Rut / Rutbuch
Andere Schreibweise: Ruth
(erstellt: Oktober 2006)
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1. Inhalt
Im Alten Testament erzählt das Buch Rut von einer aus Betlehem stammenden Familie mit zwei Söhnen, die vor einer Hungersnot in Moab Zuflucht sucht und dort gastlich aufgenommen wird (→ Frauen in der Literatur des AT
2. Das Rutbuch – ein literarisches Kunstwerk
Die nur vier Kapitel umfassende Ruterzählung gilt als Meisterwerk der hebräischen Erzählkunst. Die so leicht zu lesende Geschichte ist vom literarischen Gesichtspunkt her bis ins kleinste Detail durchdacht.
2.1. Sprechende Namen
Dass die Handlungsträgerinnen und -träger des Rutbuches nicht als historische, sondern vielmehr als literarische Gestalten zu verstehen sind, wird durch den flächendeckenden Gebrauch von sprechenden Eigennamen deutlich gemacht:
• Der Mann אֱלִימֶלֶךְ, Elimelech, „[mein] Gott ist König“ lebt in der Übergangszeit von den Richtern zum Königtum (Rut 1,1
• Seine Frau נָעֳמִי, Noomi, „Liebe“, erklärt in Rut 1,20
• Ihre beiden Söhne, מַחְלוֹן, Machlon, „Kränklicher“, und כִּלְיוֹן Kiljon, „Schwächlicher“ (Zenger, 1986, 34: „Schwächlich“ und „Gebrechlich“), haben es bereits im Namen, dass sie todgeweiht sind,
• wohingegen bei בּוֹעַז, Boas, „in ihm ist Kraft / der Potente“, schon im Namen deutlich wird, dass er zur Zeugung von Nachkommenschaft und Fortsetzung der Judagenealogie fähig sein wird.
• Die eine Schwiegertochter Noomis, עָרְפָּה, Orpa, „die den Rücken Kehrende“ (Rut 1,14
• Auch der nächststehende Löser, der in Rut 4 auf sein Leviratsrecht verzichtet, פְּלוֹנִי אַלְמוֹנִי, Peloni-Almoni, „Namenlos / xy / So-und-so“ (Rut 4,1
• Das Kind עוֹבֵד, Obed, „Diener / Knecht“, dient den beiden kinderlosen Witwen zur vollen Integration in die Volksgemeinschaft.
• In בֵּית־לֶחֶם, Betlehem, das etymologisch korrekt wohl „Haus des [Kriegsgottes] Laham“ bedeutet, im Rutbuch jedoch offensichtlich von לֶחֶם læḥæm „Brot“ hergeleitet „Brothausen“ bedeutet, da JHWH hier nach der Hungersnot wieder Brot gibt (Rut 1,6
• Einzig und allein der Name der Hauptfigur רוּת, Rut, ist von seiner Etymologie her nicht eindeutig. Er kann als ein moabitischer Name gedeutet oder als „Labsal“ von רוה, „satt sein / machen“, hergeleitet werden. Die beliebteste Deutung mit „Freundin / Gefährtin / Nächste“, von רְעוּת (bereits → Peschitta
2.2. Aufbau des Buches und sein Leitwortstil
Das Rutbuch besticht durch seinen durchkomponierten chiastischen Aufbau (vgl. dazu ausführlicher Fischer, 2005, 24-33 mit Schaubild S. 25; vgl. Tabelle 1), in dem sich unter vielfältigen Gesichtspunkten die Außenkapitel und die Innenkapitel entsprechen:
In Rut 1 und Rut 4 steht Noomi als Hauptfigur im Zentrum des Handelns; beide Kapitel stellen als erzählte Zeit die Richterzeit vor (Rut 1,1
In Rut 2 und Rut 3 ist die Hauptfigur Rut. Von der Zeitstruktur her sind die beiden Kapitel polar aufeinander hingeordnet: Rut 2 verfolgt den ersten Tag der Nachlese, Rut 3 die letzte Nacht. Entsprechend verlässt Rut in Kap. 2 Noomi am Morgen, um abends wieder zu ihr zurückzukehren; in Kap. 3 ist es genau umgekehrt. Anfang und Schluss der beiden Kapitel sind durch Gespräche der beiden Frauen geprägt, wobei die einleitenden auf das sodann erzählte Vorhaben vorausblicken (Rut 2,2
In allen Kapiteln steht an zentraler Stelle ein Dialog der jeweiligen dominanten Handlungsfigur (Rut 1,8-17
