Sukkot (Fest)
(erstellt: Februar 2015)
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1. Perspektiven des Sukkotfestes
Das Sukkotfest weist eine enorme Vielschichtigkeit an Überlieferungen auf. Statt scheinbar überholte Traditionen zu ersetzen, wurden sie überlagert und ergänzt, wie es schon die biblische Verknüpfung von landwirtschaftlichen Ursprüngen mit heilsgeschichtlichen Deutungen paradigmatisch vorgeführt hat (vgl. Ex 23,16b
1.1. Agrarische Perspektive
Sukkah (סֻכָּה, Plural סֻכּוֹת Sukkot) bedeutet „Hütte“ und meint eine provisorische Konstruktion, wie sie Bauern v.a. während der Ernte als zeitweilige Unterkunft in der Nähe des Feldes oder Weinbergs diente. → Philo von Alexandrien
Gott als Geber des Landes, der den Zyklus von Saat und Ernte, den Wechsel von Sonne und Regen garantiert, segnet Volk und Land mit Fruchtbarkeit und Gaben. Daher gebühren für das Erhaltene allein ihm Ehre und Dankbarkeit. „Neben Freude und Dank über die Ernte dürfte bereits in jener frühen Zeit [sc. der biblischen] die Bitte um rechtzeitigen und reichlichen Regen zum Zeremoniell der Feier gehört haben.“ (Galley, 85; vgl. Sach 14
Die Konzentration auf den Erntekontext ist in gewissem Maße an dessen lebensweltliche Relevanz für die Feiernden und somit in diesem Fall an Landbesitz gebunden. Der Verlust desselben hat sich entsprechend auf Sukkot ausgewirkt. Der Erntecharakter blieb in Form der Dankbarkeit für das Erhaltene und wurde mit dem Schicksal der Vorfahren verknüpft. Der Wallfahrtscharakter schmolz nach der Zerstörung des Tempels zusammen auf imitierende Handlungssequenzen als verkörpertes Gedenken. Erkennbar bleibt die Bedeutung von Sukkot als Erntedankfest im Festzeitpunkt und der Dekoration der Laubhütte durch Früchte, Getreide und andere Erntegaben (Tosefta Traktat Sukkah [tSuk] 1,7; Babylonischer Talmud, Traktat Sukkah [bSuk] 10a-b; Kizzur Schulchan Aruch [KSA] 134,12). Auch die vier Arten des Feststraußes Lulav können als symbolische Reminiszenzen an den agrarischen Ursprung des Festes gelten. In ihrer gebündelten Frische konzentrieren sie den Segen der Fruchtbarkeit, der Anlass zum Feiern gibt, wenn sie auch selbst keine typischen Erntefrüchte darstellen.
1.2. Theologische Perspektive
Die Mischna fragt nicht nach den Begründungen der Gebote und Bräuche zum Sukkotfest. Selbst der Bezug zur Wüstenwanderung fehlt gänzlich – vielleicht gerade, weil er als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Indirekt ist er im Traktat Sukkah präsent durch die Betonung des Schutz- und Übergangscharakters der zu erbauenden Hütten:
„It was impossible to make of it a second festival of the Exodus, and the nomadic life in the wilderness did not accord very well with the joyous autumn festival and its customs and ceremonials. In many details, therefore, Sukkot remained the revel of the old days.” (Schauss, 175)
Das Angewiesensein auf göttlichen Schutz wird sicht- und fühlbar durch das Wohnen in einer provisorischen Hütte, deren Perfektion sich durch „Mängel“ wie Löcher in der Decke ausdrückt. In bSuk 11b ist zwar die Verortung der Hütten im Kontext der Wüstenwanderung klar, doch während Rabbi → Akiba
Gerade das Wohnen in der Sukkah in der beginnenden Regenzeit, wenn alle anderen Landarbeiter sie verlassen, zeichnet es als Weisung Gottes aus (KSA 135,1). Die scheinbar widersinnige Tätigkeit diente also auch der Abgrenzung und immer weniger praktischen Zwecken. Wie andere Feste im jüdischen Jahreskreis hat auch Sukkot seine identitätsstiftende Folie für das Volk Israel erhalten und bewahrt. Sukkah und Lulav fungieren als Denkmale eines idealisierten Lebens in der Wüste, geprägt von Brüderlichkeit und Kooperation (vgl. Kaplan, 210). Auch nach dem Verlust des Tempels erfüllen das festliche Tempelgeschehen imitierende Versammlungen und gegenseitige Hilfestellung beim Ausführen der Mizwot die Funktion der Versicherung eines Gemeinschaftsgefühls. Jedes Sukkotfest ist somit ein kollektives Kunstwerk, an welchem sich alle erfreuen. So weist Maimonides auf das allgemein menschliche Bedürfnis nach fröhlichen, festlichen Zusammenkünften hin, die nicht zuletzt der Partnerschaftsfindung dienen (Moreh Nevuchim 3,43; 3,46).
