Speisegebote (AT)
(erstellt: August 2012)
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→ Getränke
1. Speisegebote als anthropologisches Phänomen
Speisegebote gehören zur kulturellen Ordnung einer bestimmten sozialen Gruppe. Sie stellen insofern ein historisch-anthropologisches Phänomen dar. Ihre Funktion als religiöses Symbol ist, eine Beziehung zwischen Lebensform und Selbst- bzw. Weltdeutung, zwischen natürlichen Gegebenheiten bzw. ökologischen Bedingungen und transzendenter Sinngebung herzustellen. Dabei bilden sie Wirklichkeit ab und strukturieren sie gleichzeitig. Da sie auf der Übereinkunft eines Kollektivs beruhen, sind sie soziale Ereignisse und geben Orientierung. Was als Nahrung gewählt wird, ist weniger individuell, sondern ist sozial vorgegeben. Kulinarische Vorlieben und Abneigungen geben Auskunft über das Selbstkonzept der kulturellen Gemeinschaft. Dieser Entwurf der kollektiven Identität materialisiert sich in tradierten gemeinsamen Ansichten und auch autorisierten Vorstellungen wie den Speisegeboten. Für die Mitglieder der Gemeinschaft sind sie identitätsstiftend. Nach innen wirken sie sozialintegrativ, aber auch gemeinschaftsstrukturierend in Bezug auf Klassen, Geschlechter und Generationen. Speisegebote sind also Ausdruck sozialer Macht und dienen der Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Nach außen grenzen sie von anderen Kulturen und Völkern ab, verweisen also in den Bereich der Ethnologie. Speisegebote sind in der Regel an Tabu-Systeme und Konzeptionen bzw. Zuschreibungen von rein – unrein gebunden. Sie gehören somit zur religiösen Sphäre und fallen in den Bereich der Grenzziehung von Heiligem und Profanem. Eine solche Grenzziehung wird z.B. vorgenommen, wenn das Opfertier der Gottheit nicht gegessen werden darf.
Zu unterscheiden sind Speisegebote in Bezug auf ihre Referenzobjekte (erlaubte bzw. nicht-erlaubte Nahrung) und in Bezug auf die Personengruppen, für die sie gelten. Sie geben Auskunft darüber, welche Handlungen unter welchen Umständen erlaubt sind oder sanktioniert werden. Geregelt werden die Frage der Mahlgemeinschaft verschiedener Gruppen bzw. soziale Abgrenzungsbedürfnisse innerhalb der Gemeinschaft. Die zeitliche Ausdehnung der Speisegebote wird festgelegt. So ist z.B. das Fasten auf eine bestimmte Zeit begrenzt, während andere Regelungen immer währende Geltung beanspruchen. Biographische Ereignisse (z.B. Schwangerschaft) können mit bestimmter Nahrungsaufnahme bzw. -abstinenz verknüpft oder jahreszeitliche Festzeiten durch besondere Vorschriften konstruiert werden.
2. Speisegebote im Alten Testament
2.1. Die Speisegebote
2.1.1. Vegetarischer Urzustand (Gen 1)
Die Schöpfungsordnung sieht vor, dass sich der Mensch vegetarisch ernährt (→ Vegetarismus
2.1.2. Erlaubnis des Fleischgenusses (Gen 9)
Bei der → Sintflut
2.1.3. Vorgang des Schlachtens
Im Rahmen der Gesetzgebung des Buches Leviticus wird die genannte Bestimmung von Gen 9,4
Zum einen wird ergänzt, dass jedes Rind, Schaf oder Ziege, das geschlachtet wird, unter priesterlicher Beteiligung JHWH zu opfern ist. Das → Blut
Zum anderen wird das Verbot des Blutgenusses und Blutvergießens begründet: „Die Lebenskraft des Fleisches sitzt im Blut.“ (Lev 17,11
Später wurde die rituelle Schlachtung auf einem Altar durch das deuteronomistische Konzept der Kultzentralisation überflüssig und die Schlachtung auch unabhängig vom Tempel freigegeben (Dtn 12,15-21
2.1.4. Gebote für die Essenden
Wer Opferfleisch essen will, muss sich im Zustand der kultischen Reinheit befinden (Lev 7,19
