Staat (AT)
(erstellt: Februar 2013)
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1. Begriffsklärungen
1.1. Die Begriffe „Staat“ und „Politik“
Alttestamentliche Veröffentlichungen sprechen fast selbstverständlich vom „Staat“ und beziehen sich dabei in der Regel auf die Zeit der Monarchien im Nordreich Israel und im Südreich Juda. Fast genauso selbstverständlich wird die Geschichte Israels in drei Epochen eingeteilt: die vorstaatliche, staatliche (= monarchische) und die nachstaatliche Zeit. Keine dieser Festlegungen kann jedoch fraglos als Grundlage der folgenden Ausführungen dienen.
Die meisten Staatskundler unterscheiden einen engeren und einen weiteren Begriff des Staates. Der engere umfasst nur den Staat der europäischen Neuzeit, für den folgende Merkmale kennzeichnend sind:
„Territorialität der Ordnung (Gebietsherrschaft), Gewaltmonopol, Zentralisierung und organisatorisch-hierarische Durchbildung der Herrschaftsbefugnis, Souveränität als Verfügungsmacht über den Rechtszustand, aktenmäßig arbeitende Verwaltung, Institutionalisierung von Ämtern durch genau umgrenzte Aufgabenbereiche und die Trennung von Amt und Person.“ (Böckenförde, 5)
Auf alle vormodernen Herrschaftsgebilde einschließlich der griechischen Polis sei der weitere Begriff der „politischen Ordnung“ anzuwenden, vom Staat könne nur im uneigentlichen Sinne die Rede sein (Böckenförde, 6, ähnlich Ottmann, 7-18).
Der Begriff des Politischen ist demgemäß ein weiterer, jedoch ebenfalls nicht universaler. Er kann erstmals auf die Stadtstaaten des antiken Griechenland angewandt werden, denn eben in diesen Staaten habe sich die Entdeckung „des Handelns, der Wahl und der Entscheidung“ (Ottmann, 13) vollzogen (vgl. auch Meier). Auf die altorientalischen Reiche sei dagegen weder der Begriff des Staates noch der des Politischen anwendbar:
„Der Pharao etwa hat das kosmische Ordnungsprinzip, die Ma’at zu wahren; er muß den Kosmos vor dem Chaos bewahren, und dazu ‚handelt‘ er zeremoniell, kultisch, rituell; er wahrt die kosmischen Rhythmen, aber er wählt und entscheidet nicht.“ (Ottmann, 13)
Dieser Position gegenüber hat der Ägyptologe Rolf Gundlach die Anwendung des Staatsbegriffs auf altorientalische Reiche verteidigt (→
König / Königtum in Ägypten
„In seiner Innenansicht stellt sich der ägyptische (und ich glaube, man kann das verallgemeinern und sagen:) der altorientalische Staat als ein Institut der Gerechtigkeit dar. Ma’at, also Recht, Wahrheit, Ordnung in Ägypten, kittu und mescharu, also Recht und Gerechtigkeit in Mesopotamien, und ascha, Gerechtigkeit und Wahrheit in Altiran sind die zentralen Begriffe aller politischen Diskurse, die es auch hier gegeben hat, auch wenn sie nicht um die Frage nach der besten Verfassung, sondern eher um die Grundlagen von Herrschaft und Gemeinschaft kreisten.“ (Assmann, 2)
Es scheint also angemessen, auch im Bereich des Alten Orients und des Alten Israel von einem Staat zu sprechen (so schon Smend, 187). Eine auf archäologischen Daten basierende Definition des Staates nennt u.a. folgende Indizien: eigene Verwaltungssprache und -schrift, Monumentalarchitektur in Stein, Massenproduktion von Keramik, staatliche Funktionalbauten, zentrale Organisation, Grenzsicherung durch Forts, überregionale Vorratshaltung (vgl. Berlejung, 374; zum Aspekt der Verwaltung vgl. Rüterswörden, 2009).
