemlich festen Ausprägung der Tradition geführt, so dass der Verfasser des Zyklus sich mit einer relativ zurückhaltenden Überformung des Stoffes begnügen konnte. Letzteres gilt in noch stärkerem Maße für die Ehud-Episode, die bei der Entstehung des JHWH-Kriegs-Zyklus allem Anschein nach schon in schriftlicher Form vorlag, so dass der sammelnde Bearbeiter hier eher die Rolle eines Redaktors als die eines Verfassers übernommen hat.
Kennzeichen der JHWH-Kriegskonzeption des Zyklus sind das betonte Herausstreichen der Bedeutung JHWHs für den Sieg, die totale Vernichtung der Feinde sowie eine Marginalisierung, jedoch keine völlige Eliminierung der menschlichen Rolle beim Zustandekommen der Kriegserfolge. Der Aspekt der ‚Errettung’ kann – wie im Falle Gideons – in das Konzept integriert werden, ist aber kein schlechthin konstitutiver Bestandteil des Entwurfs. Ähnlich kann auch die Berufung durch JHWH oder seine Boten eine Rolle spielen (vgl. Ri 4,4*.6-9; Ri 6,11-24
Dem JHWH-Kriegs-Zyklus ist nicht nur die für den gesamten Alten Vorderen Orient selbstverständliche gegenseitige Bezogenheit von Religion und Krieg geläufig, sondern er verfolgt unverkennbar die programmatische Absicht, die religiöse Komponente als schlechthin entscheidend in den Vordergrund zu stellen. Das geistige Klima dieses von einer Art ‚Kriegsfrömmigkeit’ geprägten Kerygmas fügt sich in der Tat sehr gut in die Zeit der Dynastie ein, die von einem Putschisten mit Namen Jehu in Israel begründet wurde (etwa ab 841 v. Chr.). Die Vertreter dieses Königsgeschlechts sind allem Anschein nach bei ihren militärischen Auseinandersetzungen von den Repräsentanten einer urtümlichen Form von Prophetie, der vorklassischen Nordreichsprophetie, spirituell unterstützt worden. Zumindest wird man die JHWH-Kriegsrenaissance unter den Jehuiden zu den Voraussetzungen des Zyklus rechnen dürfen.
3. Das Abimelechkapitel. Gänzlich unberührt von der für die Richtererzählungen typischen JHWH-Kriegs-Konzeption ist Ri 9. Obwohl der Text häufig als genuiner Bestandteil der vordeuteronomistischen Sammlung betrachtet wird, dürfte er tatsächlich erst auf redaktionellem Wege mit dem Gideon-Komplex und den übrigen Richtererzählungen vereinigt worden sein. Die Spuren dieses Redaktionsvorgangs werden außerhalb von Kap. 9 in Ri 6,32
4.2.3. Die Arbeit der Deuteronomisten
Zur Endgestalt der Richtererzählungen und des Richterbuches haben die Deuteronomisten einen wesentlichen Beitrag geleistet. Sie haben den Erzählungen eine programmatische Einleitung vorangestellt (Ri 2,11-19
Unter Voraussetzung der Katastrophe des → Exils
Die ‚Sündenformel’: „Die Israeliten taten das Böse in den Augen JHWHs.“ (Ri 3,7
Die ‚Übereignungsformel’: „Er verkaufte sie in die Hand von XY.“ (Ri 3,8
Die ‚Notschreiformel’: „Da schrieen die Israeliten zu JHWH.“ (Ri 3,9
Sprache und Theologie der Deuteronomisten sind aufgrund ihres spezifischen Charakters leicht zu erkennen, so dass deuteronomistisches und vordeuteronomistisches Gut im Richterbuch relativ leicht voneinander zu trennen sind. Schwieriger ist die Beurteilung einzelner Partien (z.B. Ri 2,1-5
4.3. Das Deboralied (Ri 5)
Noch vor wenigen Jahrzehnten galt es als „Gemeingut der alttestamentlichen Wissenschaft, daß wir die authentischste, wenn nicht gar die einzige wirklich authentische Quelle über die Richterzeit im Deboralied (Ri. 5) vor uns haben“ (Smend, 2. Aufl. 1966, 10). Heute ist indessen die Ansicht verbreitet, beim Deboralied handele es sich um einen sehr späten, in jedem Falle nachexilischen Text (vgl. Diebner, 1995, 106-130; Waltisberg, 1999, 218-232; Levin, 2003, 124-141). Auf Grund der Unsicherheiten, die mit einer allein auf sprachlichen oder intertextuellen Indizien beruhenden Spätdatierung verbunden sind, wird man das Sinngefälle des Textes bei der Altersbestimmung zu berücksichtigen haben. Daraus geht mit einiger Sicherheit hervor, dass der Grundbestand des Liedes in die zu Ende gehende Richterzeit oder in die beginnende Königszeit gehört, als die Größe Israel noch im Werden war. Man kann also die zweite Hälfte des 11. Jh.s v. Chr. als Entstehungszeitraum annehmen (vgl. Neef, 2002, 115; Scherer, 2005, 161). Der Grundbestand der Dichtung liegt mit v6-30 vor. Später wurde der Text einer hymnischen Bearbeitung unterzogen (v2-5.31a) und redaktionell mit den Richtererzählungen kombiniert (v1.31b).
