Deutsche Bibelgesellschaft

Rut / Rutbuch

Andere Schreibweise: Ruth

(erstellt: Oktober 2006)

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1. Inhalt

Im Alten Testament erzählt das Buch Rut von einer aus Betlehem stammenden Familie mit zwei Söhnen, die vor einer Hungersnot in Moab Zuflucht sucht und dort gastlich aufgenommen wird (→ Frauen in der Literatur des AT 4.1 und 10.1). Da alle drei Männer sterben, entschließt sich die kinderlos gewordene Witwe Noomi, allein nach Juda zurückzukehren. Ihre beiden moabitischen Schwiegertöchter hängen an ihr und die eine, Rut, lässt sich nicht dazu überreden, im eigenen Land zu bleiben, sondern verlässt mit Noomi ihr Herkunftsland Moab. Mit einem Schwur bindet sie sich lebenslang an die Schwiegermutter, die sie liebt (Rut 1,16-17; Rut 4,15). Aber in Betlehem angekommen gilt Rut als Ausländerin. Die beiden Frauen schaffen es von sich aus, sich in die judäische Gesellschaft zu (re-)integrieren. Die Moabiterin Rut wird schließlich als vollwertiges Mitglied des jüdischen Volkes anerkannt und zur Ahnfrau König Davids – und damit auch zu einer der Stammmütter Jesu (Mt 1,5; vgl. Lk 3,31-33).

2. Das Rutbuch – ein literarisches Kunstwerk

Die nur vier Kapitel umfassende Ruterzählung gilt als Meisterwerk der hebräischen Erzählkunst. Die so leicht zu lesende Geschichte ist vom literarischen Gesichtspunkt her bis ins kleinste Detail durchdacht.

2.1. Sprechende Namen

Dass die Handlungsträgerinnen und -träger des Rutbuches nicht als historische, sondern vielmehr als literarische Gestalten zu verstehen sind, wird durch den flächendeckenden Gebrauch von sprechenden Eigennamen deutlich gemacht:

• Der Mann אֱלִימֶלֶךְ, Elimelech, „[mein] Gott ist König“ lebt in der Übergangszeit von den Richtern zum Königtum (Rut 1,1; Rut 4,22).

• Seine Frau נָעֳמִי, Noomi, „Liebe“, erklärt in Rut 1,20 selber ihren Namen und will nach dem Tod von Mann und Söhnen gegenteilig mit מָרָא, Mara, „Bittere“, benannt werden.

• Ihre beiden Söhne, מַחְלוֹן, Machlon, „Kränklicher“, und כִּלְיוֹן Kiljon, „Schwächlicher“ (Zenger, 1986, 34: „Schwächlich“ und „Gebrechlich“), haben es bereits im Namen, dass sie todgeweiht sind,

• wohingegen bei בּוֹעַז, Boas, „in ihm ist Kraft / der Potente“, schon im Namen deutlich wird, dass er zur Zeugung von Nachkommenschaft und Fortsetzung der Judagenealogie fähig sein wird.

• Die eine Schwiegertochter Noomis, עָרְפָּה, Orpa, „die den Rücken Kehrende“ (Rut 1,14) wird durch ihren Namen als gehorsame Zurückkehrende vorgestellt.

• Auch der nächststehende Löser, der in Rut 4 auf sein Leviratsrecht verzichtet, פְּלוֹנִי אַלְמוֹנִי, Peloni-Almoni, „Namenlos / xy / So-und-so“ (Rut 4,1; vgl. 2Kön 6,8), hat einen sprechenden Namen: Da er nicht bereit ist, dem Verstorbenen den Namen zu erhalten, wird sein eigener anonymisiert (vgl. Rut 4,5.10).

• Das Kind עוֹבֵד, Obed, „Diener / Knecht“, dient den beiden kinderlosen Witwen zur vollen Integration in die Volksgemeinschaft.

• In בֵּית־לֶחֶם, Betlehem, das etymologisch korrekt wohl „Haus des [Kriegsgottes] Laham“ bedeutet, im Rutbuch jedoch offensichtlich von לֶחֶם læḥæm „Brot“ hergeleitet „Brothausen“ bedeutet, da JHWH hier nach der Hungersnot wieder Brot gibt (Rut 1,6).

