Stamm / Stammesgesellschaft
(erstellt: März 2011)
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→ Staat
Die Vorstellung von Israel als einer aus Stämmen bestehenden soziopolitischen Gemeinschaft prägt die Darstellung im → Pentateuch
Das Verständnis der soziopolitischen Einheit als Stamm oder Stämmebund findet sich in der Geschichte vieler Völker. Entsprechende Aufmerksamkeit hat der „Stamm“ als soziopolitische Kategorie in der sozialwissenschaftlichen Forschung auf sich gezogen.
1. Sozialwissenschaftliche Perspektiven
In der neueren ethnologischen Debatte (Gingrich) wird der Begriff „Stamm“ häufig durch „ethnic unit“ bzw. „ethnic group“, Klan oder Lineage ersetzt, da die Vorstellung des Tribalismus ein Ergebnis westlich-kolonialistischen Denkens und politisch nicht korrekt sei (Fried, Eriksen). Dabei wird übersehen, dass Begriff und Erscheinung des „Stammes“ in Teilen Asiens wie auch des Vorderen Orients gesellschaftlich positiv bewertet werden (Gellner). Der Terminus „ethnic unit“ bzw. „ethnic unic“ suggeriert eine biologische Basis der Einheitsbildung, die für die Formation eines Stammes oberhalb der Ebene von Sippen weder nachweisbar noch soziopolitisch relevant ist. „Lineage“ bezeichnet eine fiktive Abstammungsstruktur und nicht einen handlungsfähigen Verband. Die Ersetzung von „Stamm“ durch „Klan“ löst das ideologische Problem nicht, führt aber, da „Klan“ auch eine Untereinheit eines Stammes bezeichnen kann, zu begrifflicher Uneindeutigkeit. Die in neuerer Zeit eingeführten Begriffe „Ethnos“ und „Ethnizität“ setzen implizit eine weitreichende Identität der darunter subsumierten Gruppe voraus (Small) und sind im antiken Sprachgebrauch nicht frei von biologischen Vorannahmen. Für die Analyse der alttestamentlichen Überlieferungen sind diese Begriffsbildungen heuristisch kaum hilfreich.
Sozioethnologische Untersuchungen zum Stamm als Organisationseinheit weisen diesen als lose strukturierten Zusammenschluss regional benachbarter Siedlungsgruppen aus, zumeist in Reaktion auf von außerhalb des Siedlungsgebietes kommende Versuche, das Siedlungsgebiet unter fremde Oberhoheit zu bringen (Barth 1969). Der Stamm ist daher in der Regel eine sekundäre soziale Organisationsform, natürliche Beziehungen werden sozial rekonstruiert (Holy, 143). Verwandtschaft ist eine flexible, unter dem Gesichtspunkt der Solidarität bestimmte Kategorie. Die Einheit des Stammes wird begründet durch die Behauptung realer oder fiktiver Abstammungsbeziehungen zwischen einzelnen Verwandtschaftsgruppen (Fortes / Evans-Pritchard) und die auf dieser Basis eingeforderte und geleistete Solidarität. Die Selbstwahrnehmung als Verband unilinearer Deszendenzgruppen ist ein wesentlicher Faktor der Stammesidentität. Territorialanspruch, Gewohnheitsrecht, Religion und Sozialbräuche können zu den weiteren Unterscheidungsmerkmalen eines Stammes gehören (Helm). Das Subsistenz- und Wirtschaftsverhalten einzelner Stammesgruppierungen hängt von der ökologischen Beschaffenheit des beanspruchten und genutzten Territoriums ab, agrarische und nomadische Produktion bestehen nebeneinander und ergänzen sich (Black-Michaud). Stämme können kephal oder akephal (d.h. mit oder ohne einem entscheidungsbefugten Oberhaupt) verfasst sein (Sahlins). In der Regel unterscheiden sich kephale Stämme von den akephalen durch den größeren Umfang ihres Territoriums. Eine kephale Organisation ermöglicht eine schnellere Entscheidungsfindung und deren Umsetzung, somit eine effizientere Kontrolle eines größeren Siedlungsgebietes.