4.4. Der Simson-Komplex (Ri 13-18)
Der literarische Kern des Simson-Komplexes ist im Grundbestand von Ri 14-15 zu suchen (vgl. Gese, 1985, 264; ähnlich Witte, 2000, 345). Der Erzählzusammenhang, der in der ältesten literarischen Fassung der beiden Kapitel greifbar wird, „gehört zu den großen Texten der Weltliteratur und ist nicht die Geschichte von einem Händel suchenden Rowdy“ (Gese, 1985, 280). Hinter diesem ersten Simson-Zyklus stehen einzelne mündliche Überlieferungen, die man ihrem Charakter nach vielleicht als ‚Sagen’ bezeichnen darf (vgl. Witte, 2000, 547). Sie schildern Simson als kraftbegabten und geistesgegenwärtigen Haudegen. Was sich im Einzelnen an historischer Realität hinter den Überlieferungen verbirgt, lässt sich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. Auch die ursprüngliche Form der Einzelsagen ist umstritten. Welche der Züge, die in der Endgestalt der Komposition das Charakterbild Simsons prägen, tatsächlich von Anfang an mit dieser Berserkerfigur verbunden waren, entzieht sich wenigstens teilweise dem historischen Urteil. Immerhin kann man durch das Ausschlussverfahren bestimmte Aspekte der Simson-Tradition als sekundäre Interpretamente erweisen. Vor allem der in Ri 13 und Ri 16 verankerte Titel des → ‚Nasiräers’
Der Zeitpunkt der Einfügung des Simson-Zyklus in das Richterbuch ist umstritten. Es finden sich dort nur sehr wenige Formulierungen deuteronomistischen Stils (Ri 13,1
4.5. Die Anhänge (Ri 19-21)
In den Anhängen ist unterschiedliches Material zusammengestellt worden. Es wird durch den sog. ‚königsfreundlichen Kehrvers’ in Ri 17,6
Ri 17-18. Hinter den beiden Kapiteln stehen zwei ursprünglich selbständige Überlieferungen, die mit einer bestimmten theologischen Absicht miteinander verknüpft worden sind (vgl. Neef, 2004, 219-221). Eine ephraimitische Lokalüberlieferung befasst sich mit der Kultpraxis eines gewissen Micha. Eine danitische Überlieferung bezieht sich auf die Landnahme der Daniten in Lajisch. Die Verknüpfung der Überlieferungen dient der „Kritik des kultischen Pluralismus der Richterzeit, der als Verstoß gegen die Alleinverehrung und Alleinwirksamkeit Jahwes gedeutet wird“ (Neef, 2004, 221).
Ri 19-21. Der entstehungsgeschichtliche Kern dieses Anhangs ist in der Geschichte von dem Gewaltverbrechen an der Nebenfrau des Leviten aus Ephraim zu suchen, die in Kap. 19 erzählt wird. Die jüngsten Teile des Komplexes finden sich hingegen in Ri 21, wo das Problem des Mangels an Frauen für den Stamm Benjamin thematisch im Vordergrund steht. Dort begegnen mit Ri 21,1-14
5. Geschichtlicher Hintergrund
5.1. Der geschichtliche Hintergrund der Überlieferungen aus der ‚Richterzeit’
In den alten Überlieferungen, die sich hinter einigen Richtererzählungen finden lassen, spiegeln sich zum Teil Verhältnisse aus Israels Frühzeit. Bevor es unter den israelitischen Stämmen zur Ausbildung eines Königtums kam, war der politische Zusammenhalt dort nur sehr schwach ausgebildet. Der Einzelne war Teil seines Vaterhauses, das jeweils in eine bestimmte Sippe eingegliedert war. Darüber rangierte als feste soziopolitische Größe nur noch der Stamm (vgl. Thiel, 2. Aufl. 1985, 101-126). Im Falle akuter Bedrohung konnte es zu militärischen Bündnissen zwischen einzelnen Stämmen kommen. Anlässlich der Deboraschlacht scheinen wenigstens die Stämme Naphtali und Sebulon gemeinsam in den Krieg gegen ein kanaanäisches Koalitionsheer gezogen zu sein (Ri 4,6
