Selbstvorstellungsformel
(erstellt: Januar 2014)
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Als Selbstvorstellungsformel wird seit den Arbeiten des Alttestamentlers → Walther Zimmerli
1. Begrifflichkeit
Von einer „Formel“ kann gesprochen werden, da es trotz verschiedener Varianten und unterschiedlicher syntaktischer Einbindungen einen (mehr oder weniger) unveränderlichen Aussagekern gibt, nämlich אָנֹכִי ’ānokhî / אֲנִי ’ǎnî „ich“ + יהוה jhwh „Jahwe“. Folgende Formulierungen sind im Alten Testament belegt:
1. (kî) ’ǎnî / ānokhî jhwh „(denn +) ich + Jahwe“;
2. (kî) ’ǎnî / ānokhî jhwh mit ’älohîm + Suffix „(denn +) ich + Jahwe + dein / sein (etc.) Gott“;
3. die unter 1. und 2. genannten Varianten können syntaktisch mit Partizip oder konjugiertem Verb weitergeführt sein.
Die ’ǎnî jhwh-Aussage erscheint außerdem eingebunden in die sog. Erkenntnisaussage ידע כִּי jd‘ kî „erkennen, dass“ + אֲנִי ’ǎnî „ich“ + יהוה jhwh „Jahwe“ (zuweilen אֱלֹהִים ’älohîm + Suffix „dein / sein [etc.] Gott“), die ihrerseits wiederum mit Partizip oder konjugiertem Verb weitergeführt werden kann.
Mit dem Stichwort „Selbstvorstellung“ griff Zimmerli einen Aspekt des Phänomens zu seiner Bezeichnung heraus, seine (im Verständnis Zimmerlis) entstehungsgeschichtlich ursprüngliche Funktion: „Ein bisher Unbenannter tritt aus seiner Unbekanntheit heraus, indem er sich in seinem Eigennamen erkennbar und nennbar macht. Das Gewicht liegt auf der Nennung des Eigennamens Jahwe …“ (Zimmerli 1963, 11). In der Forschung seit Zimmerli ist, wie bereits von Zimmerli selbst, vielfach vermerkt worden, dass in zahlreichen Belegen im Alten Testament keine (echte) Selbstvorstellung Jahwes vorliegt, dennoch wird der Begriff „Selbstvorstellungsformel“ weiter tradiert. Terminologisch ist es sinnvoll, die Verwendung des Begriffs auf echte Selbstvorstellungen zu beschränken. In allen anderen Fällen ist eine deskriptive Begrifflichkeit wie ’ǎnî jhwh-Aussage oder ’ǎnî jhwh-Formel als Bezeichnung vorzuziehen.
2. „Ich bin“-Aussagen außerhalb des Alten Testaments
Die alttestamentliche Aussage אֲנִי יהוה ’ǎnî jhwh „Ich (bin) Jahwe“ ist vor dem Hintergrund sprachlich vergleichbarer Aussagen in der Umwelt des Alten (und Neuen) Testaments zu betrachten. Sie lassen sich bei allen Unterschieden unter dem Stichwort „Ich bin“-Aussagen zusammenfassen. „Ich bin“-Aussagen leisten eine Selbstthematisierung des Subjekts (im Nominalstil). Sie erfüllen dabei im altorientalischen Kontext unterschiedliche Funktionen (vgl. etwa die von R. Bultmann mit Blick auf das Johannesevangelium und die griechischsprachige Literatur entwickelte Unterscheidung von Präsentations-, Qualifikations-, Identifikations- und Rekognitionsformel; Bultmann, 167f.). Echte Selbstvorstellungen sind dabei eine mögliche, wenn auch eine eher selten belegte Funktion, die zudem nicht notwendig an das Vorhandensein eines Eigennamens gebunden ist. „Ich bin“-Aussagen sind etwa für viele Sarg- und Grabinschriften und v.a. für bestimmte Königsinschriften typisch. In den Königsinschriften aus der Zeit → Assarhaddons
3. Die „Ich (bin) Jahwe“-Aussage im Alten Testament
3.1. Zur Syntax von אֲנִי יהוה