• Einzig und allein der Name der Hauptfigur רוּת, Rut, ist von seiner Etymologie her nicht eindeutig. Er kann als ein moabitischer Name gedeutet oder als „Labsal“ von רוה, „satt sein / machen“, hergeleitet werden. Die beliebteste Deutung mit „Freundin / Gefährtin / Nächste“, von רְעוּת (bereits → Peschitta) ist etymologisch jedoch problematisch (siehe ausführlicher Fischer, 2005, 34f).

2.2. Aufbau des Buches und sein Leitwortstil

Das Rutbuch besticht durch seinen durchkomponierten chiastischen Aufbau (vgl. dazu ausführlicher Fischer, 2005, 24-33 mit Schaubild S. 25; vgl. Tabelle 1), in dem sich unter vielfältigen Gesichtspunkten die Außenkapitel und die Innenkapitel entsprechen:

Rut 1

In Rut 1 und Rut 4 steht Noomi als Hauptfigur im Zentrum des Handelns; beide Kapitel stellen als erzählte Zeit die Richterzeit vor (Rut 1,1; Rut 4,17.21-22) und in beiden nehmen die Frauen von Betlehem deutend Anteil am Schicksal Noomis (Rut 1,19b-21; Rut 4,14-17). In beiden Kapiteln scheidet eine Figur aus der Handlung aus (Orpa; der nächste Löser).

In Rut 2 und Rut 3 ist die Hauptfigur Rut. Von der Zeitstruktur her sind die beiden Kapitel polar aufeinander hingeordnet: Rut 2 verfolgt den ersten Tag der Nachlese, Rut 3 die letzte Nacht. Entsprechend verlässt Rut in Kap. 2 Noomi am Morgen, um abends wieder zu ihr zurückzukehren; in Kap. 3 ist es genau umgekehrt. Anfang und Schluss der beiden Kapitel sind durch Gespräche der beiden Frauen geprägt, wobei die einleitenden auf das sodann erzählte Vorhaben vorausblicken (Rut 2,2; Rut 3,1-5) und die abschließenden das Geschehen deuten sowie einen Ausblick auf das nächste Kapitel geben (Rut 2,19-23; Rut 3,16-18).

In allen Kapiteln steht an zentraler Stelle ein Dialog der jeweiligen dominanten Handlungsfigur (Rut 1,8-17; Rut 2,4-16; Rut 3,9-15; Rut 4,2-12), die in einer Schlüsselstelle gipfelt, in der eine verbindliche Lebensentscheidung getroffen wird (Rut 1,16f; Rut 2,11; Rut 3,13; Rut 4,9).

Zudem besticht das Buch durch einen auffälligen Leitwortstil, der als Leseführung dient (vgl. dazu ausführlicher Fischer, 2005, 36-40). Jedes Kap. hat ein zentrales Leitwort, das das Geschehen deutet: In Rut 1 ist dies שׁוב šûb „zurückkehren“, in Rut 2 לקט laqaṭ „(Ähren) lesen“, in Rut 3 das nächtliche שׁכב šakab „sich hinlegen“ und in Rut 4 das schon ab Kap. 3 präsente גאל ga’al „lösen“. Das sonst als Allerweltswort verwendete „gehen“ zeichnet den Lebensweg Ruts nach. Die beiden Deuteworte חֶסֶד ḥæsæd „Güte“ (Rut 1,8; Rut 2,20; Rut 3,10) und עזב ‘azab „verlassen“ (Rut 1,16; Rut 2,11.20) verbinden Rut mit JHWH und stellen die moabitsche Frau damit als Mensch vor, der das Ethos der Gottheit Israels verwirklicht.