Dabei muss man sich vor Augen führen, dass den israelitischen Stämmen in der Frühzeit nur sehr bescheidene militärische Mittel zu Gebote standen. Nach Ri 5,8
Umstritten ist in der Forschung die Frage, wer die Israeliten waren. Hatte die ältere Forschung in starkem Umfang mit der sukzessiven Einwanderung nomadischer Elemente gerechnet, die allmählich begannen, im Kulturland sesshaft zu werden, so werden gegenwärtig meist rein soziologische Modelle bevorzugt, die mit soziopolitischen Entwicklungen oder Umwälzungen innerhalb des kanaanäischen Gesellschaftsgefüges rechnen. So wendet man in jüngster Zeit auf das sich konstituierende Israel zum Beispiel ein sog. „agrarian frontier reform model“ (Dever, 2003, 188) an und betrachtet die Frühisraeliten als „agrarian movement with strong reformist tendencies driven by a new social ideal“ (189). Solche und ähnliche Ansätze sind von einer neuen Einseitigkeit geprägt. Man wird demgegenüber festhalten müssen, dass es im ethnischen und soziologischen Sinne zu kurz gegriffen ist, die Frühisraeliten einfach als ‚Kanaanäer’ zu bezeichnen. Wahrscheinlich hat man das im Entstehen begriffene Israel als corpus mixtum aufzufassen, das sich aus unterschiedlichen Komponenten rekrutierte. Dazu gehörten mit Sicherheit verschiedene Gruppen, die ins Abseits des kanaanäischen Gesellschaftsgefüges geraten waren, aber auch Elemente, die wir ohne Zögern als Halb- oder Kulturlandnomaden ansprechen dürfen. Außerdem wird die sog. ‚Ägypten-Gruppe’ eine Rolle gespielt haben, durch deren Vermittlung der Gott JHWH in Israel heimisch geworden ist.
Auf das ‚Zusammengehörigkeitsgefühl’ der israelitischen Gruppen und Stämme haben wenigstens drei Faktoren Einfluss genommen. Zunächst einte die unterschiedlichen Frühisraeliten ihre jeweilige Selbsteinschätzung als Outsider (vgl. Neu, 1992, 184; Scherer, 2005, 177f). Unter ihnen war das Bewusstsein verbreitet, außerhalb des Gefüges der etablierten kanaanäischen Gesellschaftsstrukturen zu stehen. Den Boden, den sie bearbeiteten, betrachteten sie nicht als ihr selbstverständliches Eigentum. Charakteristisch für die Frühisraeliten war außerdem eine herrschaftsfeindliche Tendenz, die mit dem weitgehend akephalen soziologischen Gefüge der vormonarchischen Zeit Hand in Hand ging. Das heißt: Die Frühisraeliten kannten keine von allen akzeptierte herrschaftliche Zentralinstanz, die über die Mittel verfügte, ihren Führungsanspruch mit Gewalt durchzusetzen. Schließlich spielte die JHWH-Religion als einigendes Band der Stämme eine zentrale Rolle. JHWH wurde als Kriegsgott ins Feld geführt, der gemeinsam verehrt wurde und dessen Hilfe man gemeinsam erfuhr.
Das allmähliche Zusammenwachsen der israelitischen Stämme manifestierte sich nicht nur in gemeinsamer kriegerischer Aktion, sondern konnte auch durch den stämmeübergreifenden Besuch von Kultstätten mit überregionaler Bedeutung Gestalt gewinnen. Ein zentrales Heiligtum für alle Stämme hat es in der Frühzeit nicht gegeben. Bethel, Gilgal, Mizpa und der Tabor waren aber gewiss attraktiv genug, um Pilger über die Grenzen eines Nachbarstammes hinüberzulocken. Auch der Einfluss der ‚kleinen’ Richter betraf zwar kaum Gesamt-Israel, war aber auch nicht in jedem Fall auf den je einzelnen Stamm begrenzt. Israel wird erst ganz allmählich zu einer relativ festen Einheit. Die alten Überlieferungen aus der Richterzeit zeigen uns schlaglichtartig einzelne Aspekte dieses langwierigen Prozesses.