Voraussetzung für die „Karriere“, die die ’ǎnî jhwh-Aussage im Alten Testament durchlaufen hat, ist die syntaktische Struktur hebräischer Nominalsätze allgemein und speziell der Nominalsätze, die aus einem Pronomen der 1. Sg. („ich“) und einem Eigennamen bestehen (vgl. dazu Michel 2004). Untersuchungen dieser Struktur (vgl. dazu Michel 2004; ders., 1973; Diesel 2006) ergeben, dass die Formulierung אֲנִי יהוה ’ǎnî jhwh, die zu dieser Nominalsatzgruppe „Pronomen (אֲנִי ’ǎnî) und Eigenname (יהוה jhwh)“ gehört, sowohl die Satzteilfolge Subjekt – Prädikat („Ich bin Jahwe“) als auch die Satzteilfolge Prädikat – Subjekt („ich bin Jahwe“ im Sinne von: „nur ich bin Jahwe“ / „ich allein bin Jahwe“) aufweisen kann. Diese Möglichkeit ist die Voraussetzung dafür, dass sich die sprachliche Bedeutung unter bestimmten historischen Bedingungen und als Ausdruck eines theologischen Reflexionsprozesses wandeln und schließlich zum programmatischen Ausdruck der monotheistischen Gotteskonzeption werden konnte (→ Monotheismus
3.2. Zur Bedeutungsgeschichte der „Ich (bin) Jahwe“-Aussage
Mit Blick auf die Vorkommen der ’ǎnî jhwh-Aussage in der alttestamentlichen Literatur ist der Befund ein doppelter: Es gibt einerseits Bereiche, in denen die ’ǎnî jhwh-Aussage nicht oder nur in Einzelfällen belegt ist, so in der älteren Schriftprophetie (mit Ausnahme Hos 12,19
3.2.1. Die nicht-priesterschriftlichen Pentateuch-Belege
Eine Verwendung der Aussage, wie sie ursprünglich, und bevor sie theologisch aufgeladen wurde, typisch gewesen sein dürfte, lässt sich (unabhängig von ihrer Datierung) in einigen nicht-priesterschriftlichen Belegen von אֲנִי ’ǎnî / אָנֹכִי ’ānokhî + Gottesbezeichnung / יהוה jhwh im Pentateuch erkennen. Es handelt sich nicht um Selbstvorstellungen eines prinzipiell Unbekannten im engeren Sinne. Da die Umstände dem Angeredeten eine eindeutige Erkenntnis des Redenden verwehren, führt der Ich-Redner sich mit dieser Aussage als bereits bekannt ein, durch Rekurs auf vergangene, dem Angeredeten bekannte Gegebenheiten (vgl. Gen 15,7
3.2.2. Hoseabuch
In theologisch prägnanter Verwendung ist die ’ǎnî jhwh-Aussage (in Verbindung mit der Herausführungsaussage) in Hos 12,4
3.2.3. Exilische und nachexilische Zeit
Die Erfahrung des Exils erforderte eine Deutung. Sie geschah im Gegenüber zu Jahwe bzw. bei gleichzeitiger Ausbildung eines bestimmten Verständnisses von Jahwe. Musste er aus einer Position der Schwäche heraus zulassen, was geschehen war, oder steckte er selbst als treibende Kraft hinter den Ereignissen? Die alttestamentlichen Theologen haben ihre Antworten im zweiten Sinn gegeben, indem sie auch unter Verwendung der ’ǎnî jhwh-Aussage der Überzeugung Ausdruck gaben, dass Jahwe der allein in Schöpfung und Geschichte wirksame Gott ist.
3.2.3.1. Ezechiel: → Ezechiel
3.2.3.2. Deuterojesaja: Sah Ezechiel seine Aufgabe darin, eine Deutung der Unheilserfahrung des Exils zu geben, geht → Deuterojesaja
3.2.3.3. Priesterschrift, Dekalog, Heiligkeitsgesetz: Die → Priesterschrift
4. „Ich allein bin Jahwe“ als „Schlüsselwort“
Für das Verständnis der Entwicklung und Leistung der ’ǎnî jhwh-Aussage ist die in der Sprachwissenschaft entwickelte Kategorie der Sinnformeln bzw. der zu den Sinnformeln zu zählenden Schlüsselwörter hilfreich (vgl. Geideck / Liebert 2003, 5).