Für die Priester werden Reinheitsvorschriften für den Genuss des Opferfleisches bzw. Riten zur Wiedererlangung der Reinheit gesondert ausgeführt (Lev 22,1-9
Wer ein Naziräergelübde ablegt (→ Naziräer
2.1.5. Beschaffenheit der Nahrung
2.1.5.1. Reine und unreine Tiere. Bestimmte Tiere dürfen nicht gegessen werden:
● Alle Landtiere, die wiederkäuende Paarhufer mit gespaltenen Zehen sind, dürfen gegessen werden. Verboten sind damit jedoch → Kamel
● Auch alle Wassertiere, die Flossen und Schuppen haben, dürfen als Nahrung dienen (Lev 11,9-12
● Von den Vögeln dürfen eine ganze Reihe nicht gegessen werden (Lev 11,13-19
● Insekten dürfen nicht gegessen werden, abgesehen von bestimmten Heuschreckenarten (Lev 11,20-23
Tiere, deren Verzehr nicht erlaubt ist, sollen als unrein (hebr. טָמֵא ṭāme’) gelten (Lev 11,8
Die Berührung von unreinen Tieren bzw. Aas kontaminiert Menschen und Gegenstände, z.B. Gefäße und Kochstellen (Lev 11,24-31
Eine Parallelüberlieferung findet sich in Dtn 14,3-21
2.1.5.2. Besonderes Speiseverbot. Die Erzählung vom Kampf am → Jabbok
2.1.5.3. Art der Zubereitung. Verboten ist ferner, ein Ziegenjunges in der Milch der Mutterziege zu kochen (Dtn 14,21
2.1.5.4. Pflanzen. Die Früchte von neu gepflanzten Obstbäumen dürfen in den drei ersten Jahren nicht gegessen werden und sind im vierten Jahr JHWH als Festgabe zu übereignen. Erst im fünften Jahr dienen sie dem Menschen als Nahrung (Lev 19,23-25
2.1.6. Besondere Zeiten
Opferfleisch darf nur am selben oder am folgenden Tag verzehrt werden (Lev 7,2-18
Während der Schwangerschaft darf die Mutter des → Naziräers
2.1.7. Speisen anderer Völker
Die Speisen in Assur, in der Fremde, gelten als unrein (Hos 9,3
2.2. Mögliche Deutungen der Speisegebote
Die Speisegebote zielen darauf, zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre zu trennen bzw. diese Sphären überhaupt erst zu generieren. Das gilt auch für die Gebote zur Darbringung der Erstlingsfrüchte und der Fettanteile an JHWH, bei denen es sich um ein göttliches Privilegrecht (→ Recht
2.2.1. Achtung vor dem Leben
2.2.1.1. Das Verbot des Blutgenusses, das anderen Verboten zugrunde liegt, wird in den Texten selbst damit begründet, dass das Blut der Sitz des von Gott gegebenen Lebens ist (Gen 9,3-6
2.2.1.2. Das Verbot, ein Jungtier in der Milch seiner Mutter zu kochen, mag, da Verbote in der Regel reale Praktiken voraussetzen, auf die Abgrenzung von kanaanäischen Kultpraktiken zielen. Zumindest ist in → Ugarit
2.2.2. Gründe für die Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren
Die biologische Stringenz, die die Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren mit dem Verweis auf die Anatomie des tierischen Fußes und den Verdauungsprozesses vorgeben will, und deren Durchführung befriedigen letztlich nicht. Die biblische Kategorisierung in reine und unreine Tiere hat daher unterschiedliche Erklärungen hervorgerufen.
2.2.2.1. Hygienische und ästhetische Gründe. → Maimonides
Doch ist das Empfinden für Hygiene bzw. auch Ekel kulturell geprägt. Beides gründet nicht in der Beschaffenheit des Tieres selbst bzw. in bakteriologischen Gegebenheiten. Auch die Folgerung, die reinen Tiere seien bekömmlicher, ist nicht zutreffend. Stünden hygienische Gründe im Hintergrund von Lev 11
2.2.2.2. Abgrenzung von anderen Kulten. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass die als unrein erklärten Tiere in den Kulten der Nachbarkulturen Israels eine Rolle gespielt haben. Durch sie sei die religiöse Identität gefährdet worden und deswegen habe man sich von diesen Kulten abgrenzen müssen.