3. Sozialrechtliche Bedeutung des Buches

3.1. Weibliche Sichtweise

Das Rutbuch thematisiert wie kein anderes biblisches Buch weibliche Lebenszusammenhänge in authentischer Weise (siehe ausführlicher Fischer, 1999, 25-33). Es stellt die erzählten Ereignisse durchgängig aus Frauenperspektive dar und weicht dabei selbst in seinem Sprachgebrauch von der androzentrischen Sichtweise der Realität ab, indem es etwa das Elternhaus nicht – wie im Alten Testament üblich – als „Vaterhaus“, sondern als „Mutterhaus“ (Rut 1,8) bezeichnet und die Familie nicht über den Mann, sondern über die Frau definiert (vgl. z.B. Rut 1,3-5: „ihr Mann“ und „ihre Söhne“, nicht seine Witwe und Söhne; Gott und Volk werden in Rut 1,10.16 über Noomi definiert) oder sogar die Öffentlichkeit von Betlehem weiblich darstellt (Rut 1,19). Rut verlässt auch nicht nur den Vater, als sie sich entschließt, mit Noomi zu gehen, sondern auch die Mutter (Rut 2,11).

Das Rutbuch sieht auch die beiden in der Tora androzentrisch dargestellten Rechtsinstitutionen der Lösung und des Levirats als verwandtschaftliche Solidaritätsverpflichtung zugunsten von Frauen (s.u.). Die wirklich tragende Lebensgemeinschaft für die Hauptakteurin ist nicht die Ehe mit Boas, sondern jene durch Schwur bestätigte mit ihrer Schwiegermutter (Rut 1,16f). Zur Deutung der Beziehung der beiden Frauen wird daher auf den sog. „Bräutigamsjubel“ von Gen 2,24 zurückgegriffen (vgl. Rut 2,11: „Vater und Mutter verlassen“).

Sowohl Boas als auch Noomi versuchen Rut vor sexueller Belästigung durch die Landarbeiter zu bewahren (Rut 2,8-9.16.22), indem sie der jungen Frau empfehlen, sich an die arbeitenden Frauen auf dem Feld des Boas zu halten. Texte, die weibliche Lebenszusammenhänge authentisch darstellen, sind auch daran zu erkennen, dass sie weibliche Sexualität bewusst thematisieren. Ausdrücklich wird in Rut 2,23 betont, dass Rut die ganze Erntezeit in weiblicher Gemeinschaft verbringt. Die Stellung dieser beiläufigen Bemerkung ist kein Zufall, denn unter diesem Blickwinkel ist das durchaus zweideutige Kapitel Rut 3 zu lesen, in dem Noomi ihrer verwitweten Schwiegertochter empfiehlt, nachts auf die Tenne zu gehen, sich an die Beine des Boas zu legen und sodann zu tun, was er ihr sagen werde (Rut 3,3-4). Auch wenn betont wird, dass Rut ihr Gehorsam verspricht (Rut 3,5), weicht sie an entscheidender Stelle von Noomis Auftrag ab: Am Höhepunkt der erotischen Spannung auf der Tenne sagt Rut ihm, was er zu tun hat. Wenn sie für sich die Ehe und für ihre Schwiegermutter die „Lösung“ erbittet, bleibt Rut dem Versprechen an Noomi treu, da sie damit einen Weg konstruiert, der Noomi mit ins Haus des neuen Ehemannes führt. Boas handelt wie Rut es will, aber vor den Ältesten der Stadt argumentiert er mit der androzentrischen Sichtweise des Rechts (Rut 4,5.10; vgl. Dtn 25,5ff), um der von Rut vorgeschlagenen Halacha der Verbindung beider Gesetze gültige Anerkennung zu verschaffen.

In den Hochzeitswünschen (Rut 4,11-12) definieren die Ältesten und das ganze Volk die Genealogie des Volkes Israel weiblich: Nicht Israel/Jakob hat das Volk aufgebaut, sondern Rahel und Lea, die beiden Frauen. Rut wird mit der unkonventionellen Ahnfrau des Hauses Juda, mit Tamar, verglichen, die gegen den Willen ihres Schwiegervaters mit ihm das Haus Juda gegründet hat (vgl. Gen 38). Wenn das Volk in diesem Zusammenhang nicht wie üblich vom Samen des Mannes, sondern vom „Samen der jungen Frau“ spricht, verstärkt dies die Sichtweise der Gründung einer Genealogie durch die Frau. Eine Schwiegertochter wie Rut ist daher nicht nur mehr wert als ihre beiden verstorbenen Söhne, sondern mehr wert als sieben Söhne.