Zudem besticht das Buch durch einen auffälligen Leitwortstil, der als Leseführung dient (vgl. dazu ausführlicher Fischer, 2005, 36-40). Jedes Kap. hat ein zentrales Leitwort, das das Geschehen deutet: In Rut 1 ist dies שׁוב šûb „zurückkehren“, in Rut 2 לקט laqaṭ „(Ähren) lesen“, in Rut 3 das nächtliche שׁכב šakab „sich hinlegen“ und in Rut 4 das schon ab Kap. 3 präsente גאל ga’al „lösen“. Das sonst als Allerweltswort verwendete „gehen“ zeichnet den Lebensweg Ruts nach. Die beiden Deuteworte חֶסֶד ḥæsæd „Güte“ (Rut 1,8
3. Sozialrechtliche Bedeutung des Buches
3.1. Weibliche Sichtweise
Das Rutbuch thematisiert wie kein anderes biblisches Buch weibliche Lebenszusammenhänge in authentischer Weise (siehe ausführlicher Fischer, 1999, 25-33). Es stellt die erzählten Ereignisse durchgängig aus Frauenperspektive dar und weicht dabei selbst in seinem Sprachgebrauch von der androzentrischen Sichtweise der Realität ab, indem es etwa das Elternhaus nicht – wie im Alten Testament üblich – als „Vaterhaus“, sondern als „Mutterhaus“ (Rut 1,8
Das Rutbuch sieht auch die beiden in der Tora androzentrisch dargestellten Rechtsinstitutionen der Lösung und des Levirats als verwandtschaftliche Solidaritätsverpflichtung zugunsten von Frauen (s.u.). Die wirklich tragende Lebensgemeinschaft für die Hauptakteurin ist nicht die Ehe mit Boas, sondern jene durch Schwur bestätigte mit ihrer Schwiegermutter (Rut 1,16f
Sowohl Boas als auch Noomi versuchen Rut vor sexueller Belästigung durch die Landarbeiter zu bewahren (Rut 2,8-9
In den Hochzeitswünschen (Rut 4,11-12
Die Frauen von Betlehem (Rut 4,14-15
Die Weltsicht des Rutbuches ist also eindeutig und durchgängig weiblich. Und nach dieser Weltsicht wird auch die narrative und die legislative Tradition der Tora mit der Option für Frauen rezipiert.
3.2. Rechtsstatus von Witwen
Da die Ehe in Alt-Israel virilokal, d.h. im Haus des Ehemannes gelebt wird, müssen Frauen bei der Eheschließung ihr Herkunftshaus verlassen. Sie gehen daher ihren Eltern für die Altersfürsorge verloren, weil sie die Eltern des Mannes zu versorgen haben. Keine Söhne zu haben, bedeutet daher im Falle der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit soziale Unsicherheit. Dies gilt umso mehr für Witwen, denen der Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen wahrscheinlich nur dann zugestanden wurde, wenn keine Brüder des Verstorbenen mehr das Familienerbe beanspruchten.
Diese sozial ungesicherte Lage von kinderlosen Witwen, die noch dazu dadurch verschärft wird, dass beide Emigrantinnen sind (vgl. dazu auch 2Kön 8,1-6
3.3. Fremde und fremdstämmige Ehefrauen
Das Rutbuch thematisiert Fremde und Fremdsein von zwei Seiten her: Einerseits wird deutlich, dass die Integration von judäischen Wirtschaftsflüchtlingen im Nachbarland Moab unproblematisch verläuft, da von keinerlei Schwierigkeit, sondern sogar von Einheirat der Söhne erzählt wird. Andererseits wird Rut als in Juda fremde Ausländerin vorgestellt, die um sich und ihre Schwiegermutter versorgen zu können, das Armenrecht der Nachlese (vgl. Dtn 24,19-22
Dtn 23,4-7
In Neh 13,1ff
3.4. Levirat
Die Rechtsinstitution der sog. „Schwagerehe“ sieht nach Dtn 25,5-10
• In Gen 38
• Im Rutbuch wird zweimal auf Dtn 25,5ff
3.5. Die Institution des Lösers
Die in Lev 25,23ff
In der Tora gibt es keine Verbindung zwischen diese beiden Institutionen der verwandtschaftlichen Solidaritätsverpflichtung. Sie wird im Rutbuch ad hoc durch die ausländische Frau Rut geschaffen, als sie in der nächtlichen Szene auf der Tenne den Verwandten um die Ehe bittet und dies mit der Tatsache, dass er Löser ist, begründet (Rut 3,9