2. Die alttestamentlichen Überlieferungen
2.1. Hebräische Begriffe für „Stamm“
Im biblischen Hebräisch finden sich zwei Begriffe für „Stamm“: שֵׁבֶט ševæṭ und מַטֶּה maṭṭæh. Die Grundbedeutung des Nomens ševæṭ ist „Stab / Stock“, während die Parallelbezeichnung maṭṭæh darüber hinaus noch „Zweig“ bedeuten kann. Beide Nomina finden sich in ihrer ursprünglichen Bedeutung und werden auch figurativ gebraucht. Die maṭṭæh begleitenden Konnotationen „Zweig, Brotstab“ lassen die Vorstellung von Leben anklingen, während ševæṭ eher an totes Holz und Herrschaftssymbol erinnert. Die überwiegende Anzahl der Belege beider Nomina entfällt auf die soziologische Größe „Stamm“. Texte aus exilischer und nachexilischer Zeit sowie jene priesterschriftlicher Herkunft (→ Priesterschrift
2.2. Verwandtschaft als Basis
In der alttestamentlichen Überlieferung gilt ein Stamm als übergeordnete Form gesellschaftlicher Organisation auf der Basis von → Verwandtschaft
Einige genealogische Positionen der Listen führen die Namen von Ortschaften, Städten oder Landschaften auf. Ein „Sohn“ wird als Hälfte von X bezeichnet (1Chr 2,52
2.3. Solidar- und Rechtsgemeinschaft
Aus den alttestamentlichen Erzählungen geht hervor, dass ein israelitischer Stamm eine Solidar- und Rechtsgemeinschaft für alle ihm angehörenden Gruppen bildet (Ri 19-21
2.4. Struktur und Führung
Eine kephale Organisation der israelitischen Stämme ist in den Texten nicht erkennbar. Militärische und politische Führungspositionen wurden temporär besetzt, wenn die Situation es erforderte (Ri 11,6
Die Überlieferung zu den sogenannten → kleinen Richtern
Einige Erzählungen zur Organisation der vorstaatlichen israelitischen Siedlungen (Ri 8,4-17
2.5. Segmentäre Gesellschaft
Segmentäre Gesellschaften können kephal oder akephal organisiert sein. Kephal verfasste „Stämme“ weisen die Charakteristika des Häuptlingstums auf: Dominanz der Häuptlingssippe, Appropriation der politischen und militärischen Führungsposition, Akkumulation von Besitz, generalisierte administrative Kompetenz (Junker). Die laut biblischer Überlieferung nur intermittierend von einem „Richter“ ausgeübte militärische Führung weist auf das Fehlen einer zentralen Herrschaftsinstanz hin. Das frühe Israel kennt keine außerhäuslich geordnete Dauergewalt. Als Gemeinwesen scheint Israel in der vorstaatlichen Zeit nach den Prinzipien einer segmentären Gesellschaft zu funktionieren. Eine segmentäre Gesellschaft baut auf Verwandtschaftsbeziehungen auf, die real oder fiktiv sein können (Sigrist). Die Verwandtschaftsstrukturen bilden die Basis des politischen Gemeinschaftshandelns. Die einforderbare Solidarität ist abhängig von der angenommenen genealogischen Distanz, wie die Beziehungen zwischen den Bewohnern des ostjordanischen → Gilead
2.6. Bedeutung der Stämme in vorstaatlicher Zeit und nachexilischer Zeit
2.6.1. Israelitische Stämme in den Zeiten politischer Unabhängigkeit
Historisch gesicherte Informationen liegen zu den israelitischen Stämmen aus außerbiblischen Quellen nicht vor. In der Darstellung der politischen Strukturen der staatlichen Zeit spielen die Stämme keine Rolle. Sie werden auch nicht mehr namentlich als Stämme erwähnt. Die Kollektiva Israel wie Juda werden ab der Zeit Davids „Volk“, „Haus“ oder „Söhne Israels / Mann Israel“ bzw. „Söhne Judas / Mann Juda“ genannt.