Die Frauen von Betlehem (Rut 4,14-15) bezeichnen den Sohn Ruts, der die Wiedereingliederung in die Gesellschaft für Noomi ermöglicht, deswegen als Löser, weil die solidarische Rut ihn geboren hat. So gebiert Rut ihr Kind nicht für ihren verstorbenen Mann, wie es das → Levirat vorsehen würde, oder für ihren Mann Boas, wie es in patriarchalen Gesellschaften normalerweise heißt. Rut 4,17 konstatiert, dass das Kind für eine Frau, für Noomi, geboren wird. Das Schlussbild des Rutbuches kommt damit nicht der Verwirklichung der patriarchalen Idealvorstellung der Mutter mit dem männlichen Kind an der Brust gleich, sondern stellt die einzig realistische Möglichkeit der sozialen Integration zweier kinderloser Witwen in eine Gesellschaft dar, die Frauen über den Mann definiert und materielle Ressourcen, die das Überleben sichern, an männlichen Erbbesitz bindet. Das Buch Rut analysiert diese Strukturen mit einem genderkritischen Blick und entwirft einen realpolitisch möglichen Gegenentwurf für Frauen.

Die Weltsicht des Rutbuches ist also eindeutig und durchgängig weiblich. Und nach dieser Weltsicht wird auch die narrative und die legislative Tradition der Tora mit der Option für Frauen rezipiert.

3.2. Rechtsstatus von Witwen

Da die Ehe in Alt-Israel virilokal, d.h. im Haus des Ehemannes gelebt wird, müssen Frauen bei der Eheschließung ihr Herkunftshaus verlassen. Sie gehen daher ihren Eltern für die Altersfürsorge verloren, weil sie die Eltern des Mannes zu versorgen haben. Keine Söhne zu haben, bedeutet daher im Falle der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit soziale Unsicherheit. Dies gilt umso mehr für Witwen, denen der Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen wahrscheinlich nur dann zugestanden wurde, wenn keine Brüder des Verstorbenen mehr das Familienerbe beanspruchten.

Diese sozial ungesicherte Lage von kinderlosen Witwen, die noch dazu dadurch verschärft wird, dass beide Emigrantinnen sind (vgl. dazu auch 2Kön 8,1-6), ist für beide Hauptfiguren des Rutbuches vorauszusetzen; sie erklärt, warum sie das Armenrecht der Nachlese (Lev 19,9; Dtn 24,19ff) in Anspruch nehmen müssen, um überleben zu können. Auch die im Rutbuch relevante Leviratsinstitution ist als Kompensation der diskriminierenden Rechtslage zu erklären: Um kinderlose Witwen im Haus des verstorbenen Ehemannes zu verankern und ihnen dort weiterhin den Lebensunterhalt zu sichern, soll ihnen die Möglichkeit geboten werden, innerhalb dieser Familie zu einem Kind (Sohn?) zu kommen.

3.3. Fremde und fremdstämmige Ehefrauen

Das Rutbuch thematisiert Fremde und Fremdsein von zwei Seiten her: Einerseits wird deutlich, dass die Integration von judäischen Wirtschaftsflüchtlingen im Nachbarland Moab unproblematisch verläuft, da von keinerlei Schwierigkeit, sondern sogar von Einheirat der Söhne erzählt wird. Andererseits wird Rut als in Juda fremde Ausländerin vorgestellt, die um sich und ihre Schwiegermutter versorgen zu können, das Armenrecht der Nachlese (vgl. Dtn 24,19-22) in Anspruch nehmen muss. Was die „Felder Moabs“ (Rut 1,1-2; Rut 2,6) anstandslos gewähren, muss auf den „Feldern Betlehems“ (Rut 2,2ff) mühsam erarbeitet werden. Diese Gegenüberstellung der Felder von Moab und Betlehem, in der das brotbegabte „Brothausen“ (Rut 1,6) das Überleben nur durch die Arbeit der Moabiterin gewährt, ist gezielt gewählt.