In welchem Maße herrschaftliches Handeln auch im Alten Orient von Verhandlungen und Entscheidungen zwischen verschiedenen Akteuren geprägt ist, kann auf Grund der Quellenlage insbesondere am Beispiel von →
Mari
Wichtig ist auch, dass der Begriff der Staatlichkeit nicht an die volle Souveränität gebunden ist. Auch in unserer Gegenwart spricht man im Zusammenhang von nicht vollsouveränen Gemeinwesen von Staaten („Freistaat Bayern“, „State of Michigan“, „Bundesrepublik Deutschland“ unter dem Alliierten Vorbehaltsrecht bis 1990). Dasselbe gilt für die Antike: Eine Polis unter athenischer Hegemonie bleibt eine Polis, ein Königtum unter assyrischer Oberherrschaft bleibt ein Königtum, eine Provinz behält das Recht, ihre inneren Angelegenheiten selbständig, fallweise mit Zustimmungsvorbehalt, zu regeln.
1.2. Die Epochen der Geschichte Israels und Judas
In der Frühphase der Pentateuchkritik war noch die Auffassung verbreitet, Mose habe den Israeliten vor der Zeit der Landnahme eine Staatsverfassung gegeben, die dann von der Monarchie abgelöst wurde. Die Pentateuchkritik allgemein (→
Pentateuchforschung
„Die Institution des Königtums auf dem Boden Israels war nun [im Jahr 587] zu Ende gegangen. Sie war aufs Ganze der Geschichte Israels gesehen nur eine Episode gewesen. Sie war erst aufgekommen, nachdem die israelitischen Stämme vereint in einem sakralen Bunde schon über zwei Jahrhunderte lang auf dem Boden des palästinischen Kulturlandes gelebt hatten; und sie hatte als unabhängige Einrichtung in den beiden Staaten Israel und Juda nicht länger als nur zweieinhalb Jahrhunderte bestanden; dann war nur noch das Vasallenkönigtum im Staate Juda für anderthalb Jahrhunderte davon übriggeblieben. Für mehr als vier Jahrhunderte blieb in der Folgezeit Israel ohne König und ohne staatliches Eigenleben.“ (Noth, 262) … „Israel war nunmehr die große Kultgemeinde dieses Heiligtums [des zweiten Tempels].“ (Noth, 284)
Dieses klassisch gewordene Bild der staatlichen Entwicklung Israels ist im Blick auf alle drei Epochen zu hinterfragen.
1. Im Blick auf die vormonarchische Epoche ist zuerst zu fragen, ob und wenn ja, welche Quellen für eine Rekonstruktion der gesellschaftlichen Verfasstheit Israels in jener Zeit zur Verfügung stehen. Die Texte des Pentateuch / Hexateuch kommen dafür aus zwei Gründen nicht in Frage: Erstens – dies ist bekannt und muss hier nur wiederholt werden – stammen sie aus sehr viel späteren Zeiten und enthalten keine historisch verwertbaren Informationen über die Herrschaftsstrukturen der vor-monarchischen Zeit. Zweitens – und das ist noch viel wichtiger – beschreiben sie überhaupt gar keine vorstaatliche Zeit, denn in gewisser Weise ab den Vätergeschichten der Genesis, dann aber vor allem ab dem → Exodusbuch
2. Die Monarchie erscheint im Leseablauf des → Deuteronomistischen Geschichtswerks
Sachgemäßer ist es, das Selbstverständnis der Pentateuch- / Hexateuch-Texte zu beachten, die eben keine Erinnerungen an vormonarchische Zeiten sein wollen, sondern Programmatik für eine nachmonarchische Staatlichkeit. Und dies gilt nicht nur für den Endtext, sondern für alle Stadien der Literargeschichte des Hexateuch (Oswald, 2009, 86-144.185-228).
