Sichem
Andere Schreibweise: Shechem
(erstellt: Februar 2011)
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1. Name
„Sichem“ (hebräisch: שְׁכֶם Šǝkhæm), von der kanaanäischen Wurzel ŠKM für „Schulter / Nacken / Rücken“, bezieht sich auf die prominente Lage zwischen den Bergen → Garizim
2. Biblische Überlieferung
Das Alte Testament spiegelt auf vielfache Weise die herausragende Bedeutung eines alten kanaanäischen Kultur- und Kultzentrums: Es bindet den Ort in die Abrahamserzählungen ein, Jakob-Israel wird hier angesiedelt, die „Landnahme“ findet hier ihren rituellen Abschluss, schließlich wird die Stadt kurzzeitig zur Hauptstadt Israels. In der „von Dan bis Beerscheba“ angesetzten Nord-Süd-Ausdehnung des Landes (1Sam 3,20
2.1. Sichem in den Patriarchenerzählungen
Während die → Abrahamstraditionen
Aus derselben Richtung wie Abraham gelangt in Gen 33,18ff
2.2. Der „Landtag von Sichem“
Die Landnahmeerzählungen (→ Landnahme
2.3. Königtum in Sichem
Der „Tempel des Bundes-Herrn bzw. des Bundes-Gottes“ (bêt ba‘al bǝrît, bêt ’ēl bǝrît, Ri 9,4
Nach dem Tod Salomos muss Rehabeam nach Sichem, um sich seine Thronfolge von den Nordstämmen bestätigen zu lassen (1Kön 12
2.4. Sichem / Sychar im Neuen Testament
Zum Schauplatz der Begegnung Jesu mit der samaritanischen Frau wird Joh 4
Wenn → Stephanus
3. Lage und Identifizierung
Sichem wurde 1903 durch Hermann Thiersch mit dem Tell Balāṭa (Koordinaten: 1768.1800; N 32° 12' 49'', E 35° 16' 55''
Schon seine Lage verhalf Sichem zu herausragender Bedeutung. Die zentrale Nord-Süd-Verbindung über den mittelpalästinischen Bergrücken von Hebron und Jerusalem im Süden nach Galiläa und zur Jesreel-Ebene im Norden zwängt sich genau hier durch die Klause von Sichem zwischen den Bergen Garizim und Ebal, deren Öffnung nach Osten der Tell Balāṭa beherrscht. Zusätzlich trifft hier die wichtige Querverbindung vom Jordantal her durch das Wādī el-Fār‘a mit der Höhenstraße zusammen.
4. Ausgrabungen
Ausgrabungen, die die Identifizierung des Ortes bestätigten, wurden (mit längeren Unterbrechungen) von 1913 bis 1934 von dem Alttestamentler Ernst Sellin und dem klassischen Archäologen Gabriel Welter durchgeführt (unter Beteiligung von F.M.Th. Böhl aus Leiden; Böhl, 1926; Horn, 1968; Kerkhof 1969) und 1956-1973 von einer gemeinsamen Mission mehrerer amerikanischer Universitäten unter der Leitung von G. Ernest Wright u.a. (Shechem I-IV). 2010 wurde unter der Leitung von Hamdan Taha und Gerrit van der Kooij ein auf drei Jahre angelegtes, gemeinsames Projekt der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Universität Leiden in Zusammenarbeit mit der UNESCO begonnen, das weitere Grabungen vorsieht und einen Site Management Plan konzipieren und verwirklichen soll.
Der Tell wird von einer gut erhaltenen Stadtmauer aus der Mittleren Bronzezeit (ca. 1650 v. Chr.) eingefasst, von der ein Segment auf über 100 m Länge freigelegt wurde. Mit ihrem kyklopischen Mauerwerk und einer erhaltenen Höhe von bis zu 8 m gehört sie zu den beeindruckendsten archäologischen Sehenswürdigkeiten des Landes aus dieser Epoche. Dominiert wird der Tell von den Resten eines so genannten Migdal-Tempels mit Mazzeben (aufgerichteten Steinen) vor dem Eingang (siehe 4. Geschichte), ebenfalls aus der Mittleren Bronzezeit. Zwei Stadttoranlagen und ein als Palast gedeuteter Komplex entlang der Stadtmauer lassen sich in die Mittel- und Spätbronzezeit datieren, während aus der Eisenzeit sowie aus hellenistischer Zeit vor allem Wohnbereiche freigelegt wurden. Zu den herausragenden Objektfunden gehört ein Hort aus Bronzewaffen der Mittelbronzezeit IIA, darunter ein kunstvoll gearbeitetes, ägyptisches Sichelschwert, das schon 1908 bei Aushebungsarbeiten für ein Haus am Ostrand des Tells zum Vorschein kam (Müller, 1987).
