Deutsche Bibelgesellschaft

Ritus / Ritual (Alter Orient)

(erstellt: August 2014)

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1. Definition und Begrifflichkeit

Der komplexe Begriff „Ritual“ lässt sich als „eine in ihrem Ablauf festgelegte religiöse Handlung, deren Durchführung an einen bestimmten Anlaß gebunden ist“ definieren (Sallaberger 2006-2008, 421).

Der Vollständigkeit halber sei hier darauf hingewiesen, dass in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften im Laufe der letzten Jahrzehnte zahlreiche durchaus unterschiedlich nuancierte Definitionen des Ritualbegriffes erarbeitet worden sind (siehe z.B. den Überblick bei Kreinath, Snoek / Stausberg 2007; → Ritual, AT).

Ein Begriff mit einem dahinterstehenden Konzept „Ritual“ existierte in den altorientalischen Sprachen nicht. Phänomene, die heute als „Ritual“ bezeichnet würden, finden sich grundsätzlich in Ritualen und Kultpraktiken und überhaupt allen Lebensbereichen und Lebenssituationen. Als wichtiger Bestandteil vieler Rituale tritt die „Magie“ hervor (→ Magie, Alter Orient).

Viele akkadische Termini, die gemeinhin als Ritual übersetzt werden, beruhen auf dem Wort epēšu „machen / tun“. Zu erwähnen sind hier die Begriffe nēpešu „Tätigkeit / Verfahren“ (auch im Sinne von magischen oder rituellen Verfahren bzw. Verfahrensanweisungen), epištu „Werk / Tat“ (auch zur Bezeichnung von Riten und magischen Machenschaften), upīšū (magische) „Machenschaften“ (negativer Natur, aber auch allgemein rituelle Verfahren bzw. Verfahrensanweisungen) und upšāšû „Aktionen“ (sowohl im Sinne von Behexungen als auch Abwehrhandlungen).

In akkadischen Ritualhandbüchern wird die Verfahrensanweisung oft durch das sumerische Rubrum dù-dù-bi (wörtlich: „die dazugehörigen Handlungen“) eingeleitet; auch bezeugt ist das sumerische Rubrum kìd-kìd-bi „das (dabei) zu Machende“.

Zu der hier nur knapp vorgestellten Terminologie siehe ausführlicher Maul (2009) und Schwemer (2007, 5-21). Letzterer geht auch ausführlich auf die hier nicht besprochenen Termini für Schadenszauber ein. Zu nennen ist hier besonders das Verb kašāpu „behexen“, davon abgeleitet ist der Begriff kišpū „Hexerei / Schadenszauber“.

Einen grundsätzlichen Überblick über zahlreiche Aspekte des Rituals bieten die Lemmata „Magie“, „Medizin“, „Omina und Orakel“, „Opfer“, „Priester“ und „Ritual“ im Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie.

2. Ritualfachleute

In Mesopotamien sind zahlreiche Berufe von Priestern, Ritualfachleuten und Kultfunktionären bezeugt. Zu erwähnen sind insbesondere der Beschwörer (āšipu), der Opferschauer (bārû), der Klagesänger (kalû) und der Musiker / Sänger (nāru). Das Wissen dieser Berufgsgruppen wurde in der Regel innerhalb der Familien weitergegeben. Eine entscheidende Qualifikation für die Ausübung eines entsprechenden Berufes war neben den im Rahmen der Ausbildung erworbenen Fähigkeiten somit die Abstammung aus einer priesterlichen Familie (Lambert 1998; Waerzeggers / Jursa 2008). Die Unterrichtung Außenstehender in Ritualwissen und Divination konnte dementsprechend als ungehörig oder gar als strafwürdig empfunden werden (Luukko / van Buylaere 2002, XXXV-XXXVIII und Nr. 65; Beaulieu 1992).

Angehörige bestimmter Priesterberufe mussten körperlich unversehrt und makellos sein (Waerzeggers / Jursa 2008, 4). Bei Musiker- oder Sängerberufen ist hingegen bezeugt, dass einige ihrer Vertreter blind waren oder sogar geblendet wurden oder dass es sich bei ihnen um Kastraten handelte (Ambos 2006-2008, 500f. § 3).