3. Im Blick auf die nach-monarchische Epoche ist zu fragen, auf welche Weise die Bewohner des ehemaligen Nordreichs Israel nach 722 v. Chr. und die des ehemaligen Südreichs Juda nach 587 v. Chr. politisch institutionalisiert und organisiert waren. Insbesondere ist zu hinterfragen, ob das nachmonarchische, babylonier- und perserzeitliche Juda tatsächlich als Religionsgemeinschaft zu verstehen ist, ob also das bekannte und in der Sache oft wiederholte Urteil Wellhausens, „alles Politische im Gesetz ist phantastisch“ (Wellhausen, 2004, 169, Anm. 1) zutrifft und ob die Existenz Israels als Volk mit dem Untergang der Monarchie Vergangenheit war (so etwa Perlitt; Rüterswörden, 1987; zur Kritik an dieser Hypothese vgl. Blum).
Zielführend ist eine realistische Einschätzung der Gesetze des Pentateuch. Sie spiegeln tatsächlich nicht einfach die gegenwärtig (oder auch traditionell) gültige Rechtspraxis, vielmehr handelt es sich durchweg um Reformgesetzgebungen (Albertz, 310; Hagedorn, 283). Das heißt aber nicht, dass diese Gesetze utopisch oder gar phantastisch sind, sondern lediglich, dass sie in Teilen noch nicht praxiserprobt waren und daher mehrfach revidiert werden mussten. Dieser Revisionsprozess hat sich in der Literargeschichte der pentateuchischen Gesetze niedergeschlagen: →
Bundesbuch
Versteht man die Gesetzeswerke des Pentateuch nicht als Schreibtischgelehrsamkeit (so etwa Levinson, 2005), sondern als Verfassungen und die Literargeschichte des Pentateuch / Hexateuch als Reflex und Motor der staatlichen Entwicklung des nachmonarchischen Israel bzw. Juda, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild der Geschichte der Staatlichkeit Israels: Vormonarchische Zeit => Epoche der Monarchien => teilautonome Provinzen unter wechselnden Oberherrn. Diese Auffassung wird weiter unten entfaltet. Damit ist aber die traditionelle Epochengliederung der Geschichte Israels in eine vorstaatliche, eine staatliche und eine nachstaatliche Zeit in zweierlei Hinsicht in Frage gestellt.
Erstens hat es eine vorstaatliche Zeit, die über Jahrhunderte hinweg aus den Pentateuchtexten erschlossen werden könnte, nie gegeben. Das Königtum ist kein Spätling in Israel und auch keineswegs nur eine Episode gewesen, sondern die erste und auch traditionelle Form der gesellschaftlichen Verfasstheit Israels. Zweitens hat es auch eine nachstaatliche Zeit nicht gegeben, sondern allein eine nachmonarchische. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie entwickelten die Provinzen Samaria und Juda je eigene Formen von teilautonomer Staatlichkeit. Als religiöse Gemeinschaft hat sich Israel zu keinem Zeitpunkt der alttestamentlichen Zeitgeschichte verstanden.
2. Der Beginn der Monarchie in Israel und Juda
2.1. Ein Anfang der Staatlichkeit?
Unabhängig vom Quellenwert der alttestamentlichen Texte ist festzuhalten, dass die Gesellschaften der Levante seit der Bronzezeit staatliche Strukturen aufweisen, zum einen in Gestalt des sog. bronzezeitlichen Stadtstaatensystems, zum andern in Gestalt der ägyptischen Oberherrschaft in der Region während des →
Neuen Reiches
Historisch bedeutungsvoll ist der Rückgang der bronzezeitlichen Stadtstaaten und das Hervortreten einer Dorfkultur vor allem im Bergland in der →
Eisenzeit I
Die mutmaßlich ältesten Texte der →
Samuelbücher
2.2. Die Frühzeit
Der archäologische Befund wie auch der kritisch erhobene biblische Befund konvergieren dahin, dass zu Beginn der Königszeit ein voll augebautes Staatswesen noch nicht vorhanden war. Saul hat nur einen Beamten, den Heerführer →
Abner
Es besteht ein gewisser Konsens, dass das – im Positiven wie im Negativen – idealisierte Bild Salomos und seiner Herrschaft eine spätere Verklärung darstellt, die „Salomonische Renaissance“ (Gerhard von Rad) ist ein literarisches Produkt ohne historischen Anhalt. Demgegenüber ist der historische Gehalt der Darstellung der Herrschaft Sauls und Davids heftig umstritten, weil das wesentlich bescheidenere Bild, das die Texte der Samuelbücher bieten, nach Auffassung mancher Forscher auf die Verarbeitung zeitgenössischer Überlieferungen deutet. Generell geht es um die Frage, ob und inwiefern es ein „Davidisch-Salomonisches Großreich“ gegeben hat. Während ältere Darstellungen dies noch durchweg annahmen (etwa Donner, Teil III: Das Zeitalter der Staatenbildungen), wird heute allenfalls noch von einem „davidisch-salomonischen Reich“ (Dietrich, 1997, 169) gesprochen. Das Urteil darüber hängt u.a. von der Datierung bestimmter archäologischer Funde ab (vgl. dazu Zwickel, 57-61).