Um die Entstehung der Speisegebote zu erhellen, ist diese Erklärung allerdings unbefriedigend. Zur mutmaßlichen Zeit ihrer Herausbildung spielten gerade die als rein und kultfähig erklärten Tiere eine maßgebliche Rolle in den Israel benachbarten religiösen Symbolsystemen. So wurde in Ägypten die Kuh der → Hathor
2.2.2.3. Moralisierende Deutung. Im hellenistischen und römischen Judentum versuchte man eine moralisierende Erklärung. Die Tiere wurden als Allegorien von Tugenden und Laster verstanden. So bestehe der Zweck der Gebote darin, fromme Gedanken zu wecken und den Charakter zu bilden. Essbare Vögel seien zahm und zeichnen sich durch Reinheit aus; verbotene Vögel seien fleischfressend und vergewaltigen durch ihre Stärke die anderen. Die Besitzer des Gesetzes jedoch sollen Gerechtigkeit pflegen wie die zahmen Vögel und nicht an Schwächeren Gewalt ausüben (→ Aristeasbrief
2.2.2.4. Pädagogische Erklärung. Man hat der Auswahl der für den Verzehr frei gegebenen Tiere auch jeden Sinn abgesprochen, sie als irrational und rein willkürlich bezeichnet, da gerade ihre Willkürlichkeit zum Gehorsamstest des Gläubigen werden kann (z.B. auch Maimonides). Die Speiseverbote hätten also eine rein pädagogische Funktion.
2.2.2.5. Nachträgliche Kodifizierung bestehender Gewohnheiten als göttliches Recht. Als Symbole, die eine Verbindung von natürlichen Gegebenheiten und Weltdeutung schaffen, stellen die Speisegebote überkommene Gewohnheiten in den Zusammenhang einer religiösen Ordnung. Vor dem Hintergrund zooarchäologischer Erkenntnisse über Tierhaltung (Ziegen, Schafe und Rinder seit der Steinzeit) und Jagd (wiederkäuende Tiere mit gespaltenen Hufen wie Gazellen und Antilopen) lassen sich die Speisegebote als nachträgliche Legitimation bestehender Bräuche durch das göttliche Wort verstehen (anders Milgrom, 110). Das Kamel war wegen seiner geringen Reproduktionsrate als Fleischspender uninteressant, Schweinehaltung mit der zunehmenden Bedeutung tierischer Sekundärprodukte ein entbehrlicher Luxus, jedoch nicht gänzlich unüblich (Jes 65,4
2.2.2.6. Aufrechterhaltung der Schöpfungsordnung. Die nachträgliche theonome Begründung der aus ökologischen Gründen bestehenden Essgewohnheiten erklärt aber nicht die Logik des religiösen Symbolsystems, wie es die Texte vorgeben und wie es vor dem Hintergrund ethnologischer Erkenntnisse zu verstehen ist. Maßgeblich beeinflusst hat Erklärungsansätze im Bereich der Exegese die Studie Impurity and Danger von Mary Douglas aus dem Jahr 1966. Das Unreine, das Zweideutige ist das die Ordnung Gefährdende, vor dem das Heilige rituell geschützt werden muss (→ Tabu
Die Kategorisierung nach Lebensräumen in Tiere des Landes, der Luft und des Wassers entspricht der Schöpfungsordnung (vgl. Gen 1,20-25
2.2.2.7. Heiligung des Volkes. Vor dem Hintergrund der Theologie der → Priesterschrift
Indem die Speisegebote durch das Verbot des Blutgenusses zur Achtung des Lebens mahnen und Fleischkonsum einschränken, erhalten sie ethischen Charakter. Sie zähmen die menschliche Neigung zu Gewalt, lehren, in Ehrfurcht jede Form von Leben zu schützen (Bratsiotis, 853; vgl. Milgrom, 103; Douglas 1993), und zeigen weniger Gottes Abneigung gegenüber Unreinheit, sondern sein Mitleid mit jeder Kreatur (Douglas 2002, 73).