3. Rituale und Ritualtechniken

3.1. Rituale und ihre Zielsetzungen

Aus Mesopotamien ist ein gewaltiges Corpus von Ritualen überliefert. Bereits von den mesopotamischen Gelehrten wurden Ritualkataloge oder Ritualkompendien wie der „Leitfaden für die Beschwörungskunst“ (Geller 2000; Jean 2006) erstellt. Rituale decken alle Bereiche des Lebens ab. Es gibt Rituale, die bei besonderen Anlässen durchgeführt wurden wie z.B. einem bösen Omen. Es gibt aber auch Rituale des regulären Kults. Bei ihnen handelt es sich um die Versorgung der Götter in ihren Tempeln und um die großen Jahresfeste wie z.B. die Neujahrsfeste. Der folgende Überblick beinhaltet eine repräsentative Auswahl:

● Regulärer Tempelkult, Hege und Pflege des Götterbildes und Feste des kultischen Kalenders (allgemein Cohen 1993; für das 3. Jahrtausend siehe Sallaberger 1993; für das 1. Jahrtausend siehe Menzel 1981, Thureau-Dangin 1921, Linssen 2004; Zgoll 2006).

● Bau und Renovierung von Gebäuden (Tempel, Paläste, Wohnhäuser) (Ambos 2004); Herstellung und Renovierung von Kultbildern (Walker / Dick 2001); Schutz von Gebäuden und ihren Bewohnern durch Anfertigung von apotropäischen Figuren und Zeichnungen (Wiggermann 1992).

● Liebe und Familie: Rituale zur Erlangung von Potenz (Biggs 1967), Liebeszauber (Haas 1999), Geburtshilferituale (Stol 2000), Beruhigung schreiender Babys (Farber 1989); Abwehr der Dämonin Lamaschtu, die Schwangere, Frauen im Kindbett und Babys heimsucht (Farber 2014; → Dämonen).

● Rituale für die Beeinflussung oder Kontrolle des gesellschaftlichen Umfeldes und der sozialen Position sowie des Verhaltens seiner Mitmenschen: Zu nennen ist hier etwa das Ritual „Um in den Palast einzutreten“, das dazu dient, einen freundlichen Empfang des Ritualherrn durch den Fürsten zu gewährleisten; verwandte Rituale sind beispielsweise „Um Zorn zu beruhigen“, „Damit derjenige, der dich sieht, sich bei deinem Anblick über dich freut und jauchzt“, „Um einen Mann aus seiner Vertrauensstellung zu entfernen“, „Damit ein Mann seinen Prozessgegner Mundlähmung bekommen lässt“. Weiterhin existierten beispielsweise Rituale, um Sklaven am Entlaufen zu hindern oder um entlaufene Sklaven zurückkehren zu lassen. Auch bei Liebeszauber (s.o.) handelt es sich letztlich darum, Kontrolle über eine andere Person zu gewinnen. (Siehe einführend in diesen Ritualkomplex Ebeling 1931, 27-44; Schwemer 2007, 66-68, 127-131, 159-162; Scurlock 1989/1990 und 2005/2006).

● Heilung: Medizinische Therapie und Ritual sind als Behandlungsmethoden nicht trennbar; auch unterscheidet sich das altorientalische Konzept von „Krankheit“ von unserer modernen Auffassung (siehe unten und allgemein TUAT.NF 5 mit weiterer Literatur).

● Abwehrrituale gegen Schadenszauber (Schwemer 2007; Abusch / Schwemer 2011).

● Löse-Rituale (Namburbi), um die bösen Folgen eines ungünstigen oder gar unheilvollen Vorzeichens zu lösen, bevor sie eintreten (Maul 1994).