1.3. Ethische Perspektive
Der Festzeitpunkt der herbstlichen Tagundnachtgleiche zielt laut Philo auf das Anhalten zur Gleichheit als Anfang der Gerechtigkeit (De Specialibus Legibus 2,204). Gerade während der glücklichen Festtage soll man dementsprechend Zeiten des Unglücks gedenken (De Specialibus Legibus 2,208f.). Es wird daher angemahnt, sich in Phasen des Wohlstandes mit dem Nächsten zu freuen, ihm aber auch in der Not beizustehen (PesK 28,3). Die Zeit der Fülle nach der Ernte ist Raschbam zufolge die beste Gelegenheit, durch das Wohnen in Hütten zur Dankbarkeit gegenüber Gott als Gebenden anzuhalten. Das Feiern des Sukkotfestes dient dementsprechend dem Bewahren vor Hochmut angesichts des Wohlstandes (Kommentar zu Lev 23,43). Dem schließt sich auch Maimonides mit der Erklärung an, dass aus diesem Grund zu Pessach ungesäuertes Brot und bittere Kräuter gegessen werden und zu Sukkot der Auszug aus sicheren, gut bestückten Häusern erfolgt. Dass das jüdische Volk nicht mehr wie in der Wüste in Hütten leben muss, verdankt es ihm zufolge den Verheißungen an die Erzväter sowie deren Tugendhaftigkeit (Moreh Nevuchim 3,43). Die Hütten sind eine Warnung, sich nicht zu sehr in Sicherheit zu wiegen und sich auf die Stabilität eigener Häuser zu verlassen, sondern auf Gott zu vertrauen (vgl. Kaplan, 204f.). Mordechai Kaplan ist überzeugt, dass aus der Wertschätzung materiellen Segens als Manifestation Gottes eine moralische Verantwortung für dessen umsichtige Verwendung folgt. Die Verbindung von naturgebunden-ökonomischem und spirituellem bzw. ethischem Leben ist ihm zufolge eine typische Funktion von Religion, welche besonders die Wallfahrtsfeste des Judentums etabliert haben (vgl. Kaplan, 188-201).