5. Geschichte
Die frühesten Zeugnisse für eine wohl nur bescheidene Besiedlung des Tells reichen in die Kupfersteinzeit (Chalkolithikum, 4. Jt. v. Chr.) und in die darauf folgende Frühbronzezeit I (2. Hälfte 4. Jt. v. Chr.) zurück.
Nach einer langen Besiedlungslücke entsteht um 1900 v. Chr., in der Mittelbronzezeit IIA, eine bedeutende Stadt, die auch in ägyptischen Quellen genannt wird (siehe 1. Name). Sichem nimmt nun eine dominante Position im palästinischen Bergland ein und wird deshalb zum Ziel einer militärischen Expedition Sesostris’ III. (2. Hälfte des 19. Jh.s). Nach einer ersten Ummauerung aus Lehmziegel wird um 1650 v. Chr. die eindrucksvolle kyklopische Stadtmauer errichtet und etwa zeitgleich dazu der sog. Migdal-Tempel („Turmtempel“ oder „Festungstempel“) am höchsten Punkt der Stadt. Das 21 x 26 m große, von einer mehrstöckigen Doppelturmfassade beherrschte Gebäude aus 5 m dicken Mauern dürfte über mehrere Jahrhunderte einen der markantesten Tempelbauten → Kanaans
Unter ägyptischen Eroberungswellen zu Beginn der Spätbronzezeit (ab 2. Hälfte des 16. Jh.s) hat Sichem stark gelitten. In der Folge wurde die Stadtmauer mit ihren komplexen Torbauten – freigelegt sind das Nordwest- und das Osttor – erneuert. Im 14. Jh. wird Sichem als wichtiger Stadtstaat in der Korrespondenz des ägyptischen Hofes von Pharao → Echnaton
Um 1100 v. Chr., in der Eisenzeit I, kommt es erneut zu schweren Zerstörungen und erst rund 200 Jahre später wird die Stadt wieder neu befestigt. Die inzwischen israelitische Stadt findet mit der Eroberung des Nordreiches durch die Assyrer gegen Ende des 8. Jh.s ihr Ende.
In der Perserzeit blüht sie erneut für einige Jahrzehnte (dokumentiert vor allem durch Grabbeigaben), bis sie nach einer Brandkatastrophe zu Beginn des 5. Jh.s verlassen wird.
Unter der hellenistischen Herrschaft der Ptolemäer und Seleukiden bauen → Samaritaner
In römischer Zeit ließ Kaiser Vespasian im Jahr 72 n. Chr. als Nachfolgesiedlung eineinhalb Kilometer westlich des früheren Sichem, wo sich die Klause zwischen Garizim und Ebal in Richtung Mittelmeer öffnet, die römische Stadt Flavia Neapolis gründen und mit Kolonnadenstraßen, Theater, Hippodrom, Amphitheater und einem Jupitertempel auf dem Garizim (Tell er-Rās) ausstatten (Magen, 2005). Der griechische Name der Neugründung, Neapolis („Neustadt“), hat sich im arabischen Nāblus erhalten, während im israelischen Sprachgebrauch das moderne Nablus als Šǝkhæm („Sichem“), bezeichnet wird.
Zu Füßen des Tells, im Umfeld des Josefsgrabes und unweit des Jakobsbrunnens hat schon in römisch-byzantinischer Zeit ein kleines Dorf die Erinnerung an die einst mächtige Stadt weiter getragen. Sein aramäischer Name Ballûṭā „Eiche“ (gräzisiert βάλανος), scheint noch an die im Alten Testament reflektierte Verehrung heiliger Bäume am Ort anzuknüpfen. Im arabischen Balāṭa lebt der Name bis heute fort. Der traditionelle Jakobsbrunnen, der sich in einer unterirdischen Grotte befindet und noch über einen 35 m tiefen Schacht genießbares Wasser liefert, ist erst seit wenigen Jahren mit einer weithin sichtbaren griechisch-orthodoxen Kirche überbaut.