● Reinigungsrituale: Diese sind in besonders ausgefeilter Form für den König bezeugt. Zu nennen ist hier etwa das Ritual „Haus der Waschung“ (bīt rimki) (Farber 1997; Ambos 2013b), das offenbar in Zusammenhang mit dem Ersatzkönigsritual durchgeführt wurde (Parpola 1983, XXII-XXXII). Eine Mond- oder Sonnenfinsternis, bei der Jupiter nicht sichtbar war, kündigte den Tod des Königs an. Dieser dankte daher formal ab und wurde als „Bauer“ bezeichnet, während ein Substitut an seiner Statt auf dem Thron saß und das böse Omen auf sich nahm. Nach Ablauf einer Frist starb das Substitut (oder wurde getötet), und der echte König nahm offiziell die Herrschaft wieder auf. Zu erwähnen ist auch das Ritual „Haus des Wasserversprengens“ (bīt salā’ mê) (Ambos 2008; Ambos 2010; Ambos 2013a). Es wurde regelmäßig im Rahmen des Kultkalenders beim Neujahrsfest im VII. Monat Tašrītu durchgeführt und ging mit einer Investitur des Königs einher. Bīt salā’ mê wurde aber offenbar auch beim Ersatzkönigsritual vollzogen.

3.2. Quellen

Rituale umfassen Handlungen (agenda) und das Vortragen von Beschwörungen, Gebeten, Hymnen und Liedern bzw. Klageliedern (dicenda). Sowohl agenda als auch dicenda wurden in unterschiedlichem Maße verschriftlicht. Für den Bedarf der Ritualexperten existierten teils recht umfangreiche Ritualhandbücher und Ritualkompendien. Auch der Wortlaut von Beschwörungen, Gebeten, Hymnen und Liedern bzw. Klageliedern wurde auf Tafeln festgehalten.

Zu den unterschiedlichen Formen der schriftlichen Fixierung von Ritualen siehe Maul (1994, 157-221) anhand des Beispiels der Löse-Rituale (Namburbi). Eine Anthologie von Ritualen, Gebeten und Beschwörungen und dergleichen bieten TUAT II/2, TUAT II/5 und TUAT.NF Band 4-5 und 7.

In Kommentaren wurden Rituale ausgedeutet und tiefere Sinnebenen erschlossen (Livingstone 1986).

Über Rituale und Magie informieren uns auch Texte aus der Alltagswelt. Zu nennen ist hier etwa die Korrespondenz zwischen den Königen von → Mari und ihren Funktionären aus altbabylonischer Zeit (1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr.) oder der Briefwechsel zwischen den neuassyrischen Königen → Asarhaddon sowie → Assurbanipal und ihren Beratern und Ritualfachleuten (7. Jh. v. Chr.).

Zu den Briefen aus Mari siehe die Reihe „Archives royales de Mari“ (Paris), besonders Durand 1988. Die Korrespondenz der neuassyrischen Könige ist in der Reihe „State Archives of Assyria“ (Helsinki) ediert, siehe hier vor allem Parpola 1993. Eine Studie zu diesen Briefcorpora bietet auch Pongratz-Leisten 1999.

3.3. Ritualtechniken

Aus der unermesslichen Anzahl an Ritualen lässt sich ein Fundus von immer wiederkehrenden rituellen Techniken ermitteln. Gut bezeugt ist der Sachverhalt, dass das Ritual einen Prozesscharakter hat (Maul 1994). Der Sonnengott → Schamasch ist der Hüter von Recht und Gerechtigkeit und fungiert als Richter. Seine „Beisitzer“ sind Ea, der Gott der Weisheit, und dessen Sohn Asalluhi (→ Marduk), der den Menschen das Wissen seines Vaters vermittelt hat (s. 3.4.). Diese Göttertrias gewährleistet den Erfolg der Ritualdurchführung und die Wirksamkeit der Ritualtechniken. Sie ist die göttliche Jury, die über das Anliegen eines Menschen entscheidet, der sich vermittels des Rituals mit einem bestimmten Wunsch (z.B. Heilung, Lösung der Konsequenzen eines bösen Omens etc.) an die Götter wendet.