Solche Mahnungen knüpfen an die Stimmung des Buches → Kohelet
In der Aufforderung zur allgemeinen Festfreude und dem Einbeziehen von Fremden und Armen spiegelt sich ein sozialethischer Zug des Festes. Maimonides liest dementsprechend in Dtn 16,14
Ergänzend zu zahlreichen Vorgaben zur Umsetzung der verschiedenen Festgebote zeigt die Midraschliteratur die erforderliche Kongruenz von Ausübung und Intention der Handelnden auf. Ähnlich wie laut Mt 5,23f
2. Eckpfeiler der Festgestaltung
2.1. Die Sukkah
2.1.1. Errichten einer Sukkah
Das Hauptaugenmerk des Traktates Sukkah liegt auf Sukkah und Lulav, den Eckpfeilern des Festes, die nicht zwingend an den Tempelkult gebunden waren und verschiedene Deutungsmöglichkeiten erlaubten. In der Tempelrolle der Qumrangruppe (→ Qumrantexte
Ausführliche Erläuterungen zum Bau einer tauglichen Sukkah (Mischna Traktat Sukkah [mSuk] 1,1-2,4a; bSuk 21-25a) ergänzen die spärlichen biblischen Angaben (z.B. in Neh 8,15f
Ein wesentliches Kriterium für den Bau ist die notwendige Stabilität, um das gebotene siebentägige Wohnen in der Sukkah zu ermöglichen (bSuk 23a in Anlehnung an Dtn 16,13
2.1.2. Wohnen in der Sukkah
Mit den Tätigkeiten Essen, Trinken und Schlafen ist das Gebot, während des Festes in den Laubhütten zu wohnen (Lev 23,42
Frauen sind befreit von der Pflicht, jedes Jahr eine Laubhütte zu errichten und darin zu wohnen (mSuk 2,8; bSuk 9a), da es sich um ein zeitgebundenes Gebot handelt (vgl. mQid 1,7; bSuk 28a; bQid 34a). Sie können aber auch den entsprechenden Segenspruch sagen, wenn sie in der Sukkah essen (SA OH 640:1). Diejenigen, die mit der Ausübung eines anderen Gebots beschäftigt sind, sind außerdem befreit (tSuk 2,1), ebenso Kranke und deren Pfleger (SA OH 640:3). Kinder sollten ab dem Alter von fünf Jahren an das Essen in der Sukkah gewöhnt werden (KSA 135,15). Reisende, die ohne Mühe in einer Sukkah verweilen können, sollten dies auch tun (KSA 135,18).
2.2. Der Lulav
2.2.1. Vier Bestandteile
In Lev 23,40
Bei der Deutung der „prächtigen Baumfrucht“ (פְּרִי עֵץ הָדָר) hat man sich auf den Etrog festgelegt. Der Midrasch zum Buch Genesis, Bereschit Rabba 15,7, diskutiert, was der → Baum der Erkenntnis
In dem Bemühen um die bestmögliche Erfüllung des Gebots (KSA 137,6) äußert sich die Verherrlichung Gottes (bSuk 11b). Als permanenter Begleiter während des Festes ist der Lulav ständige Vergegenwärtigung der geschenkten göttlichen Zuwendung und der entsprechenden Dankbarkeit dafür (WaR 30,5). Es besteht die Möglichkeit, sich einen perfekten Strauß von einem anderen zu borgen, man sollte aber einen eigenen, wenn auch minderwertigen behalten, um der Aufforderung in Lev 23,40
Die vier Arten als wenig typische Repräsentanten von Erntefrüchten, aber mit ihren sehr spezifischen Eigenschaften haben zu Interpretationen angeregt, was sie symbolisieren könnten. So bot sich die Bildsprache v.a. der → Psalmen
Maimonides würdigt solche Deutungen als Poesie, aber sieht in dem Feststrauß einen Ausdruck der Freude der Israeliten, als sie aus der fruchtlosen Wüste in das fruchtbare Land kamen. Zur Erinnerung daran hat man für den Strauß die schönsten Pflanzen ausgewählt, die angeblich im Land Israel für alle leicht verfügbar waren und sieben Tage lang frisch bleiben (Moreh Nevuchim 3,43).