Für die historisch-kritische Rekonstruktion der Herrschaftsverhältnisse in der frühen Königszeit wurden verschiedene Modelle vorgeschlagen: Segmentärer Staat, Häuptlingstum / chiefdom und früher Staat / early state.
2.2.1. Segmentärer Staat
Soziologisch-ethnologische Studien in afrikanischen und asiatischen Gesellschaften haben einen Typus von Gesellschaften beschrieben, in denen Sippen und Stämme ohne Zentralinstanz interagieren. Dafür wurde die Bezeichnung „segmentäre Gesellschaft“ eingeführt (Crüsemann, 1978, 203, im Anschluss an Sigrist), gelegentlich wird auch der eigentlich weitere Begriff „akephale Gesellschaft“ verwendet. Mit diesem soziologischen Modell werden die in
Ri 2-16
2.2.2. Häuptlingstum
Die soziologisch-ethnologische Begriffsbildung unterscheidet akephale Stammesgesellschaften von kephalen. „Kephal verfasste ‚Stämme‘ weisen die Charakteristika des Häuptlingstums auf: Dominanz der Häuptlingssippe, Appropriation der politischen und militärischen Führungsposition, Akkumulation von Besitz, generalisierte administrative Kompetenz.“ (Schäfer-Lichtenberger, 2.5). Die Richterzeit wird in der alttestamentlichen Forschung häufig als akephale Gesellschaft verstanden, die keine Verstetigung von Exekutivgewalt kennt, während man die Folgezeit als kephale Stammesherrschaft versteht, in der zunächst Saul, dann David die Rolle des Häuptlings innehatte. Während man diese Phase des Häuptlingstums zunächst auf Saul und den frühen David beschränkte, hat man sie im Gefolge der Infragestellung des „Davidisch-Salomonischen Großreiches“ stark ausgedehnt. Kennzeichen eines voll ausgebildeten Staates sind ein „Funktionärsnetz als personales Verwaltungs-Herrschaftsmittel, königliche Bauten und Funktionalorte … Gerichts- und Kultorganisation sowie Landesgliederung als königliche Herrschaftsmittel“ (Niemann, 281). Das trifft auf die frühe Königszeit nicht zu, vielmehr könne „für das Südreich Juda erst ab Ussia, für das Nordreich Israel ab Omri, von einem ‚Staat‘ gesprochen werden“ (Niemann, 282).