Dtn 23,4-7 begründet das Verbot, moabitische Menschen in die Gemeinde Israels aufzunehmen, damit, dass die Moabiter dem Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste die Versorgung mit Wasser und Brot verweigerten. Wenn nun die Familie des judäischen Hungerflüchtlings in Moab fraglos versorgt wird und zudem die Moabiterin selbst in Betlehem noch für Brot sorgt, wird der Begründung für das Aufnahmeverbot narrativ der Boden entzogen: Die Ausländerin Noomi wurde in Moab samt ihrer hungernden Familie aufgenommen; daher ist auch die in Juda fremde Witwe eines Judäers, die Moabiterin Rut, die sich noch dazu zum Gott der Schwiegermutter bekennt und deren Volk sie auch als das ihre sieht (Rut 1,16), in die Volksgemeinschaft aufzunehmen (siehe dazu Ebach, 1995, 280ff). Das Rutbuch plädiert derart intensiv für die Aufnahme integrationswilliger Fremder, dass die Moabiterin als „fähige Frau“ (Rut 3,11) den „fähigen Mann“ Boas (Rut 2,1) mit Zustimmung und Segen der Ältesten heiraten kann (Rut 4,11-12).

In Neh 13,1ff wird hingegen der Wortlaut des so genannten Moabiterparagraphen dafür verwendet, um die Aufnahme von Menschen aus dem Nachbarvolk, insbesondere seiner Frauen (vgl. Neh 13,23-27), zu verbieten. Das Rutbuch erzählt dazu eine unpolemische Gegengeschichte, in der deutlich wird, dass die Moabiterin Rut die Güte des Gottes Israels wesentlich besser verwirklicht als die angesehenen Männer Betlehems und das Aufnahmeverbot somit nicht mehr zu halten ist. Das Rutbuch ist daher als Gegenstimme zur Fremdenpolitik, wie sie gleichzeitig in Esr und Neh vertreten wird (vgl. Esr 10), zu verstehen. Es plädiert nicht für unbegrenzte, jedoch für begründete Aufnahme von Fremden in die Gemeinde Israels, selbst wenn sie aus dem (in nachexilischer Zeit) verfeindeten Nachbarvolk Moab stammen.

3.4. Levirat

Die Rechtsinstitution der sog. „Schwagerehe“ sieht nach Dtn 25,5-10 beim Tod eines kinderlosen Mannes vor, dass dessen Bruder, welcher mit ihm auf ungeteiltem Erbbesitz zusammengelebt hat, mit der Witwe ein Kind zeugen soll, das juristisch als Nachkomme des Verstorbenen gilt. Begünstigter des Rechtstexts ist der verstorbene Mann, der jedoch durch seine Witwe keinen Rechtsanspruch auf das → Levirat hat. Verweigert sich der Bruder, so kann die Frau ihn nur beschämen, jedoch keinen Versorgungsanspruch einklagen (V. 7f). Erst wenn die „Haliza“, der Schuhritus (V. 9f), als Verzicht auf das patriarchale Recht vollzogen ist, kann die Witwe einen Mann freier Wahl außerhalb der Familie ihres verstorbenen Ehemannes heiraten. Auf diesen Rechtstext des deuteronomischen Gemeindegesetzes greifen nur zwei alttestamentliche Erzähltexte zurück:

• In Gen 38 wird → Tamar nicht aus dem Levirat entlassen, als ihr Mann stirbt. So holt sie sich die Nachkommenschaft, die Juda ihr durch den jüngsten Sohn verweigert (Gen 38,11.14.26), von ihm selber. Die beiden Söhne, die Tamar gebiert und deren einer, Perez, der Stammvater des Boas ist, gelten nicht als Söhne des Verstorbenen, sondern als jene des leiblichen Vaters Juda, da die Leviratsehe nicht regulär vollzogen wurde. Begünstigte der Schwagerehe ist nach Gen 38 eindeutig die Witwe, die durch das Levirat einen Versorgungsanspruch hat, den Juda nachträglich in seinem Urteilsspruch anerkennt (V. 26).