2.2.2. Handhabung des Lulav
Auch der Lulav hatte einen Platz im Kontext der kultischen Verehrung am Tempel. Wie die Bachweiden und die Wasserspende wurde er bereits freitags vor Beginn des Schabbat zum Tempel getragen (mSuk 4,4.6.10), später in die Synagoge (mSuk 3,13). Die Popularität des Feststraußes als beständiger Eckpfeiler des Festes ist neben der expliziten Aufforderung in Lev 23,40
„The Lulaw functioned primary through its symbolism. Fertility symbols could survive the destruction of the altar and temple where cultic rituals could not.“ (Rubenstein, 185)
Als ausdrückliches Gebot war die Handhabung des Lulav aufrecht zu erhalten. Das Nehmen und Schütteln des Straußes bei der Rezitation des → Hallel
Der Lulav ist während des Segens und des Hallels in die rechte, der Etrog in die linke Hand zu nehmen, um beides dann anzunähern (SA OH 651:2.11), damit keine Trennung zwischen den Arten besteht. Das Bündel ist in alle vier Himmelsrichtungen sowie nach oben zum Himmel und nach unten zur Erde zu schütteln (SA OH 651:9-10), um Gottes allumfassende Schöpfungsmacht auszudrücken. Eine andere Erklärung der Rabbinen meint, das Schütteln solle böse Winde abhalten (vgl. bSuk 37a-38a).
2.3. Wasserspende und Bachweidenumzug
Die aus dem Siloah-Teich geschöpfte Wasserspende, die am Opferaltar in Schalen gegossen wurde, sowie das Aufstellen und Schlagen der Bachweiden am Altar sind in der Mischna beschriebene Halachot (Rechtsüberlieferungen) ohne biblische Vorgabe. Z.B. leitet laut WaR 30,8 Abba Schaul von dem Plural עַרְבֵי־נָחַל „Bachweiden“ in Lev 23,40
Insbesondere die Bachweiden zeigen die besondere Nähe zu der Bitte um Regen, da sie viel Wasser benötigen, um gedeihen zu können. In der Nacht vor Hoschana Rabbah, dem 7. Tag von Sukkot, ist die Beschäftigung mit der Tora ratsam, davon ausgehend, dass an Sukkot über den Regen bestimmt wird, von dem alles Leben und somit auch die kommende Ernte abhängen (Mischna, Traktat Rosch ha-Schana 1,2; KSA 138,1). Höhepunkt des Bachweidenritus sind die am siebenten Festtag stattfindenden siebenfachen Prozessionen mit dem Schlagen der Zweige auf den Boden sowie dem anschließenden Lösen und Plündern der Lulavim (mSuk 4,5-7; bSuk 44a; KSA 138,2f.). Rudimentär haben sich diese Riten über die Jahrhunderte erhalten, transferiert in den synagogalen Raum. Viele Torarollen werden zur Bimah gebracht und siebenfach umkreist (SA OH 660:1). Nach dem Beenden der Hoschanot-Gebete (s.o.) werden die Zweige in der Synagoge geschüttelt und auf den Boden geschlagen (SA OH 660:2; 664:3.4). Auf diese Weise stellte das rabbinisch geprägte Judentum über Ritualobjekte eine Kontinuität zur Zeit des Tempels her, indem sie diese Objekte in ein anderes Frömmigkeitssystem übertrugen.