2.2.3. Früher Staat
Kessler (1992, 157-160) hat demgegenüber das Modell des „frühen Staates“ in die Diskussion eingebracht. Denn ein Kennzeichen des Häuptlingstums ist, dass der Häuptling „seine Autorität, sein Charisma ständig neu bewähren muß. … Bei weiterer … Hierarchisierung (= Stratifikation) der Gesellschaft entsteht eine staatliche Organisation. Der Staat verfügt im Unterschied zum chiefdom über das Monopol der faktischen Gewalt, besitzt einen ‚Erzwingungsstab‘, Macht und Ränge sind institutionalisiert.“ (Niemann, 7, Anm. 34). Nun zeigen jedoch sowohl die biblische Darstellung als auch der epigraphische Befund („Haus Davids“ auf der Tell-Dan-Stele), dass sich Juda seit seinen Anfängen als dynastische Monarchie verstanden hat und etliche der genannten Kennzeichen des Staates schon vor dem 8. Jh. gegeben sind (Kessler, 2003). Er schlägt daher eine andere Epochengliederung vor: Unter Saul und dem frühen David war Israel / Juda ein „unvollkommener früher Staat / inchoate early state“, danach ein „typischer früher Staat / typical early state“. Der „im Übergang befindliche frühe Staat / transitional early state“ ist das letzte Stadium, auf den dann der „voll entwickelte Staat / mature state“ folgt. Dieser Übergang erfolgte – und darin besteht auch bei unterschiedlicher soziologisch-ethnologischer Begrifflichkeit Einigkeit – im Nordreich Israel in der ersten Hälfte des 9. Jh.s, im Südreich Juda in der zweiten Hälfte des 8. Jh.s.
3. Die monarchische Staatlichkeit in Israel und Juda
Die Königreiche Israel und Juda waren staatstypologisch Monarchien mit dynastischer Thronfolge und verkörpern damit einen Typus von Staat, der im Alten Orient mit einer gewissen Variationsbreite der Normalfall war. Das besondere Merkmal dieser Staaten war ihre theoretische Konzentration auf den König, die sog. altorientalische Königsideologie (→
Königtum
„Der König ist nach aegyptischer Auffassung ein immanenter Teil der von den Göttern am Anfang begründeten und durch ihren Spruch geschaffenen Weltordnung, die die Welt der Natur und die menschliche Welt mit ihren Ordnungen als einheitlichen, in sich zusammenhängenden Kosmos auffaßt und in der der König die Aufgabe hat, diese von den Göttern gesetzte Weltordnung, die ‚Maʽat‘, die Wahrheit, Recht und Ordnung in einem ist, auf Erden zu gewährleisten und für ihre stets richtige Erfüllung zu sorgen.“ (Meyer, 10).
Der ägyptische Staat ist ein „Einpersonenstaat … Das Königtum, d.h. das königliche Amt, getragen von einer Einzelperson, ist der Staat schlechthin, während sämtliche Beauftragte, gleich, aus welchem Verwaltungszweig sie stammten, nur Helfer sind …“ (Gundlach, 11; →
Königtum in Ägypten
In den mesopotamischen Reichen war die mythische Einordnung des Königtums in die göttliche Weltordnung weniger ausgeprägt. Der mesopotamische König war nicht mythischer Teil der Weltordnung, sondern „Hüter der Weltordnung“ (Maul), in ihm waren Recht und Ordnung nicht inkarniert, vielmehr war jeder Herrscher aufgefordert, sich „aufs Neue mit der Schaffung und Wahrung von Recht und Gerechtigkeit als Herrschaftsauftrag zu befassen und diese im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten zu verwirklichen“ (Cancik-Kirschbaum, 66; →
Königtum im Alten Orient
Recht und Gerechtigkeit werden im staatstheoretischen Paradigma des Alten Orients weder durch eine Verfassung gewährleistet noch durch Inhaber von Wahlämtern umgesetzt, sondern allein durch das Recht setzende und Recht schaffende Herrschaftshandeln des Königs und seiner ihm persönlich verantwortlichen Offiziellen. Assmann hat das Organisationsprinzip dieses Staatstypus mit dem Begriff „vertikale Solidarität“ bezeichnet. Diese „bedeutet Verantwortung und Schutz von oben nach unten, Loyalität und Gehorsam von unten nach oben“ (Assmann, 4).
Für die Königtümer der Levante und die mit ihnen verbundenen Staatswesen ist die Quellenlage weitaus schlechter als für die beiden großen Flusskulturen, die wenigen Zeugnisse deuten jedoch auf eine weitgehende Übereinstimmung (für Ugarit vgl. Niehr 1996a, für Phönizien vgl. Niehr 1996b). Auch in den Zeugnissen über die Monarchien in Israel und Juda finden sich zahlreiche Elemente der altorientalischen Königsideologie, die Unterschiede „waren eher fließend“ (Albertz, 176).