• Im Rutbuch wird zweimal auf Dtn 25,5ff angespielt. In Rut 1,11-13 führt Noomi den Gedanken ad absurdum, dass sie durch Söhne, die sie erst gebären müsse, die beiden Witwen versorgen könne, indem diese nachgeborenen Brüder den beiden Verstorbenen Nachkommen verschafften. Als Begünstigte sieht Noomi die Schwiegertöchter, nicht ihre beiden verstorbenen Söhne. In Rut 4 wird auf den Rechtstext von Dtn 25,5ff nicht nur angespielt, sondern er wird ausführlich zitiert (siehe Butting, 1994, 33; Braulik, 1996, 114ff). Die vielfältigen Einspielungen lassen auf eine gezielte Auseinandersetzung mit der Rechtsvorschrift schließen, die in Rut 4 jedoch adaptiert wird: Der Kreis der zum Levirat Verpflichteten wird mit dem entfernt verwandten Boas wesentlich erweitert und die Schwagerehe auch auf eine ausländische Frau angewendet. So wird die Ausländerin Rut nicht nur in die Familie des Boas integriert, sondern sogar mit den Ahnfrauen Israels (Rut 4,11-12) auf eine Stufe gestellt und zur Urgroßmutter Davids (Rut 4,17).

3.5. Die Institution des Lösers

Die in Lev 25,23ff rechtlich geregelte → Löserinstitution will in Armut Geratene durch familiäre Solidarität vor dem völligen wirtschaftlichen und sozialen Ruin retten. Das Eintreten für notleidende Mitglieder der Großfamilie, zu dem der „(Er-)Löser“ moralisch verpflichtet wird, kommt im Rutbuch der Witwe Noomi zugute. Boas wird von ihr bereits in Rut 2,20 als „einer unserer Löser“ bezeichnet. Zum Löser wird er de facto jedoch erst, als er bereit ist, beide Witwen zu versorgen: die eine durch die Rechtsinstitution des Levirats, die andere durch jene der Lösung.

In der Tora gibt es keine Verbindung zwischen diese beiden Institutionen der verwandtschaftlichen Solidaritätsverpflichtung. Sie wird im Rutbuch ad hoc durch die ausländische Frau Rut geschaffen, als sie in der nächtlichen Szene auf der Tenne den Verwandten um die Ehe bittet und dies mit der Tatsache, dass er Löser ist, begründet (Rut 3,9). Damit wird eine Halacha, eine aktualisierende Gesetzesauslegung gegeben, der sich Boas in der Szene am Tor inhaltlich voll anschließt (Rut 4,5). Wenn die „erlösende“ Aktivität, die Boas in Rut 4,4-10 sowohl in bezug auf Noomi als auch in Bezug auf Rut setzt, mit der Vokabel קנה, qanah, „erwerben“, umschrieben wird, so verweist dies nicht auf einen „Frauenkauf“; diese Vokabel ist – sowohl in Lev 25 als auch in der neben dem Rutbuch im Alten Testament einzigen Löser-Erzählung von Jer 32 – ein terminus technicus für die Tat der Lösung durch Grundstücksrückkauf. Mit dieser Sprachwahl wird daher das solidarische Handeln des Verwandten für beide Frauen als „schriftkonform“, als der Tora gemäß qualifiziert.

4. Fragen der Entstehungsgeschichte und der literarischen Form

4.1. Ein Buch aus einem Guss?

Ob das Buch Rut aus einer Hand stammt oder zu einem späten Zeitpunkt durch die Zufügung der Zeitangaben in Rut 1,1 sowie den auf David hinlaufenden Schluss Rut 4,(17b).18-22 erweitert wurde, ist in der Forschung unterschiedlich beantwortet worden. Die Argumente für eine Bewertung dieser Textpassagen als sekundär und von Rut 4,7 als erklärende Glosse sind nicht nur literarkritischer Natur (z.B. Spannung in Bezug auf die Vaterschaft Obeds bei Leviratsehe; Doppelung mit Rut 4,17b, wenn man nur den agnatischen Stammbaum Rut 4,18-22 für sekundär hält), sondern vor allem literarästhetischer Natur (eine Zusammenstellung der Argumente und deren Widerlegung siehe Fischer, 2005, 66-76). Da das Rutbuch im Stile der Erzeltern-Erzählungen die Genesis – beginnend beim letzten in Gen vorgestellten Glied der Judalinie – als Volksgeschichte weitererzählt und das Ineinander von Erzählung und → Genealogie von der Gen vorgegeben ist, ist das Rutbuch als literarische Einheit zu sehen. Durch die Toledot des Perez in Rut 4,18, die die Genealogie des Stammes Juda auf David hin führt, wird die judäische Königslinie als legitime Fortsetzung der Ursprünge Israels gelesen und dem Versuch, die priesterliche Levigenealogie als die Verheißungslinie aus der Gen weiterzuführen (vgl. die Toledot Aarons und Moses in Num 3,1), gegenübergestellt. Dahinter steht wohl der in der fortgeschrittenen Perserzeit virulente Streit um die Dominanz der priesterlichen Traditionen gegenüber laizistischen und dezentralen Kompetenzen und sozialen Organisationskonzepten.

