Schön / Schönheit
(erstellt: September 2010)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/27269/
1. Der Schönheitsbegriff und seine Terminologie
Um die Aspekte des alttestamentlichen Schönheitsbegriffs zum Ausdruck zu bringen, stand den Autoren des Alten Testaments eine ganze Wortgruppe zur Verfügung. Anders als etwa der Begriff → „Hass
Freilich lässt diese Liste des semantischen Feldes bereits Berührungspunkte zwischen dem Schönen und dem Herrlichen bzw. Mächtigen vermuten, aber das ist erst in den Texten selbst zu untersuchen. Jenni hat darauf hingewiesen, dass Adjektive wie אַדִּיר ’addîr das menschliche Staunen gegenüber dem Mächtigen ausdrücken und Elliott argumentiert, dass die Reflexion über das Schöne im Alten Testament sich am Konzept der Herrlichkeit (כָּבוֹד kāvôd) orientieren soll (→ Ehre / Herrlichkeit
Überprüft man die Verwendung der Wortgruppe im Alten Testament, so lassen sich diese Betrachtungen gewissermaßen bestätigen. Auch wenn Westermann (1984, 125) Recht haben mag, dass Schönheit im Alten Testament kein objektiv für sich Seiendes, sondern „ein Schönsein für…“ ist, sagt das noch nicht, welche semantischen Komponenten dieses Schönsein hat. Daher ist der Begriff von seinem formgeschichtlichen Ort (nach Westermann eher „Segens-“ als „Rettungstexte“) her nicht ausreichend zu erklären. Wird der Begriff in seinen konkreten Verwendungen analysiert, so wird klar, dass die alttestamentliche Schönheitsvorstellung umfasst, was die Grafik zum Ausdruck bringt. Im konkreten Gebrauch sind die Grenzen zwischen den in der Grafik genannten Dimensionen oft fließend und es haftet dem Begriff häufig eine Ambivalenz an.
Matthias Augustin (1983) hat die Aspekte der menschlichen Schönheit in seiner Dissertation herausgearbeitet und Claus Westermann hat den allgemeinen alttestamentlichen Schönheitsbegriff fast gleichzeitig in seinem eben zitierten Aufsatz einer formgeschichtlichen Untersuchung unterzogen. Obwohl im Alten Testament häufig von menschlicher Schönheit die Rede ist, ist das Thema abgesehen von einem Beitrag von Otto Kaiser (2000) eher am Rande der alttestamentlichen Forschung liegen geblieben.
2. Positive Schönheit
2.1. Die Schönheit des Menschen
2.1.1. Menschen, die gefallen
Menschliche Schönheit kann erotisch oder nicht-erotisch gemeint sein, bedeutet aber in den meisten Fällen die körperliche Schönheit von Menschen, die den Beobachtern gefallen.
2.1.1.1. Das betrifft sehr oft die Schönheit von Frauen (יפה jāfah: Gen 29,17; Gen 12,14
Das weibliche Schönheitsideal lässt sich aus den wasf-Liedern (Beschreibungen der / des Geliebten) des → Hohenliedes
2.1.1.2. Mehrmals wird auch männliche Schönheit erwähnt: יפה jph in Gen 39,6
Auch das männliche Schönheitsideal ist aus den wasf-Liedern des Hohenliedes abzuleiten: große Augen, langes, dunkles Haar, weiße Zähne, rötlicher Teint, Körper wie ein herausragender Baum, starke Beine, Kraft wie ein Löwe und Beweglichkeit wie eine Gazelle oder ein Adler (Hhld 5,9-16
2.1.1.3. Grundlegend für die ganze Geschichte der Errettung Israels aus Ägypten ist die Beschreibung → Moses
2.1.1.4. Mit der Logik der Rede von fehlender Schönheit in Jes 53,2
2.1.1.5. Aber auch ein sozialer Zustand kann als schön empfunden werden. In Ps 133,1
2.1.1.6. Äußerliche Schönheitsmanifestationen werden häufig mit Metaphern ausgedrückt. So heißt eine junge Ehefrau „Gazelle“ und ein „Reh der Anmut“ (Spr 5,19
Vgl. etwa Clemens Alexandrinus: Die geistige Schönheit der Tugend macht den Menschen wie Gott (Paedagogus II,8; III 111; Bibliothek der Kirchenväter
2.1.1.7. In Ps 139,13f
2.1.2. Menschen, die Ehrfurcht erregen
2.1.2.1. Wer Macht hat, ist Herr und Herrlichkeit wird nicht nur gefürchtet, sondern auch für schön gehalten. Daher ist ein häufig belegter Aspekt menschlicher Schönheit im Alten Testament die Herrlichkeit wichtiger Menschen, denen Ehrfurcht oder sozialer Respekt gebühren (→ Ehre / Herrlichkeit