Sinnformel wird dabei verstanden als „symbolischer Formenkomplex, der eine komprimierte Antwort auf eine oder mehrere Grundfragen darstellt. Sie kann für nur eine soziale Gruppe oder auch für große Kollektive Gültigkeit haben“ (Geideck / Liebert 2003, 3). Schlüsselwörter sind nicht einfach da, sie unterliegen einem Prozess und durchlaufen „mindestens eine ‚heiße’ Phase kontroverser Diskussion“ (Liebert 2003, 66.). „Erfolgreiche“ Schlüsselwörter münden in kollektive Denkmuster, „die für eine Gruppe oder Gesellschaft hegemonial sind“ (ebd.). Solange „über Sinnformeln diskutiert wird, sind diese nicht besonders wirkmächtig. Erst wenn die Diskussion abebbt, kann gefragt werden, ob eine Sinnformel in einer Sozialität konsensual geworden ist und unbewusst zu wirken beginnt, also zum Denkmuster wird. Die Wirkmächtigkeit einer Sinnformel wird also gerade dann am größten sein, wenn sich keine sprachlichen Manifestationen beobachten lassen.“ (Geideck / Liebert 2003, 7f.) Die ’ǎnî jhwh-Aussage zeugt im Sinne des Schlüsselwortes von Diskussionen um die monotheistische Gotteskonzeption. In dieser Phase bündeln sich in ihr Antworten auf existentielle Grundfragen des exilisch-nachexilischen Israel (zu diesen Grundfragen vgl. Geideck / Liebert 2003, 3; im Anschluss an E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, vgl. dazu auch Liebert 2003, 63-66):
Die Gemeinschaft definiert in ihr ihre Identität („Wer sind wir?“) als diejenigen, die Jahwe allein als wirkmächtige Größe anerkennen, sie grenzt sich mit dieser Überzeugung von anderen ab, die diese Wirkmächtigkeit anderen Göttern oder Mächtigkeiten (etwa Königen?) unterstellen. Sie versteht ihre Vergangenheit („Wo kommen wir her?“) als bestimmt von der Tatsache, dass dieses „Ich allein“ nicht Konsens war. Sie versteht ihre Gegenwart als eine, die nur bewältigt werden kann, wenn hinter allen Widerfahrnissen Jahwe allein am Werk gesehen wird. Die Zukunft („Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“), die in der ’ǎnî jhwh-Aussage in den Blick kommt, kann als Gericht drohen: „Weil ich der allein Wirkende bin, bin ich allein es auch, der das Unheil über euch bringen wird“ (z.B. Ezechiel), ist jedoch überwiegend heilvoll: „Weil ich allein der Wirkende bin, geht ihr trotz Exil, trotz Verlust von König, Land und Tempel einer heilvollen Zukunft entgegen“ (z.B. Deuterojesaja). Je nach Kotext der ’ǎnî jhwh-Aussage steht deutlich die Frage „Was müssen wir tun?“ im Raum. Sie wird durch Rechtssätze beantwortet, die ein bestimmtes Verhalten vorgeben (vgl. Heiligkeitsgesetz, Dekalog).
Die programmatische Verwendung der ’ǎnî jhwh-Aussage mündet darin, dass die in ihr zum Ausdruck gebrachte Vorstellung der Alleinigkeit Jahwes für die Glaubensgemeinschaft „hegemonial“ geworden ist. Dann hat sie ihre Aufgabe erfüllt und ihr Verschwinden in den Spätschriften und in der zwischentestamentlichen (und neutestamentlichen) Literatur zeugt davon, dass die monotheistische Gottesvorstellung zum (weitgehend) konsensualen Denkmuster geworden ist.
Literaturverzeichnis
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