2.3. Entwicklung der Speisegebote zum Identity Marker Israels
Die Abgrenzung zu anderen Völkern kann nicht primärer und alleiniger Grund für die Entstehung der Speisegebote sein, bzw. eine Abgrenzung von den Nachbarkulturen ist durch sie zunächst nicht gegeben. Unabhängig von der Begründung der Speisegebote lässt sich jedoch beobachten, dass sie sich zum Identity Marker Israels entwickeln. In den narrativen Überlieferungen spielen sie kaum eine Rolle. Ausformuliert werden die Speisevorschriften in der priesterschriftlichen Systematik frühestens in der Exilszeit. Bedeutung in Abgrenzung von anderen Völkern und gemeinschaftsbildende Funktion erhalten sie erst in nachexilischer Zeit. Tischgemeinschaft mit Nichtjuden ist nicht möglich (Jdt 12,2
Erweckt schon die Kriteriologie von Lev 11
3. Frühjudentum und neutestamentliche Bezüge
Die Beachtung der Speisegebote galt bei Juden sowohl in Israel als auch in der Diaspora als Teil der zu befolgenden Weisung für Israel. Das Spektrum möglicher Interpretation, welches konkrete Verhalten die Tora jeweils erfordere, hingegen war im Frühjudentum weit (vgl. Niebuhr, 16). Mit Bezug auf die Tora, die auch dem Fremden im Land den Genuss von Blut und Aas verbietet (Lev 17,10-16
3.1. Die Frage nach der Gültigkeit der Speisegebote für Nichtjuden
Die paulinische Briefliteratur spiegelt Fragestellungen wider, die sich in den Gemeinden des Paulus beim Zusammentreffen von Nichtjuden und Juden im Hinblick auf das Essen ergeben. Die Stellungnahmen von → Paulus
Die Frage nach der Tischgemeinschaft wird zum Auslöser des sog. → Antiochenischen Zwischenfalls
Bei den Auseinandersetzungen in Korinth, die sich im 1.Korintherbrief spiegeln, steht nicht die Frage nach der Tischgemeinschaft im Vordergrund, sondern die nach den Speisen heidnischer Gastgeber, dem Götzenopferfleisch, das in Verbindung mit fremden Kultpraktiken steht (1Kor 8-10
Auch in der Gemeinde von Rom gibt es einen Disput zwischen den Gemeindemitgliedern, die alles essen, und anderen, die gewisse Speisen als „unrein“ betrachten (Röm 14,1
Eine definitive Abwendung von den Speisegeboten erfolgt erst in der deuteropaulinischen Literatur. Im Rahmen einer Warnung vor Irrlehren werden Essensvorschriften zurückgewiesen (Kol 2,16
3.2. Speisegebote im Kontext der Jesus-Überlieferungen
Die Frage, wie die Tora adäquat auszulegen ist, wird auch mit Rekurs auf das Wirken Jesu erörtert. Zur Bewertung dieser Auslegungen der Tora ist zu beachten, dass eine Unterscheidung zwischen kultischen und ethischen Geboten eine moderne Differenzierung darstellt.
Die markinische Überlieferung präsentiert eine Praxis der Pharisäer und „der Juden“, die nicht mit unreinen, also ungewaschenen Händen essen und auch Gefäße mittels Waschungen reinigen. Mit Rückgriff auf Jesaja (Jes 29,13
→ Matthäus
4. Wirkungsgeschichte
4.1. Judentum
4.1.1. Begründung und Bedeutung der Speisegebote
Unter dem äußeren Druck der griechisch-römischen Intellektuellen (vgl. Tacitus, Petronius, Iuvenal), die die „barbarischen Sitten“ der Juden wie das Schweinefleischtabu diffamieren, suchen jüdische Kreise angesichts der rational nicht nachvollziehbaren Taxonomie der Speisegebote Vernunftgründe für diese (s.o. 2.2).
