Sem / Semiten
(erstellt: November 2009)
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1. Der Name Sem und der Begriff „semitisch“
1.1. Die Figur Sems in der Bibel
1.2. Rezeptionsgeschichte
Einige Verweise auf die Aufteilung der Erde unter den Söhnen Noahs datieren bereits aus der zwischentestamentlichen Zeit: das → Genesis-Apokryphon
1.3. „Semitisch“ als linguistischer Begriff
Der Begriff „semitisch“ für eine Gruppe von Sprachen, die untereinander starke und teils schon von Kirchenvätern und mittelalterlichen jüdischen Grammatikern erkannte Übereinstimmungen aufweisen, erscheint zuerst 1781 in einem Aufsatz August Ludwig Schlözers. Seine schnelle Verbreitung verdankt er allerdings Johann Gottfried Eichhorn (dazu ausführlich Baasten). Ursprünglich für die nach Schlözer einst gemeinsame Sprache der laut Gen 10,21-31
Als Folge einer weiteren Ausdifferenzierung der linguistischen Forschung gemäß ihrem geschichtlichen Ursprung nach voneinander abzugrenzenden Sprachfamilien haben sich die älteren, impressionistischen Konzepte „orientalische“ oder „morgenländische“ Sprachen, die ja regelmäßig auch nicht-semitische Sprachen wie das Persische und Türkische mit einbezogen, bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s weitgehend aufgelöst. Dagegen behauptet sich „semitisch“ als praktischer Kunstname nach wie vor unbestritten; Alternativen wie Hommels geographisch begründeter Begriff „(as)syro-arabische Sprachen“ oder Stades sprachtypologischer Term „Triliteralsprachen“ (Hommel, 59-60, Anm. 7) konnten sich nicht durchsetzen. Trotzdem besteht über die genaue Einteilung der semitischen Sprachen noch immer kein Konsens, da die relevanten Merkmale sehr unterschiedlich interpretiert werden können (zur Forschungsgeschichte und gegenwärtigen Mehrheitsmeinung siehe Huehnergard; anders z.B. Lipiński, 59-74).
1.4. „Semitisch“ als ethnischer Begriff
Völkerphysiognomische Spekulationen wie die Ernest Renans, die den Sprechern semitischer Sprachen gemeinsame anthropologische oder kulturelle Wesenszüge zuschreiben, z.B. die Neigung zum Monotheismus bei wenig ausgeprägter Begabung für Wissenschaft und Philosophie (vgl. Hommel, 20-46), waren in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s verbreitet, spielen aber in der heutigen Forschung keine Rolle mehr. Das gilt auch für apologetische (Chwolson) und gemäßigte (Nöldeke, 1892, 1-20; Levi della Vida, 1924, 10-42) Darstellungen. Zudem ist die Hypothese eines „semitischen Menschentyps“ durch die Rassentheorien des 19. und 20. Jh.s, die „semitisch“ oft mit „jüdisch“ gleichsetzten, in Misskredit geraten. Gleichwohl sind noch bis vor einigen Jahrzehnten mitunter Versuche unternommen worden, Gemeinsamkeiten auf religiösem oder gesellschaftlichem Gebiet aufgrund einer ethnischen Einheit herauszuarbeiten (Moscati, 15-43). Semitische Idiome wurden aber im Laufe ihrer langen Überlieferung von Gruppen verschiedenster Provenienz als Kultur- oder Umgangssprachen übernommen, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass manche scheinbaren Merkmale wohl in erster Linie von den Lebensverhältnissen herrühren (Nöldeke, 1899, 7-8; vgl. Levi della Vida, 1938, 71-107). Solche Unsicherheiten haben bewirkt, dass die Bezeichnung „semitisch“ inzwischen beinahe nur noch im linguistischen Sinn gebraucht wird.
2. Das Problem der Urheimat der „Semiten“
Eine gemeinsame Urheimat der verschiedenen Sprechergruppen semitischer Sprachen wird heute vorwiegend in Nordafrika vermutet (Lipiński, 42-48; siehe auch Fleisch, 22-30). Das lässt sich zwar nicht schlüssig beweisen, aber die Verwandtschaft des Semitischen mit dem Ägyptischen, Berberischen, Kuschitischen und Tschadischen, wie sie sich vor allem in den Pronomina und einigen Verbalformen zeigt, legt einen engen Kontakt dieser „afroasiatischen“ (früher: „hamitischen“) Sprachen in vorhistorischer Zeit durchaus nahe. Allerdings muss unterschieden werden zwischen der ursprünglichen Heimat und dem Ausstrahlungszentrum. Ebenso wenig können über die reine Verwandtschaft ihrer Sprachen hinaus konkrete ethnische Zusammenhänge zwischen den einzelnen Völkern ermittelt oder ihre frühen Wanderungsbewegungen genau verfolgt werden. Die unvollkommenen Schriftsysteme, mannigfache Berührungspunkte vieler Sprechergruppen untereinander und die nicht zuletzt daraus resultierende Ähnlichkeit der meisten altsemitischen Idiome erschweren es zudem, auf der Grundlage sicher ererbter – also nicht entlehnter – Wörter Einzelheiten einer ursemitischen materiellen Kultur und Lebenswelt zu bestimmen. Man nimmt immerhin an, dass semitische Völker vor ihrer Sesshaftwerdung als halbnomadische Kleinviehzüchter in patriarchalisch organisierten Clans lebten und zunächst hauptsächlich Esel als Trag- sowie Reittiere verwendeten, vielleicht auch schon einen einfachen Ackerbau kannten (Henninger). Damit ist freilich die Grenze zur Spekulation fast schon überschritten.