4.2. Das Buch Rut als schriftauslegende Literatur

Die Bezeichnung des Rutbuches als das „lieblichste kleine Ganze … das uns episch und idyllisch überliefert worden ist“, die von J.W. von Goethe im west-östlichen Divan (Goethe, Ausgabe 1986, 129) formuliert wurde, beeinflusst bist heute die Gattungsbestimmung des Rutbuches. Jürgen Ebach hat wie kein Exeget vor ihm mit der Forschungstradition gebrochen, die das Rutbuch als liebliche Idylle beschreibt. Er erweist die androzentrische Auslegungstradition als Trivialisierung dieses Buches, in dem zwei Frauen um das Überleben kämpfen. Ausschließlich das Geschlecht der beiden Hauptakteurinnen bedingt die Verniedlichung dieser Geschichte, die dem im Buch Ijob Erzählten um nichts nachsteht.

Die neuere deutschsprachige (Kommentar-)Literatur lässt sich grob dadurch charakterisieren, dass sie überwiegend novellenartigen Charakter annimmt. Die angloamerikanische Forschung hat sich hingegen häufig für die spezifisch englische Gattungsbezeichnung „short story“ entschieden (einen Überblick bietet Hubbard, 1988, 47f), deren Sinn nicht bloß Unterhaltung, sondern auch Belehrung sein könne, in gehobener Prosa verfasst sei, Interesse an typischen Personen im Alltagsleben habe und gewisse historische Informationen beinhalten könne.

Alle diese zur Bestimmung der Gattung erhobenen Charakteristika beobachten Richtiges; aber es ist zu bezweifeln, ob sie das Rutbuch in all seinen Sinndimensionen erfassen. Das Buch ist kein Stück – wenn auch gehobener – erbauender „Unterhaltungsliteratur“, sondern steht mit zahlreichen Erzähl- und Rechtstexten sowohl der → Tora als auch der Vorderen Prophetie im Gespräch (→ Kanon). Für jedes der Kapitel lässt sich je ein zentraler ausgelegter Rechts- und Erzähltext erheben:

Rut 2

Rut 1 führt den Moabiterparagraphen ad absurdum und legt die Erzählungen um die Preisgabe der Ahnfrauen, Gen 12,10ff und Gen 26,1ff aus, indem dieses Mal die Auswanderung aus dem Land aufgrund einer Hungersnot (Rut 1,1) nicht zur Gefährdung der Frauen, sondern zum Tod der Männer führt.

Rut 2 legt die Bestimmungen für die Armenrechte aus (Lev 19,9; Dtn 24,19ff) und deutet durch das mit der Mannageschichte von Ex 16 gemeinsame Leitwort (Ähren / Manna) „auflesen“ (לקט) die Versorgung Noomis durch Rut und indirekt auch durch Boas, der die Arbeit zulässt, als Mannawunder. Gleichzeitig werden im zentralen Deutevers Rut 2,11 zwei Texte ineinander verflochten zitiert (Gen 2,24 und Gen 12,1ff sowie dessen Reflex in der Rebekkageschichte von Gen 24,1-8.60f, auf die auch die Preisung von Rut 2,20 Bezug nimmt).