Ephraim. In der hoseanischen Prophetie (→ Hosea
Als Bezeichnung einer politischen Größe Israel / Ephraim bzw. Juda wird der Begriff „Stamm“ in der vorexilischen Zeit ungebräuchlich. Das Verschwinden des Terminus spiegelt die veränderte politische Realität wider und kann als indirekter Beleg für die zutreffende Schilderung der politischen Strukturen der vorstaatlichen Zeit in den Erzählungen gewertet werden. Nur als topographische Kennzeichnung tauchen noch Stammesnamen auf in Angaben wie „Gebirge Ephraim“ (u.a. 2Sam 20,21
2.6.2. Stämme als Symbol der Einheit in Zeiten der Fremdherrschaft
Einige der in exilischer und nachexilischer Zeit verfassten biblischen Texte setzen die Tradition einer in der Vorgeschichte Israels verankerten Abstammung aller Israeliten von den zwölf Söhnen Jakobs voraus, da in ihnen ohne weitere Erläuterungen die Einheit Israels als Gemeinschaft von zwölf Stämmen beschrieben wird. Die Kategorie „Stamm“ ermöglicht den Entwurf einer von staatlichen Strukturen unabhängigen politischen Vergemeinschaftung, die die Herrschaftsansprüche des imperialen persischen Staates unterläuft, ohne sie offen in Frage zu stellen. Das Denken in genealogischen Kategorien weitet das Postulat verwandtschaftlicher Solidarität auf die Gesellschaft als Ganze aus, fördert die Binnenidentität und grenzt die so definierte Gesellschaft gegen außerhalb des Verwandtschaftssystems befindliche Gesellschaften ab. Gleichzeitig ermöglicht die Differenzierung in Stämme, Sippen, Vaterhäuser und Familien (vgl. Jos 7,14
Das 12-Stämme-System ist eine Rückprojektion des Gesellschaftsideals exilischer und nachexilischer Autoren in die vorstaatliche Zeit Israels (Num 1-2
Der Verfassungsentwurf des → Ezechielbuches
Priesterschriftliche wie deuteronomistische Autoren (→ Priesterschrift
Bemerkenswert ist auch, dass noch in spätnachexilischer Zeit Genealogien israelitischer Stämme Eingang in die Geschichtsdeutung der → Chronik
Die alttestamentliche Überlieferung gibt zu erkennen, dass diese Vorstellung einer ideal geordneten Stammesgesellschaft in der Frühzeit Israels keinen Anhalt an der historischen Realität hatte. Im → Exodusbuch
Die Konzeption des Priester-Stammes Levi ist der genealogischen Logik geschuldet. Die → Leviten
In den nachkanonischen Schriften tritt das 12-Stämme-System als gesellschaftliche Utopie in den Hintergrund. Beiläufig wird die Zugehörigkeit einzelner Protagonisten zu einem der zwölf Stämme erwähnt (Jdt 8,1
Die Vorstellung eines aus 12 Stämmen bestehenden Israel scheint für Diasporajuden als Basis jüdischer Identität noch in römischer Zeit relevant gewesen zu sein. Die Einheit in der Vielfalt bot jenen Juden eine Möglichkeit der Integration und Bewahrung ihrer jüdischen Identität, deren Vorfahren nicht vom Stamm Juda ableitbar waren. In diesem Kontext überrascht es nicht, dass der Apostel Paulus nachdrücklich auf seine Zugehörigkeit zum Stamm Benjamin hinweist (Röm 11,1
Literaturverzeichnis
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