Ein Exkurs innerhalb der Tosefta deutet u.a. mit Hilfe von Ez 47,1-12
Dieses exponierte Ritual aus der Zeit des Zweiten Tempels wird wehmütig rückblickend als Maßstab gesetzt für ein das versammelte Volk umfassendes Hochgefühl: Wer die Freude an der Stätte des Schöpfens (שמחת בית השואבה) nicht gesehen hat, hat im Leben keine Freude gesehen. Wer Jerusalem in dieser Pracht nicht gesehen hat, hat im Leben keine herrliche Großstadt gesehen. Wer den Tempel nicht gesehen hat, hat im Leben kein prächtiges Gebäude gesehen (bSuk 51b; vgl. mSuk 5,1). Die Unmöglichkeit, sich dem Spektakel zu entziehen, lassen Schilderungen vermuten, die davon berichten, dass das vom Frauenvorhof ausgehende Licht so hell war, dass die gesamte Stadt davon erleuchtet wurde, sodass man dabei Erbsen lesen konnte. Musik, Posaunenklänge und Tanz begleiteten die Festakte. Eine Aneinanderreihung von Opfern, Gebeten, Versammlungen, gemeinsamen Mahlzeiten und Prozession mit der Wasserkanne zum Altar führten zu schlaflosen Nächten (bSuk 50b.53a). Diese ideale Darstellung unterstützt das bleibende Verständnis des Tempels als göttliche Wohnstätte und Verbindung zwischen Himmel und Erde trotz bzw. gerade angesichts der bereits erfolgten Zerstörung des Tempels. Durch diese Art der Vergegenwärtigung wird die Feier von Sukkot zur Zeit des Jubels das Fest par excellence (vgl. Rubenstein, 149). R. Mosche Alschich stellt in diesem Licht sogar die Überlegung an, dass Sukkot zwar in erster Linie der Freude Gottes Ausdruck gibt, dass dabei aber, da diese Freude angesichts der Zerstörung des Tempels getrübt sei, der sehnsüchtige Rückblick in die Vergangenheit Israels im Vordergrund stehe. Es bleibe jedoch die Freude über die Vergebung der Sünden durch Gott im siebenten Monat und den Segen einer großzügigen Ernte (Kommentar zu Lev 23,41
2.4. Festfreude
Der Midrasch WaR 30,1-2 sieht für Sukkot – unter Rückgriff auf die „Fülle (שבע) der Freuden“ (Ps 16,11
Im → Jubiläenbuch
In allen Phasen der Entwicklung und des Ausbaus der facettenreichen Gestalt des Festes blieb es immer ein fröhliches Volksfest in Dankbarkeit für die Zuwendung Gottes, die man erfahren hatte.
2.5. Sühnefunktion
Der Festkalender der Tempelrolle (11QTa 27,10b-29,3; → Qumrantexte
Nicht nur die Festopfer, auch der Lulav hat als kultischer Gegenstand eine Sühnefunktion. Er fungiert gewissermaßen vor Gottes Gericht als Fürsprecher, der jedoch zum Ankläger werden kann, wenn er geraubt wurde, da dieses Vergehen im Himmel aufgedeckt wird (WaR 30,3; PesK 27,6). WaR 30,2 versteht das Tragen des Lulav als Zeichen für den Sieg der Israeliten am proleptischen Endgericht des Neujahrstages. Gott hat ihnen trotz der Anschuldigungen der anderen Völker ihre Sünden verziehen und nun nehmen sie am ersten Tag von Sukkot am Ende des Gottesdienstes den Lulav mit nach Haus (vgl. PesK 27,2). Als Repräsentanten des heiligen Tetragramms stellen die vier Arten auch ein Rüsten dar vor den erneuten Angriffen des bösen Triebs, deren sündhafte Früchte ab dem 15. Tischri wieder dokumentiert werden (Mosche Alschich zu Lev 23,37
Der Sohar macht deutlich, dass für diejenigen, die bis zu → Jom Kippur
Angesichts der Vorbehalte der Engel gegen die Erschaffung der Menschen und deren scheinbare Bestätigung durch das Vergehen mit dem Goldenen Kalb und jährlich aufs Neue sich ansammelnde Sünden, ist der Abschluss des Rehabilitationsprozesses an Jom Kippur für Gott Grund zur Freude, da er um der Gerechten willen die physische Welt geschaffen hat. Es ist in erster Linie Gottes Fest, dessen Urteil sich als richtig erwiesen hat (Mosche Alschich zu Lev 23,34).