Auch in Juda galt der König als Sohn Gottes (
2Sam 7,14
Das dynastische Grundprinzip wird auch dadurch nicht in Frage gestellt, dass im Königreich Israel die Dynastien mehrfach wechselten. →
Albrecht Alt
Beide Königreiche gerieten im Laufe ihrer Geschichte unter die Hegemonie von Großmächten, sodass der jeweilige Monarch zum Vasallen des Großkönigs wurde. Herbert Donner hat für die Herrschaft des neuassyrischen Königs →
Tiglat-Pileser III.
1. Unterwerfung des regierenden Königs zum Vasallen; Verpflichtung zu jährlichen Tributleistungen; Beistand bei Kriegszügen.
2. Bei Unbotmäßigkeit des Vasallen: Militärische Intervention; Absetzung des abtrünnigen Königs und Einsetzung eines anderen Abkömmlings der lokalen Elite; Deportation von illoyalen Personen; Gebietsabtretungen; verstärkte Tributpflicht.
3. Bei abermaliger Unbotmäßigkeit: Militärische Intervention; Absetzung des abtrünnigen Königs; Umwandlung in eine Provinz; Einsetzung eines Statthalters; Deportation der Oberschicht.
4. Die nachmonarchische Staatlichkeit in Israel und Juda
Mit der Umwandlung eines Königreiches zur Provinz verschwinden keineswegs alle gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere erlischt nicht die Notwendigkeit, die Bevölkerung in gewisser Weise zu organisieren. Daher behielt jede unterworfene Entität (Stadt, Volk, Stamm etc.) seine innere Struktur bei oder aber entwickelte eine geeignete. Für den jeweiligen Oberherren war es nur „von geringerer Bedeutung … welches die Formen des Entscheidungsprozesses auf lokaler Ebene waren“ (Frei, 109). Die nachmonarchischen Gemeinwesen in Israel und Juda haben unter dem Dach des Provinzstatus drei Typen von teilautonomer Staatlichkeit entwickelt: den Stämmeverband, den Bürgerstaat und den Tempelstaat. Hinzu kommt im Fall der Judäer eine prophetisch geprägte Übergangsphase.
Im Folgenden werden die Begriffe „teilautonom“ und „substaatlich“ in gleicher Weise gebraucht und beziehen sich auf das Gemeinwesen in der jeweiligen Provinz. Der Begriff „staatlich“ ist ein weiterer kann sowohl auf die hegemoniale Macht als auch das teilautonome Gemeinwesen angewandt werden.
4.1. Die Übergangsphase
Unter den im Jahr 597 Deportierten wie auch unter den im Jahr 587 in Juda Zurückgebliebenen entstand trotz der vorhandenen babylonischen Administration nach der Entmachtung des Königs ein innenpolitisches Machtvakuum (
Klgl 4,20
Die besten Belege dafür liefern die Kapitel 40-42 des →
Jeremiabuches
Die Übertragung eines Teils der königlichen Leitungsfunktionen auf einen Propheten war auch bei den nach Babylon Deportierten das einzig mögliche Verfahren, zu einer legitimen Herrschaftsausübung zu kommen. Zuerst ist hier der Prophet →
Ezechiel
4.2. Der Bürgerstaat
Die Staatsform des Bürgerstaates („Polis“) kann man für unsere Zwecke am besten in Abgrenzung zur traditionellen altorientalischen Monarchie definieren:
„Auszugehen ist dabei von den beiden grundsätzlich verschiedenen Formen der Zugehörigkeit zu einem staatlichen Verband, wie sie die alte Welt des mediterranen und des vorderasiatischen Kulturkreises gekannt hat. In den Monarchien Ägyptens, Mesopotamiens oder Kleinasiens war die staatliche Macht in der Institution des Monarchen konzentriert. Alle, die in seiner Reichweite lebten, waren im Prinzip seine Untertanen und gehörten zu dem durch die Monarchie verkörperten Staat. Demgegenüber ging in der erstmals bei den Griechen erscheinenden Form von Staatlichkeit alles staatliche Handeln allein von der Gesamtheit der Bürger aus.“ (Stahl, 2003b, 51)