Das 3. und 4. Kapitel legen die Rechtstexte um Levirat (Dtn 25,5ff) und Lösung (Lev 25,23ff) aus. In Kap. 3 wird durch das nächtliche Hinlegen einer Frau zu einem Mann, der nicht ihr Ehemann ist, eine Gegengeschichte zu jener um die Töchter Lots erzählt (Gen 19,30ff) und damit die Herkunft der Moabiterin aus einer Inzestbeziehung gleichsam „saniert“.

Rut 4 nimmt in den Glückwünschen sowohl auf Gen 29f als auch auf Gen 38 Bezug, indem die Gründung der Genealogie durch die drei Frauen Rahel, Lea und Tamar vorgestellt wird. Mit der Davidsgeschichte setzt sich nicht nur der Rutschluss mit der Genealogie (Rut 4,17.22) auseinander, sondern sie wird zwischen den Zeilen immer präsent gehalten: Nur Davids Vater Isai und Elimelech werden als Efratiter aus Betlehem in Juda vorgestellt (Rut 1,2; 1Sam 17,12), die Speise Davids wie Boas’ ist das Röstkorn (Rut 2,14; 1 Sam 17,17; 1Sam 25,18; 2Sam 17,28) und schließlich sind sowohl Rut als auch David besser als sieben Söhne (Rut 4,15; vgl. 1Sam 16,1-13).

So zeigt sich, dass das Rutbuch die erzählerische Lücke zwischen den Erzeltern- und den Davidserzählungen schließen will und dabei bewusst das Kolorit beider Textsammlungen aufgreift. So schreibt es Volksgeschichte Israels und legt dabei die Rechtstraditionen Israels zugunsten von (fremden) Frauen lebensförderlich aus.

4.3. Intention und Entstehungszeit des Buches

Die Kenntnis der erzählerischen Tradition des Volkes sowie der Gesetzestexte und deren gezielte Anwendung auf eine aktuelle Situation lässt darauf schließen, dass das Rutbuch in gebildeten Kreisen in fortgeschrittener nachexilischer Zeit verfasst wurde. Wenn die narrative und unpolemische Argumentation gegen den Moabiterparagraphen eine Fährte zum Sitz im Leben und zu den Trägerkreisen solcher Theologie legt, dann wird man auf offensichtlich schriftgelehrte Kreise, die am Nehemiabuch arbeiten, verwiesen. Sie argumentieren in Neh 13,1-3 mit dem expliziten Verweis auf Dtn 23,4-7 gegen die Aufnahme von Fremden und damit auch gegen Ehen mit fremden Frauen (Neh 13,23-29). Da das Rutbuch eine Gegenposition zu den rigorosen Verboten jener Kreise vertritt, muss es im Umfeld jener Schriftkundigen entstanden sein, die gegen Mischehen plädieren. Wer in seiner Güte der Güte JHWHs gleicht, der wird nicht ausgeschlossen werden aus dem Volk JHWHs. Hierin ist sich die fremdenfreundliche Tendenz des Rutbuches etwa mit Texten aus dem Jesajabuch (vgl. z.B. Jes 19,18-25; Jes 56,1-8) oder der Achiorgeschichte im späten Juditbuch einig (Jud 4-6). Wenn überhaupt bei einem biblischen Buch anzunehmen ist, dass es von einer Frau verfasst sein könnte, dann beim Buch Rut.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • Dictionary of Judaism in the Biblical Period. 450 B.C.E. to 600 C.E., New York 1996
  • New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
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2. Kommentare

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  • Butting, Klara, 1994, Die Buchstaben werden sich noch wundern (Alektor-Hochschulschriften), Berlin
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  • Fischer, Irmtraud, 1999, The Book of Ruth: A ‘Feminist’ Commentary to the Torah?, in: Athalya Brenner (Hg.), Ruth and Ester (FCB 2/3), Sheffield, 24-49
  • Goethe, Johann Wolfgang von, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans, in: Ders., West-östlicher Divan, hg. v. Hans-J. Weitz, Frankfurt 1986
  • Korpel, Marjo, 2001, The Structure of the Book of Ruth (Pericope 2), Assen
  • Trible, Phyllis, 1993, Gott und Sexualität im Alten Testament (GTBS 539), Gütersloh

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