Der kleine, zuletzt wohl osmanische Kuppelbau des Josefsgrabes, der noch im 19. und frühen 20. Jh. von Muslimen, Christen, Juden und Samaritanern gemeinsam als Wallfahrtsziel verehrt wurde, ist dagegen in den letzten Jahren zum Fokus von schweren Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Siedlern und der rein muslimischen Dorfbevölkerung geworden, wurde mehrfach zerstört und besteht nur noch als ausgebrannte Ruine.
Nach dem Dorf Balata ist seit 1948 auch ein angrenzendes Flüchtlingslager benannt.
Literaturverzeichnis
Datenbank Ortsangeben der Bibel (odb)
1. Lexikonartikel
- Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
- The Interpreter’s Dictionary of the Bible, New York 1962
- Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- The New Encyclopedia of Archaeological Excavations in the Holy Land, Jerusalem 1993
- Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
- Archaeological Encyclopedia of the Holy Land, New York 2001
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich 1991-2001
- The New Interpreter’s Dictionary of the Bible, Nashville 2006-2009
2. Ausgrabungsberichte
- Campbell, E.F. / Wright, G.R.H., 2002, The Stratigraphy and Architecture of Shechem / Tell Balâtah, Boston (= Shechem III)
- Campbell, E.F., 1991, Portrait of a Hill Country Vale: The Shechem Regional Survey, Atlanta (= Shechem II)
- Cole, D.P. 1984, The Middle Bronze IIB Pottery, Winona Lake (= Shechem I)
- Lapp, N.L., 2008, The Persian-Hellenistic Pottery of Shechem / Tell Balâtah, Boston (= Shechem IV)
- Magen, Y., 2004, Mount Gerizim Excavations, Vol. I, The Aramaic, Hebrew and Samaritan Inscriptions (Judea & Samaria Publ. 2), Jerusalem
- Magen, Y., 2005, Flavia Neapolis: Shechem in the Roman Period (Judea & Samaria Publ. 5), Jerusalem (hebr.)
- Magen, Y., 2008, Mount Gerizim Excavations, Vol. II, A Temple City (Judea & Samaria Publ. 8), Jerusalem
3. Weitere Literatur
- Böhl, F.M.Th., 1926, De geschiedenis der stad Sichem en de opgravingen aldaar (Mededeelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, Afd. letterkunde 62/B) Amsterdam
- Gaß, E., 2005, Die Ortsnamen des Richterbuchs in historischer und redaktioneller Perspektive, Wiesbaden
- Gaß, E., 2006, Das Gebirge Manasse zwischen Bronze- und Eisenzeit, ThQ 186, 96-117
- Horn, S.H., 1968, Objects from Shechem, JEOL 20, 71-90
- Jaroš, K., 1976, Sichem: Eine archäologische und religionsgeschichtliche Studie mit besonderer Berücksichtigung von Jos 24 (OBO 11), Fribourg
- Kerkhof, V.I., 1969, Catalogue of the Shechem Collection in the Rijksmusuem van Oudheden te Leiden 50, Leiden
- Müller, H.W., 1987, Der Waffenfund von Balâta-Sichem und die Sichelschwerter, München
- Weippert, H., 1978, Rez. Jaroš 1976, ZDPV 94, 167-176
- Wimmer, S.J., 2001, Sichimitica Varia I, Biblische Notizen 109, 21-26
- Wright, G.E., 1965, Shechem: The Biography of a Biblical City, London
Abbildungsverzeichnis
- Karte zur Lage von Sichem. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Der „Landtag von Sichem“ (Kupferstich; Le Clerc, 1722).
- Die Klause zwischen den Bergen Garizim (li.) und Ebal (re.); Blickrichtung Westen. Tell Balāṭa liegt inmitten der modernen Bebauung (Pfeil). © Stefan Jakob Wimmer, Foto 2007
- Der Tell Balāṭa; Blickrichtung Osten. Im Vordergrund die mittelbronzezeitliche Stadtmauer. 1: Nordwest-Tor; 2: Migdal-Tempel, 3: Position des Josefs-Grabes (vom Tell verdeckt); 4: griech.-orth. Kirche des Jakobsbrunnens. © Stefan Jakob Wimmer, Foto 2005
- Die neu erbaute Kirche über dem Jakobsbrunnen. © Stefan Jakob Wimmer, Foto 2005
- Das zerstörte Josefsgrab. © Stefan Jakob Wimmer, Foto 2005
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