2.1.2.2. Die Schönheit von Herrschern wird in Ps 8
2.1.2.3. Die aufgeführte Übertragung physischer Schönheitsmerkmale auf „innere“ Qualitäten ist durchaus im Einklang mit der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26
2.2. Die Schönheit des menschlichen Schaffens
2.2.1. Schönes Handwerk
2.2.1.1. Objekte handwerklicher Fähigkeit werden oft als schön bezeichnet (→ Handwerk
2.2.1.2. Im Deboralied, einem alten, echten „Errettungstext“, ist das Schönheitsmotiv auch als Attribut eines menschlichen Handwerks zu finden. Die Schale, in der → Jaël
2.2.1.3. In Hi 28
2.2.2. Schöne Musik
2.2.2.1. Eine der reizvollen Eigenschaften → Davids
2.2.2.2. Jedoch wird Musik, die Gott loben soll und der hymnischen Gattung zugeschrieben wird, explizit „wunderschön“ genannt (נָעִים nā‘îm in Ps 81,3
2.2.3. Schöne Worte
In Ps 45
2.2.4. Schöne Weisheit
Im Lichte des eben Gesagten überrascht es nicht, dass die → Weisheit
2.2.5. Angenehme Speise
Spr 9,17
2.3. Die Schönheit Gottes
Im Alten Testament ist Gottes Schönheit keine „Nebeneigenschaft“ neben seinen „Anbetungstiteln“ (Gestrich 2008, 92). Im Gegenteil, sie spielt nicht nur im jüdischen Glauben, sondern auch im Alten Testament selbst keine untergeordnete Rolle. In der Herrlichkeit Gottes manifestiert sich seine Schönheit, weil das Schöne das Beeindruckende ist, also genau das, was Gottes Herrlichkeit konstituiert (→ Ehre / Herrlichkeit
Klassisch wird dies in der Bitte → Moses
Sowohl in der prophetischen Literatur als auch in den Psalmen ist das Motiv der göttlichen Schönheit gut belegt, häufig in Verbindung mit der Schönheit Jerusalems oder der Natur. In Jes 35,2
Gottes Schönheit wird explizit in Ps 104,1
Nicht identisch, aber verwandt mit der göttlichen Schönheit ist auch die Schönheit seines Bundes mit Israel (Sach 11,7
Auch Gottes Recht wird implizit schön genannt. Wenn die Rechte des Herrn (מִשְׁפְּטֵי יהוה mišpəṭê JHWH) begehrlich sind, mit Feingold und köstlichen Speisen verglichen werden (Ps 19,10f
Gott ist nicht nur selbst schön, sondern er genießt auch das Schöne (s.o. 2.2.1.3.; Ex 31
2.4. Die Schönheit der Welt
2.4.1. Die Schönheit der Natur
Sowohl die Natur als → Schöpfung
2.4.1.1. Tiere heißen in poetischen Texten schön: Gen 49,21
2.4.1.2. Oft wird die Schönheit der Natur an den unbelebten Aspekten der Schöpfung wahrgenommen und geschätzt: das Land (Gen 49,15
2.4.1.3. Nach Gestrich ist die Faszination für Ordnung im Alten Testament ein Ausdruck der Wertschätzung von Schönheit. Das lässt sich gewissermaßen durch Ps 8
2.4.1.4. Besonders in der Weisheitsliteratur kommen Gedichte vor, welche einen Rundblick auf die Natur werfen. Hi 38f
2.4.1.5. Die Wahrnehmung des Alltäglichen kann einen Weisen auch dazu führen, in einfachen Dingen das Wunderbare, also das Erhabene, zu entdecken. Daher kann auch Phänomenen der Natur und unbelebten Objekten implizit Schönheit zugeschrieben werden, wobei die Qualität der Schönheit von Tieren und menschlichen Werken jener von Menschen entspricht. In Spr 30,18-20
Hier kann es nicht um die Wunder des Fortbewegens ohne Pfote (Vögel, Schlangen) gehen. Dies macht erstens die ebenfalls erwähnte Bewegung eines Mannes mit einer Frau unmöglich. Zweitens hätte die natürliche Bewegung von Vögeln und Schlangen in der Antike kaum Verwunderung hervorgerufen. Vielmehr geht es um den gemeinsamen Bewegungsaspekt der vier Phänomene – den Steig- und Senkflug eines Adlers mit den Luftströmen, die Bewegung einer Schlange, die so über einen Fels gleitet, dass man nur den Wellengang sieht, den Wellengang eines Schiffes auf dem Meer und die ähnliche Bewegung eines Mannes mit einer Frau, also um Bewegung in erotischem Sinne.
Nimmt der Mensch diese Dinge wahr, so empfindet er die Anwesenheit von etwas jenseits der menschlichen Kapazitäten Stehendem. Das Wunderbare beeindruckt begriffslos und fasziniert bis zum Staunen, welches ein ästhetisches Urteil ist.