Die Polis entwickelte sich in der sog. archaischen Zeit (etwa 750-500 v. Chr.) im griechisch inkulturierten Mittelmeerraum (Stahl, 2003a; Welwei). Im Pentateuch finden sich Texte mit der Funktion, ein bürgerstaatliches Gemeinwesen zu konstituieren, vor allem in den vorpriesterlichen Texten des Exodusbuches, im Deuteronomium sowie in
Num 11
Historisch wurde diese Staatsform in Benjamin und Juda in der früh- und mittelpersischen Zeit programmatisch entwickelt, da hier aufgrund der dezimierten Bevölkerung und aufgrund des Kulturkontaktes zum Mittelmeerraum die Voraussetzungen für einen solchen Bürgerstaat gegeben waren. Diese Texte tragen durchweg nicht das Signum akademischer Gelehrsamkeit, sondern das der politischen Praxis. Daraus und aus der Tatsache, dass sie mehrfach praxisorientiert revidiert wurden, kann man schließen, dass sie tatsächlich praktiziert wurden. Die Zentralorte der Erzählungen deuten zum einen auf Benjamin, angezeigt durch den Heiligtumsort →
Gilgal
4.3. Der Stämmeverband
Dieser Typ von substaatlicher Organisation findet sich in der →
Jakobserzählung
Die Bevölkerung des ehemaligen Nordreichs Israel stand schon rund 150 Jahre vor den Judäern, nach dem Ende der Monarchie im Jahr 722, vor der Aufgabe, das Gemeinwesen unter den Bedingungen des Provinzstatus zu reformieren. Die Jakobserzählung ist Ausdruck dieses Reformwillens und ist traditionell (Stämmeorientierung) und modern (königslose Föderation) zugleich. In ihr spiegelt sich wohl die historische Situation der Provinz Samaria bis in die späte Perserzeit wieder, die auch in der sehr viel jüngeren Josefserzählung vorausgesetzt ist. Die Vätergeschichte ist dagegen als Versuch von Judäern zu beschreiben, das Modell der Jakobserzählung aus der Perspektive des ehemaligen Südreichs zu reformulieren. Ob dies jemals über den Programmstatus hinausgekommen ist, bleibt fraglich.
4.4. Der Tempelstaat
Der Jerusalemer Tempel lag in babylonischer Zeit mutmaßlich in Trümmern und wurde nicht oder nur in geringem Ausmaß für kultische Zwecke benutzt. In der frühpersischen Aufbauphase war der Tempel eine unbedeutende Institution, die nicht in der Lage war, sich finanziell zu tragen. Die Heiligtumsgesetze des Deuteronomium, insbesondere
Dtn 12
Die priesterliche Komposition des Pentateuch (P-Komposition; →
Priesterschrift
Die späten Texte des Esra-Nehemia-Buches und die →
Chronikbücher
Joel Weinberg hat diese Form des Gemeinwesens als „Bürger-Tempel-Gemeinde“ beschrieben (Weinberg; Blenkinsopp). Diese These ist zutreffend, wenn man als terminus a quo die spätpersische Zeit annimmt und wenn man unter „Gemeinde“ nicht eine religiöse Gruppe versteht. Sachlich handelt es sich lediglich um eine Variante der durchgängig nachweisbaren Doppelstruktur mit der babylonischen bzw. persischen Provinzverwaltung auf der einen und der regionalen, teilautonomen Selbstverwaltung auf der anderen Seite. War Letztere in der babylonischen und frühpersischen Zeit ein von laikalen Eliten (Älteste bzw. Aristokraten) getragenes Gemeinwesen („Bürgerstaat“, s.o. 4.2), so wandelte sich dies ab dem späten 5. Jh. zunehmend zu einem tempelzentrierten Priesterstaat. Das Gremium des Ältestenrates, dessen Gründung im nachpriesterlichen Text
Num 11,10-17
Literaturverzeichnis
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