Ein Ritual setzt sich aus zahlreichen Einzelsequenzen zusammen (im Folgenden vor allem anhand von Ritualen des Beschwörers dargelegt, so wie von Maul 1994 beispielhaft erläutert):

1) Die Vorbereitung der Ritualteilnehmer, die z.B. vor der Ritualdurchführung Speisetabus einhalten müssen und sich zur Erlangung kultischer Reinheit waschen und beräuchern.

2) Die Bereitstellung der für die Ritualdurchführung benötigten Kultmittel (z.B. Weihwasser). Diese werden durch sogenannte Kultmittelbeschwörungen geweiht.

3) Die am Ritual beteiligten Götter werden herbeigerufen und mit einer Speisung (Opfer) bewirtet und mit Wohlgeruch durch Räucherwerk verwöhnt.

4) Trennungsriten dienen zur Befreiung von Krankheit, Übel, Unreinheit etc.: Einschlägige Handlungen sind das Abstreifen des Gewandes, das Abspülen des Körpers, das Schneiden von Haaren und Fingernägeln, die Abgabe von Sperma, das Abreiben des Körpers. Böses wird auch von der belasteten Person auf Träger übertragen, die es mit sich fortnehmen: Als Träger können Tiere, andere Menschen oder Figuren dienen.

5) Analogien, die auf Handlungen und Wortspielen beruhen: Als Beispiel kann etwa das Schälen und Verbrennen einer Zwiebel im Ritual Šurpu (Reiner 1958, 31 Tafel V-VI 60ff.) angeführt werden: So wie die Zwiebel geschält und ins Feuer geworfen wird, sollen Übel und Unreinheit vom betroffenen Menschen entfernt („abgeschält“) und vernichtet werden. Im Ritual „Haus des Wasserversprengens“ (bīt salā’ mê) nimmt der König Vögel der Gattung marratu in die Hand und lässt sie in den Himmel davonfliegen, um auf diese Weise den Zorn der Götter zu beruhigen und das daraus resultierende Übel zu entfernen (Ambos 2010, 25 und 2013a, 46). Die Analogie beruht auf einem Wortspiel und der Handlung selbst: Dem Wortspiel liegt die Tatsache zugrunde, dass marratu auch „das Bittere“ bedeutet. Indem der König Vögel dieses Namens davonfliegen lässt, befreit er sich von Bitternis, die auf ihm lastet. Der Handlung liegt die Analogie zugrunde, dass der König die gefangenen Vögel nicht tötet, sondern verschont und freilässt – ebenso will der König vom Zorn der Götter verschont werden und weiterleben.

6) Wiedereingliederungsriten: Der Ritualherr zieht sich ein reines, neues Gewand an. Die Rückkehr in die Gesellschaft wird durch einen Kneipenbesuch zum Abschluss des Rituals vollzogen.

Diese Aktionen waren für die Menschen des Alten Orients keine feierlichen oder symbolischen Handlungen, sie waren als wirksame Techniken und Verfahren ein Mittel zum Zweck (Ambos 2010).

Auf viele Rituale, die der Befreiung eines Menschen von Unheil, Unreinheit, Krankheit und dergleichen dienten, lässt sich A. van Genneps Konzept der Übergangsrituale anwenden (1909).

Eine Person wurde anfällig für Krankheit, wenn sich ihre Schutzgötter von ihr abgewendet hatten. Der betroffene Mensch geriet nun in jederlei Hinsicht in einen Ausnahmezustand, eine liminale Phase: Er war hilflos der Einwirkung von als Dämonen aufgefassten Krankheitserregern ausgeliefert, die seine physische und psychische Gesundheit bedrohten. Der Mensch musste aber auch mit sozialen und ökonomischen Konsequenzen rechnen: Er lief Gefahr, seine bislang innegehabte Position in der Gesellschaft zu verlieren und bei seinen geschäftlichen Aktivitäten ständigen Misserfolg und Verluste zu erleiden. Das altorientalische Konzept von „Krankheit“ umfasst also nicht nur physische und psychische, sondern auch soziale und ökonomische Symptome, wie aus der folgenden Diagnose aus einem Ritualhandbuch deutlich wird (Farber 1977, 65 Z. 4-12):