4. Fragen der Entstehungsgeschichte und der literarischen Form
4.1. Ein Buch aus einem Guss?
Ob das Buch Rut aus einer Hand stammt oder zu einem späten Zeitpunkt durch die Zufügung der Zeitangaben in Rut 1,1
4.2. Das Buch Rut als schriftauslegende Literatur
Die Bezeichnung des Rutbuches als das „lieblichste kleine Ganze … das uns episch und idyllisch überliefert worden ist“, die von J.W. von Goethe im west-östlichen Divan (Goethe, Ausgabe 1986, 129) formuliert wurde, beeinflusst bist heute die Gattungsbestimmung des Rutbuches. Jürgen Ebach hat wie kein Exeget vor ihm mit der Forschungstradition gebrochen, die das Rutbuch als liebliche Idylle beschreibt. Er erweist die androzentrische Auslegungstradition als Trivialisierung dieses Buches, in dem zwei Frauen um das Überleben kämpfen. Ausschließlich das Geschlecht der beiden Hauptakteurinnen bedingt die Verniedlichung dieser Geschichte, die dem im Buch Ijob Erzählten um nichts nachsteht.
Die neuere deutschsprachige (Kommentar-)Literatur lässt sich grob dadurch charakterisieren, dass sie überwiegend novellenartigen Charakter annimmt. Die angloamerikanische Forschung hat sich hingegen häufig für die spezifisch englische Gattungsbezeichnung „short story“ entschieden (einen Überblick bietet Hubbard, 1988, 47f), deren Sinn nicht bloß Unterhaltung, sondern auch Belehrung sein könne, in gehobener Prosa verfasst sei, Interesse an typischen Personen im Alltagsleben habe und gewisse historische Informationen beinhalten könne.
Alle diese zur Bestimmung der Gattung erhobenen Charakteristika beobachten Richtiges; aber es ist zu bezweifeln, ob sie das Rutbuch in all seinen Sinndimensionen erfassen. Das Buch ist kein Stück – wenn auch gehobener – erbauender „Unterhaltungsliteratur“, sondern steht mit zahlreichen Erzähl- und Rechtstexten sowohl der → Tora
Rut 1 führt den Moabiterparagraphen ad absurdum und legt die Erzählungen um die Preisgabe der Ahnfrauen, Gen 12,10ff
Rut 2 legt die Bestimmungen für die Armenrechte aus (Lev 19,9
Das 3. und 4. Kapitel legen die Rechtstexte um Levirat (Dtn 25,5ff
Rut 4 nimmt in den Glückwünschen sowohl auf Gen 29f als auch auf Gen 38 Bezug, indem die Gründung der Genealogie durch die drei Frauen Rahel, Lea und Tamar vorgestellt wird. Mit der Davidsgeschichte setzt sich nicht nur der Rutschluss mit der Genealogie (Rut 4,17
So zeigt sich, dass das Rutbuch die erzählerische Lücke zwischen den Erzeltern- und den Davidserzählungen schließen will und dabei bewusst das Kolorit beider Textsammlungen aufgreift. So schreibt es Volksgeschichte Israels und legt dabei die Rechtstraditionen Israels zugunsten von (fremden) Frauen lebensförderlich aus.
4.3. Intention und Entstehungszeit des Buches
Die Kenntnis der erzählerischen Tradition des Volkes sowie der Gesetzestexte und deren gezielte Anwendung auf eine aktuelle Situation lässt darauf schließen, dass das Rutbuch in gebildeten Kreisen in fortgeschrittener nachexilischer Zeit verfasst wurde. Wenn die narrative und unpolemische Argumentation gegen den Moabiterparagraphen eine Fährte zum Sitz im Leben und zu den Trägerkreisen solcher Theologie legt, dann wird man auf offensichtlich schriftgelehrte Kreise, die am Nehemiabuch arbeiten, verwiesen. Sie argumentieren in Neh 13,1-3
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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2. Kommentare
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3. Weitere Literatur
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- Butting, Klara, 1994, Die Buchstaben werden sich noch wundern (Alektor-Hochschulschriften), Berlin
- Ebach, Jürgen, 1995, Fremde in Moab – Fremde aus Moab, in: Ebach, Jürgen / Faber, Richard (Hg.), Bibel und Literatur, München, 277-304
- Fischer, Irmtraud, 1999, The Book of Ruth: A ‘Feminist’ Commentary to the Torah?, in: Athalya Brenner (Hg.), Ruth and Ester (FCB 2/3), Sheffield, 24-49
- Goethe, Johann Wolfgang von, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans, in: Ders., West-östlicher Divan, hg. v. Hans-J. Weitz, Frankfurt 1986
- Korpel, Marjo, 2001, The Structure of the Book of Ruth (Pericope 2), Assen
- Trible, Phyllis, 1993, Gott und Sexualität im Alten Testament (GTBS 539), Gütersloh
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