5.2. Der geschichtliche Hintergrund des JHWH-Kriegs-Zyklus
Die überwiegende Mehrzahl der Richtererzählungen verdankt ihre literarische Gestalt einem vordeuteronomistischen Verfasser, der als sammelnder Bearbeiter zum Teil auch die Aufgabe eines Autors übernommen hat. Er scheint von der Idee einer JHWH-Kriegs-Renaissance geprägt gewesen zu sein, die den Einfluss von Prophetenkreisen aus dem Nordreich verrät und unter Jehu in der zweiten Hälfte des 9. Jh.s v. Chr. ihren Anfang genommen haben könnte (vgl. Scherer, 2005, 415-418). Nachdem es in der Königszeit zu einer immer weiter voranschreitenden Professionalisierung des Militärapparates gekommen war, ist die religiöse Dimension des Krieges womöglich nicht mehr mit derselben Intensität empfunden worden wie in der Frühzeit. Unter der Dynastie der → Omriden
6. Theologie
6.1. Die theologische Deutung des Krieges
Im Alten Vorderen Orient ist der Krieg wie alle bedeutenden Phänomene der menschlichen Lebenswirklichkeit religiös verstanden und gedeutet worden. Israel und das Alte Testament stellen in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Kam es in Israels Umwelt, namentlich bei den → Assyrern
Von den Texten aus dem Richterbuch repräsentiert das Deboralied eine besonders urtümliche Kriegsauffassung. JHWH und sein Volk kämpfen gemeinsam gegen die Feinde (Ri 5,23
6.2. Das Königtum
Das Königtum ist in verschiedenen Bereichen des Richterbuches von signifikanter Bedeutung. Dabei ist es zur Ausbildung diametral entgegengesetzter Positionen gekommen. Auf der einen Seite des Spektrums steht das theokratische Statement Gideons in Ri 8,22-23
Das Königtum kommt schließlich auch im Abimelech-Kapitel Ri 9 verstärkt in den Blick. In der Jotham-Fabel (v8-15) wird das Verhalten verschiedener Akteure angesichts der Institution des Königtums beschrieben und in Frage gestellt. Während sich die Vertreter der Führungsschicht zu schade dafür sind, dem Gemeinwesen als König vorzustehen, fühlt sich der völlig ungeeignete Dornstrauch geschmeichelt, als man ihm die Königswürde anträgt. Im Kontext des Kapitels wird die gewaltsame Thronusurpation Abimelechs auch vor religiösem Hintergrund problematisiert. Am Ende vergilt Gott ihm das Böse, das er seinen Brüdern angetan hat (v56). Hierin artikuliert sich eine massive Kritik an den Thronwirren des in der zweiten Hälfte des 8. Jh.s seinem Untergang entgegengehenden Nordreichs. Die Institution des Königtums ist vom Scheitern bedroht, wo die Königsherrschaft auf purer Gewalt beruht und keine Legitimation durch den Gott Israels für sich beanspruchen kann.
6.3. Die theologische Deutung der Geschichte
Die Richtererzählungen sind von den Deuteronomisten zu theologischen Geschichtserzählungen ausgebaut worden. Jene haben die ihnen vorgegebenen JHWH-Kriegsschilderungen in ein Konzept integriert, das nicht in erster Linie am einzelnen Kriegsgeschehen interessiert ist, sondern die theologische Dimension des gesamten Geschichtsverlaufs darzustellen und zu erfassen versucht. Auch die Niederlage kann im deuteronomistischen Deutehorizont auf das Handeln JHWHs zurückgeführt werden. Er wirkt nicht nur, indem er seinem Volk Befreiung schenkt, sondern steht auch hinter der Not, die Israel trifft, wenn es seinen Gott verlässt. Der Kreislauf von Abfall, Not und Befreiung erinnert an eine „Spirale“ (Schmidt, 1995, 155), die sich mit wachsender Intensität auf eine Krisis zu bewegt. Vom pessimistischen Zug, der auf diese Weise spürbar wird, bleibt das Vertrauen auf Gottes souveränes Walten in der Geschichte unberührt, da auch der „Misserfolg“ der Israeliten auf nichts anderes als „JHWHs Initiative“ zurückgeführt wird (vgl. Bartelmus, 1993, 28-47).
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Abbildungsverzeichnis
- Simson tötet Löwen (Mosaik in St. Gereon in Köln; 12. Jh.).
- Simson trägt die Torflügel von Gaza weg (Mosaik in St. Gereon in Köln; 12. Jh.).
- Debora und Barak ziehen in die Schlacht (Ri 4f; Psalter des Hl. Ludwig; 13. Jh.).
- Jeftah tötet seine Tochter (Charles Lebrun; 17. Jh.).
- Der siegreiche Simson (Guido Reni; 1575-1642).
- Die Heldentaten Simsons (Kreuzritterbibel Heinrichs IX.; 13. Jh.).
- Delila schneidet Simsons Haar (Lucas Cranach d. Ä.; 1472-1553).
- Simson wird überwältigt (Peter Paul Rubens; 1577-1640).
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