Andere Traditionen verstehen die Speisegebote als unergründlichen Willen Gottes: „Lass den Mann nicht sagen, ich esse kein Schweinefleisch. Er sollte vielmehr sagen, ich esse es gerne, aber ich darf es nicht essen, denn die Tora verbietet es mir.“ (Sifra 11,22). Im Babylonischen Talmud (Traktat Yoma 67b; Text Talmud
4.1.2. Ausfaltung der Kaschrut
Unabhängig von der Frage ihrer Begründung werden die mosaischen Gebote weiter im Hinblick auf für den Konsum erlaubte Tiere, die Art der Zubereitung und die Trennung von Milchigem und Fleischigem ausgefaltet und so ein Zaun um die Bestimmungen der Tora gezogen. Die mündliche Tora füllt die Leerstellen, die die schriftliche Tora gelassen hatte, indem z.B. Charakteristika reiner Vögel genannt werden (Mischna, Traktat Chullin 3,6) oder mehr als siebzig Verletzungen aufgeführt werden, die den Tatbestand טְרֵפָה ṭərefāh (unverzehrbares, gerissenes Tier, Ex 22,30
Die Wurzel כשׁר kšr „angemessen sein“ begegnet in der Hebräischen Bibel nur in Est 8,5
4.1.2.1. Bestimmung erlaubter Tiere. Die Tatsache, dass nicht alle biblisch genannten Tiere zweifelsfrei identifiziert werden können, führt ebenso wie die Tatsache, dass sich die jüdische Religion in andere Länder und Kontinente verbreitet, zur Notwendigkeit, weitere Kategorien zur Bestimmung reiner und unreiner Tiere zu bilden.
4.1.2.2. Zubereitung. Die rituelle Schlachtmethode des Schächtens (→ Schlachtung
4.1.2.3. Trennung von Milchigem und Fleischigem. Aus dem Verbot, das Junge nicht in der Milch der Mutter zu kochen, leiten die Rabbinen die Unterscheidung von Milchigem und Fleischigen ab (Mischna, Traktat Chullin). Diese wird zu den wichtigsten Elementen der Kaschrut-Gesetzgebung. Dabei gelten alle aus Milch gewonnen Produkte als „milchig“. Auch Behälter, Geschirr, Besteck müssen getrennt aufbewahrt, gespült und mit unterschiedlichen Tüchern abgetrocknet werden. Zwischen dem Verzehr einer fleischigen und einer milchigen Speise muss je nach Tradition ein unterschiedlicher Zeitraum vergehen. Früchte, Gemüse und Fisch gelten als neutral (parve).
4.1.3. Gegenwärtige Entwicklung
Vertreter der Reformbewegung versuchten Ende des 19. Jh.s, die Speisegebote für überholt zu erklären. Ebenso wie die mit ihnen in Verbindung stehenden Reinheitsgebote und die priesterlichen Opferbestimmungen wurden sie als zeitbedingt und daher nicht für religiöse und ethische Anweisungen bindend bestimmt. Auch wenn die Pittsburgh Conference (1885) sich in diesem Sinne aussprach, hielt sie jedoch niemanden von der Observanz der Speisegebote ab. Gegenwärtige Vertreter des Reformjudentums kehren wieder zu traditionellen Bräuchen zurück, ermutigen zur Beachtung der Speisegebote als Teil des alltäglichen spirituellen Lebens. Für konservativ ausgerichtete Juden steht die Bedeutung der Speisegebote außer Frage.
Da jüdisches Leben immer und überall in Auseinandersetzung mit anderen Kulturen gestanden hat, gibt es nicht die jüdische Küche. Nicht einzelne Speisen oder Gerichte sind „typisch jüdisch“, sondern Merkmal jüdischer Küche ist die Befolgung der Kaschrut. Sie ist allgemein gesprochen neben jüdischer Erziehung und Synagogenbesuch auch in der Gegenwart einer der wichtigsten Identity Marker der jüdischen Religion (vgl. Mitz Geffen, 658).
4.2. Christentum
Unter Berufung auf Evangelien und Briefe (Mk 7,19
Gleichzeitig wird aber auch das Konzept kultischer Reinheit, zu der essentiell auch die Speisegebote gehören, fortgeführt. Sowohl im westchristlichen Kontext als auch im byzantinischen und orientalisch-orthodoxen Raum entwickeln sich v.a. seit dem 6. Jh. Sammlungen und Rechtsvorschriften, die als „eine Form christlicher Halacha zur Reinheitstora“ (Synek, 24) einzuordnen sind. Diesem Konzept entsprechend haben Verunreinigungen Konsequenzen für die Kulttauglichkeit, also den Zugang zum Heiligen.
Die christliche Entwicklung kann also nicht für sich reklamieren, die Reinheitsthematik allein auf die ethische Ebene zu verlagern. Sie tut dies auch nicht exklusiv, da sich eine ethische Akzentuierung sowohl biblisch als auch in der jüdischen Rezeption seit dem Hellenismus findet.