„Wahnsinn hat ihn ergriffen, an Schüttelfrost leidet er, Wutausbrüche, Zorn, Groll von Gott und Göttin besteht ihm gegenüber, seine Ohren dröhnen, er hat Verstörungsanfälle, das Wort, das er spricht, vergisst er, redet immer mit sich selbst vor sich hin, (…), ist wankelmütig, kann sich zu nichts entschließen, ändert dauernd seine Absicht, ihm entstehen immer und überall Einbußen, nachts überkommt ihn Schrecken, den ganzen Tag über lastendes Schweigen, zu Haus erwartet ihn Unfriede, auf der Straße Streit, dem, der ihn trifft, fällt er zur Last, er steht unter dem Fluch aus dem Mund vieler Leute, einer Göttin gegenüber gibt er sich mit gemeinen Gedanken ab: Was diesen Menschen anbetrifft, so lastet Zorn von Gott und Göttin auf ihm.“

Rituale, die der Befreiung eines Menschen von Unreinheit, Krankheit und dergleichen dienten, fanden in der Regel an einem abgelegenen, schwer zugänglichen Ort statt (etwa auf dem Dach eines Hauses oder aber in der Steppe, d.h. außerhalb des bewohnten Kulturlandes). Nach Abschluss der Ritualdurchführung konnte der Mensch wieder aus seiner liminalen Position in seine vorübergehend verlorene oder bedrohte gesundheitliche, soziale und ökonomische Stellung zurückkehren. Als augenfälliger abschließender Angliederungsritus, der die Person wieder in die Gesellschaft zurückführt, wird in Ritualtexten ein Kneipenbesuch und der Kontakt mit den dort anwesenden Gästen genannt (Maul 1994, 101-106).

3.4. Die Vermittlung von Ritualtechniken durch die Götter

Die Ritualtechniken wurden den Menschen von dem in Eridu ansässigen Gott der Weisheit Enki / Ea vermittelt. Derjenige, der den Menschen das Wissen Enkis / Eas überbringt, ist dessen Sohn Asalluhi (Marduk). Dieser Sachverhalt ist ein fester Topos in vielen Beschwörungen, die einen Dialog zwischen den beiden Göttern Enki / Ea und Asalluhi / Marduk enthalten. Im Rahmen dieses Gespräches, der sogenannten „Marduk-Ea-Formel“, erläutert Enki / Ea seinem Sohn, der sich ratsuchend an ihn gewendet hat, die zur Behebung des relevanten Problems benötigten Ritualhandlungen. Beschwörungen dieser Art bilden nach Falkenstein (1931) den sogenannten „Marduk-Ea-Typ“. Im Folgenden sei dies durch ein Beispiel erläutert (Römer 1987, 196-199):

1. Einleitungsthema: Das Problem, das ein Ritual erforderlich macht – in dem hier zitierten Fall wird ein Mensch von Dämonen befallen und erkrankt deshalb:

Der böse Udug, der die stillen Straßen schwer (zu begehen) macht, der insgeheim einhergeht (…), der böse galla-Dämon, der in der Steppe losgelassen ist, (es folgen die Namen zahlreicher weiterer Dämonen und Krankheiten), haben den rastlos hin und her gehenden Menschen wie ein Sturm gelähmt, ihn in seine Galle getaucht, der besagte Mensch geht ‚jenseits seines Lebens’ herum, wie eine Wasserflut wogt er, kann weder Speise essen noch Wasser trinken, verbringt in ‚Weh und Ach!’ die Tage.

2. Die Marduk-Ea-Formel: Asalluhi (Marduk) sieht das Problem und wendet sich an seinen Vater Enki (Ea) mit der Bitte um Rat, den dieser ihm auch erteilt:

Asalluhi sah (es), trat zu seinem Vater Enki ins Haus ein (und) spricht zu ihm: „Mein Vater, der böse Udug, der wie auf den stillen Straßen insgeheim einhergeht (…), der böse galla-Dämon, der in der Steppe losgelassen ist, (…), haben den rastlos hin und her gehenden Menschen wie ein Sturm gelähmt, ihn in seine Galle getaucht, der besagte Mensch geht ‚jenseits seines Lebens’ herum.“ Nachdem er es wiedererzählt hatte, (fuhr er fort): „Was ich dagegen tun soll, weiß ich nicht, was wird ihn dabei beruhigen?“ Enki antwortet seinem Sohne Asalluhi: „Mein Sohn, was weißt du nicht, was könnte ich dir hinzufügen? Asalluhi, was weißt du nicht, was könnte ich dir hinzufügen? Das, was ich weiß, weißt auch du, gehe, mein Sohn Asalluhi!“

3. Die Ritualanweisungen zur Behebung des Problems:

Nachdem du Wasser in ein Anzam-Gefäß gegossen hast, eine(n) Tamariske(nzweig) (und) Seifenkraut darein geworfen hast – du rezitiertest die Beschwörung von Eridu (darüber) – nachdem du es auf den betreffenden Menschen gesprengt hast, ein Räucherbecken (und) eine Fackel für ihn herausgebracht hast,

4. Schlussthema als Nachsatz des vorausgehenden Rituals – die Behebung des Problems:

möge sich der Namtar-Dämon, der sich im Körper des Menschen befindet, entfernen. (…)

In den Beschwörungen vom sogenannten „Legitimationstyp“ bezieht sich der Ritualfachmann ausdrücklich darauf, von Gott Enki / Ea gesandt worden zu sein (Römer 1987, 191-194):

Ich bin der Beschwörungspriester, der Obertempelverwalter des Enki, der Herr (Enki) hat mich zu ihm (dem Kranken) gesandt, mich hat er (als) Boten im (Tempel) E’engurra zu ihm gesandt. Hinter mir her sollst du (der betreffende Dämon) nicht brüllen, hinter mir her sollst du nicht schreien, (…) dem Kranken sollst du dich nicht (mehr) nähern, zum Kranken sollst du nicht (mehr) zurückkehren! (…)

Auch die Divinationstechniken wurden den Menschen durch die Götter vermittelt. Dem vorsintflutlichen König Enmeduranki von Sippar wurden die Geheimnisse der Ölwahrsagung in der Versammlung der Götter gelehrt (Lambert 1998).

3.5. Fehler im Ritual und ihre Behebung

Verweigern die Götter die Mitwirkung und Teilnahme im Ritual, so läuft dessen Durchführung ins Leere, der angestrebte Erfolg bleibt aus. Aber auch Fehler und Versehen der am Ritual beteiligten Menschen (also der Ritualexperten und ihrer Klienten) bewirken, dass ein Ritual scheitert. Siehe dazu die ausführliche Diskussion → Magie (Alter Orient) § 5.

4. Kritik am Ritual

Kritik an der Wirkung von rituellen Handlungen ist im Alten Orient auf unterschiedlichen Ebenen bezeugt (Ambos 2007).

Es gibt Kritik an spezifischen (inkorrekten oder fehlerhaften) Ritualdurchführungen oder gegenüber neuen Ritualen: So kritisieren beispielsweise Ritualfachleute in neuassyrischer Zeit in den Briefen an ihre Könige Asarhaddon und Assurbanipal die Inkompetenz ihrer Kollegen oder weisen auf die Wirkungslosigkeit neu eingeführter Rituale hin, die nicht von sich beanspruchen können, in der Urzeit den Menschen von den Göttern selbst vermittelt worden zu sein.

Daneben findet sich aber auch eine Kritik, die den Nutzen Ritual und Divination grundsätzlich in Zweifel zieht. Dieser Ansicht zufolge reagieren die Götter nicht (oder zumindest nicht auf eine von den Menschen angestrebte Art und Weise) auf die Rituale, Gebete, Opfer oder frommes gottesfürchtiges Verhalten der Menschen. Diese Fundamentalkritik wurde jedoch niemals zu einem kohärenten Gedankengebäude entwickelt oder schriftlich niedergelegt. Sie wird in der sogenannten „Weisheitsliteratur“ und in anderen Texten bei dem Versuch, sie zu widerlegen, reflektiert (Lambert 1960 [Reprint 1996]; von Soden 1990).

Literaturverzeichnis

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