3. Die Ausbreitung semitischsprachiger Gruppen
Nach etwa 3000 v. Chr. erscheinen unterschiedliche semitischsprachige Kulturen, wenigstens zum Teil in engem Kontakt mit ansässigen Bevölkerungsgruppen, in verschiedenen Teilen des Fruchtbaren Halbmondes auf der Bühne der Geschichte: zuerst in Mesopotamien (Aufstieg der Akkader und Entstehung des Großreiches von → Akkade
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Leiden 1960-2007
- Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
- Der Kleine Pauly, Stuttgart 1964-1975 (Taschenbuchausgabe, München 1979)
- Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005
- Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
2. Weitere Literatur
- Baasten, M.F.J., 2003, A Note on the History of „Semitic“, in: ders. und W.Th. van Peursen (Hgg.), Hamlet on a Hill: Semitic and Greek Studies (FS T. Muraoka), Leuven, 57-72
- Brockelmann, C., 1908-1913, Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen, 2 Bände, Berlin
- Chwolson, D., 1872, Die semitischen Völker: Versuch einer Charakteristik, Berlin
- Fleisch, H., 1947, Introduction à l’étude des languages sémitiques, Paris
- Ginzberg, L., 1909-1938, The Legends of the Jews, 7 Bände, Philadelphia
- Gzella, H., 2010, Expansion of the Linguistic Context of the Hebrew Bible / Old Testament: Hebrew Among the Languages of the Ancient Near East, erscheint in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of its Interpretation, Band III: From Modernism to Post-Modernism: The Nineteenth and Twentieth Centuries, Göttingen
- Henninger, J., 1968, Über Lebensraum und Lebensform der Frühsemiten, Köln / Opladen
- Hess, R.S., 1993, Studies in the Personal Names of Genesis 1-11, Neukirchen-Vluyn (Nachdruck Winona Lake, 2009)
- Hommel, F., 1881, Die Semiten und ihre Bedeutung für die Kulturgeschichte, Leipzig
- Huehnergard, J., 2005, Features of Central Semitic, in: A. Gianto (Hg.), Biblical and Oriental Essays in Memory of William L. Moran, Rom, 155-203
- Kienast, B., 2001, Historische Semitische Sprachwissenschaft, Wiesbaden
- Levi della Vida, G., 1924, Storia e religione nell’oriente semitico, Rom
- Levi della Vida, G., 1938, Les Sémites et leur rôle dans l’histoire religieuse, Paris
- Lewis, J.P., 1968, A Study of the Interpretation of Noah and the Flood in Jewish and Christian Literature, Leiden
- Lipiński, E., 2001, Semitic Languages: Outline of a Comparative Grammar, 2. Aufl., Leuven
- Moscati, S., 1959, The Semites in Ancient History: An Inquiry into the Settlement of the Beduin and their Political Establishment, Cardiff
- Nöldeke, Th., 1892, Orientalische Skizzen, Berlin
- Nöldeke, Th., 1899, Die semitischen Sprachen. Eine Skizze, 2. Aufl., Leipzig
- Noth, M., 1928, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, Stuttgart
- Rottzoll, D.U., 1994, Rabbinischer Kommentar zum Buch Genesis, Berlin / New York
- Ruiten, J.T.A.G.M. van, 2000, Primaeval History Interpreted: The Rewriting of Genesis 1-11 in the Book of Jubilees, Leiden
- Sukenik, E.L., 1934, Ancient Synagogues in Palestine and Greece, London
- Westermann, C., 1966-1982, Genesis (BK I), Neukirchen-Vluyn
Abbildungsverzeichnis
- Sem bedeckt Noahs Scham (Rathaus in Leuven; 14. Jh.). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2008)
- Karte zur sog. Völkertafel (Gen 10), die die Völker der damaligen Welt auf Sem, Ham und Jafet zurückführt. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
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