4.3. Islam
Positive Hinweise zum Verzehr von Nahrungsmitteln finden sich im Islam mit der Aufforderung, Arme zu speisen (Sure 76,8-9; 74,44; Text Koran
Der Islam übernimmt das Verbot von Aas, Blut und Schweinefleisch, räumt aber als Ausnahme Zwang und Bedrängnis durch Hunger ein (Sure 2,173; 5,3). Als Aas gilt das verendete oder nicht rituell geschlachtete Tier. Damit der Verzehr von Fleisch erlaubt (arab. ḥālal) und nicht unrechtmäßig (arab. ḥāram) ist, muss das Blut vollständig ausfließen. Die rituelle Schlachtung erfolgt Richtung Mekka und unter Anrufung des Namens Gottes. Allerdings werden in den Hadithen lokale Essgewohnheiten als kulturell bedingt reflektiert (Sahih al Buchārī, VII, 65, 303).
Speisen der „Schriftbesitzer“ (im Koran Bezeichnung für Juden und Christen) werden nicht abgelehnt. Zum Boundary Marker des Islam entwickelt sich das Verbot von Alkohol mit dem Verweis auf den Satan, der durch Rauschmittel den Menschen vom Gedanken an Allah abhalten wolle (Sure 5,90-91).
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Encyclopaedia Judaica, Detroit 2007
- Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009
2. Weitere Literatur
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- Douglas, M., 1988, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellung von Verunreinigung und Gefahr, Frankfurt a.M. (englisches Original: Purity and Danger, 1966)
- Douglas, M., 1993, The Forbidden Animals in Leviticus, JSOT 59, 3-23
- Douglas, M., 2002, Leviticus as Literature, Oxford
- Douglas, M., 2002, The Compassionate God of Leviticus and his Animal Creation, in: M. O’Kane u.a. (Hgg.), Borders, Boundaries and the Bible, Sheffield, 61-73
- Ego, B., 1997, Reinheit und Schöpfung. Zur Begründung der Speisegebote im Buch Leviticus, ZAR 3, 131-144
- Gerstenberger, E.S., 1993, Das 3. Buch Mose: Leviticus (ATD 6), Göttingen
- Heil, C., 1994, Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus (BBB 96), Göttingen
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- Hübner, U., 1989, Schweine, Schweineknochen und Speiseverbot im alten Israel, VT 39, 225-236
- Janowski, B. / Neumann-Gorsolke, U., 1993, Motive und Materialien 7. Reine und unreine Tiere, in: dies. (Hgg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des Alten Israel, Neukirchen-Vluyn, 214-218
- Keel, O., 1980, Das Böcklein in der Milch seiner Mutter und Verwandtes im Lichte eines altorientalischen Bildmotivs (OBO 33), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
- Kornfeld, W., 1965, Reine und unreine Tiere im Alten Testament, Kairos 7, 134-147
- Löhr, H., 2003, Speisenfrage und Tora im Judentum des Zweiten Tempels und im entstehenden Christentum, ZNW 94, 17-37
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- Mitz Geffen, R., 2007, Art. Dietary Laws, in: Encyclopaedia Judaica, Detroit, 650-659
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- Schorch, S., „A Young Goat in its Mother’s Milk”? – Understanding an Ancient Prohibition, VT 60 (2010) 116-130
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- Stübekind, K., 1997, Was heißt „rein“ und „unrein“ in der Bibel? Eine theologische Annäherung an die Speisegebote und das kultische Denken im Alten Testament, ZThG 2, 27-58
- Synek, E., 2012, „Wenn eine Maus in den Brunnen fällt …“. Rezeptionsgeschichtliche Anmerkungen zu ακαθαρσία unter bes. Berücksichtigung der byzantinischen Rechtsgeschichte, PzB 1, 21-41
- Warning, W., 2002, Terminologische Verknüpfungen und Leviticus 11, BZ 46,1, 97-102
- Willi-Plein, I., 1993, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel (SBS 153), Stuttgart
- Willi-Plein, I., 2004, Art. Speisegebote / Speiseverbote / Speisegesetze II. Altes Testament, in: RGG 4. Aufl., Tübingen, VII, 1551-1552
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