2.4.2. Die Schönheit von Orten
2.4.2.1. Da Schönheit so mit weltlichen Phänomenen in Verbindung gebracht werden kann, wundert es nicht, dass auch Orte als schön gesehen werden, etwa in Ps 16,6
2.4.2.2. In besonderem Sinne ist die Stadt Jerusalem schön. Klassisch schildert Ps 48,3-4
2.4.2.3. Die Schönheit von Städten kann aber ebenso in negativen Kontexten vorkommen: die vollendete (aber verlorene) Schönheit der Stadt Jerusalem (יֳפִי jăfî Klgl 2,15
2.4.2.4. Dan 11,16
3. Ambivalente Schönheit
3.1. Die dunkle Seite der Schönheit im Allgemeinen
Schönheit hat auch eine verhängnisvolle Seite und kann gefährlich sein. Ganz grundsätzlich ist das in der Paradiesgeschichte zu sehen (Gen 3,6
Augustin befürchtet in der irdischen Schönheit eine Falle, die den Menschen von Gott fernhalten kann (Sherry 241; vgl. Confessiones III,6). Darin wird er durch eine ganze Reihe alttestamentlicher Belege in der Erzähl- und Weisheitsliteratur bestätigt.
3.2. Das Verhängnis der erotischen Schönheit
3.2.1. Erzählungen
Wenn auch die Verlockung durch die Schönheit in der Paradieserzählung nicht sexueller Natur ist, wird Schönheit im erotischen Sinn im Alten Testament sehr wohl als gefährlich verstanden, v.a. für Männer, aber auch für die schönen Frauen selbst, etwa in den Pharao / Abimelech-Geschichten über Sara (Gen 12,11
3.2.2. Weisheitsliteratur
Als Grundsatz wird in Spr 31,30
3.2.3. Prophetische Texte
Die negative Seite der weiblichen Schönheit wird plastisch in Jes 3,16-24
Wenn auch das Motiv der Koketterie fehlt, so ist unter Verwendung des Baummotivs doch die gleiche Logik bei → Jeremia
Die Verwendung des Schönheitsbegriffs ist also sehr wohl als etabliertes Motiv in prophetischen Gerichtstexten anzusehen (anders Westermann 1984, 120).
3.3. Die Gefährlichkeit der Kultobjekte
Die Geschichten von der Überführung der → Bundeslade
3.4. Schönheit, die zur Resignation führt
In Pred 1,2-11
Alle Dinge sind voll Mühe, kein Mensch kann alles ausdrücken, das Auge wird nicht voll vom Beobachten, noch das Ohr vom Hören. (Pred 1,8
Die Wahrnehmung der gesamten Natur führt hier weder zur Adoration noch zur Freude, sondern zur Resignation. Obwohl die Konklusion resignierend ist, hat der Prediger durchaus ein Auge für die Schönheit dessen, was sich in dieser Welt abspielt, also nicht nur für die Schönheit der Natur, sondern auch für das Faszinierende im Leben der Menschen:
Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; ohne dass der Mensch ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. (Pred 3,11
Alles hat Gott „schön“ (יָפֶה jāfæh) gemacht. Der bestimmte Artikel verweist auf die Liste der „Zeiten“ in Pred 3,1-8
3.5. Der Schrecken der Naturbeobachtung
Einen Schritt weiter gehen die Naturwahrnehmungen des frühen → Hiob
3.6. Vergänglichkeit der Schönheit
Wird die Schönheit in der Weisheitsliteratur relativiert (etwa Spr 2,10
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009
2. Weitere Literatur
- Augustin, M., 1983, Der schöne Mensch im Alten Testament und im hellenistischen Judentum (BEAT 3), Frankfurt
- Elliott, M.W., 2009, Art. Ästhetik. Alttestamentlich, in: Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin, 1-2
- Gestrich, R., 2008, Schönheit Gottes. Anstöße zu einer neuen Wahrnehmung, Berlin, 92-104
- Jenni, E., 1978, Art. אַדִּיר ’addîr, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 3. Aufl., München / Zürich, 38-41
- Kaiser, O., 2000, Von der Schönheit des Menschen als Gabe Gottes, in: A. Graupner / H. Delkurt / A.B. Ernst (Hgg.), Verbindungslinien (FS W.H. Schmidt), Neukirchen-Vluyn, 153-163
- Loader, J.A., 2004, Theologies as symphonies. On (biblical) theology and aesthetics, OTE 17/2, 252-266
- Oeming, M., 2004, Art. Schönheit. II. Biblisch-theologisch, RGG 4. Aufl., Bd. 7, Tübingen, 961-962
- Rad, G. von, 1969, Der heilige Krieg im alten Israel, Göttingen
- Schroer, S. / Th. Staubli, 1998, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt, 24-29
- Sherry, P.J., Art. Schönheit II. Christlich-trinitarisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 30, Berlin / New York 1999, 240-247
- Westermann, C., 1984, Das Schöne im Alten Testament, in: ders., Erträge der Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien Bd. III (TB 73), München, 119-137
Abbildungsverzeichnis
- Grafik zur Schönheitsvorstellung. © James Alfred Loader
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)