2.6. Schemini Azeret und Simchat Tora
2.6.1. Schemini Azeret (hebr. שְּׁמִינִי עֲצֶרֶת „Achter [Tag] der Versammlung“). Das Jubiläenbuch bietet eine Ätiologie dieses bereits in Num 29,35
Mittels verschiedener Gleichnisse werden in der Pesikta de Rav Kahana die sieben Sukkottage mit Schemini Azeret verbunden. Da während eines königlichen Gastmahls die Gäste den Hinweis der Königin bzw. der Tora nicht verstehen, die Gelegenheit zu nutzen, an den König während des siebentägigen Freudenfestes Wünsche heranzutragen, verlängert sie das Gastmahl um einen Tag. In PesK 28B (Mb II 420) bzw. 28,8 (Mb II 432) handelt es sich um den Wunsch nach Regen, der demzufolge insbesondere am achten Tag ausgesprochen werden soll. In einer anderen Variante werden anlässlich eines Gastmahls Israels mit den Völkern 70 Farren entsprechend der Vorstellung von 70 Weltvölkern dargebracht, damit diese, z.B. mangels Regen, nicht zugrunde gehen (vgl. Sach 14,16f
Eigens für den achten Tag angeordnete Opfer, Gesänge und Segenssprüche sowie die Aufforderung zur Festfreude weisen ihn als separaten Festtag aus, der den anderen Tagen von Sukkot an Ehre und Pflicht gleich kommt (mSuk 4,8; vgl. tSuk 3,2; bSuk 47a.48a). Das Schlafen in der Sukkah ist nicht mehr geboten, aber man darf sie noch nicht abreißen (mSuk 4,8; SA OH 666:1). Um aber sichtbar zu machen, dass es sich nicht einfach um eine Verlängerung des Sukkotfestes, sondern eben ein eigenständiges Fest handelt, ist der Kiddusch vor dem Essen wieder im Haus zu sprechen und die Ausstattung bereits am siebenten Tag aus der Sukkah zu holen. Wenn doch auch am achten Tag in der Hütte gegessen werden soll, so sollte sie vorher durch das Entfernen eines Bestandteils ungültig gemacht werden (PesK 28,1). Maimonides meint, das Hinausgehen aus den Hütten am achten Tag dient dazu, diejenigen Festfreuden vollständig genießen zu können, die nur in geräumigen Häusern realisiert werden können (Moreh Nevuchim 3,43).
2.6.2. Simchat Tora (hebr. שִׂמְחַת תּוֹרָה „Freude über die Tora“). Der achte Festtag fällt in Israel und vielen Reformgemeinden zusammen mit dem posttalmudischen Fest Simchat Tora. In konservativen und haredischen Gemeinden der Diaspora wird es am neunten Tag gefeiert. Es beinhaltet Anfangs- und Endpunkt des einjährigen Toralesezyklus (bHag 31a). Basierend auf Neh 8,1-18
Die wohl früheste Erwähnung eines Brauchs mit der Bezeichnung „Simchat Tora“ zu Ehren der gekrönten Tora findet sich im Sohar (III, 256b). An diesem Freudentag werden alle in der jeweiligen Synagoge vorhandenen geschmückten Torarollen aus dem Aron ha-Kodesch (Toraschrein) herausgehoben und in festlichen Umzügen um die Bimah getragen. Viele Gottesdienstteilnehmer werden zum Lesen des letzten Wochenabschnitts aufgerufen (SA OH 669:1). Auch die Kinder nehmen regen Anteil an der jubelnden Begeisterung, die diesen freudigen Tag prägt. Der zur Schlusslesung Aufgerufene wird Chatan Tora „Bräutigam der Tora“ genannt. Ein anderer, der Chatan Bereschit „Bräutigam am Anfang“, beginnt in einer zweiten Rolle den ersten Abschnitt der Tora zu lesen. Im progressiven Judentum können auch Frauen zu diesen Lesungen aufgerufen werden und werden dann dementsprechend Kallat Tora („Braut der Tora“) bzw. Kallat Bereschit („Braut am Anfang“) genannt (vgl. Rothschild, 131). Die mit dieser Ehre ausgezeichneten „Bräutigame“ geloben häufig, zu spenden und laden in Anlehnung an 1Kön 3,15
Literaturverzeichnis
1. Primärquellen und Übersetzungen
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3. Weitere Literatur
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- Klein, I., A Guide to Jewish Religious Practice, New York u.a. 1992
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- Rothschild, W.L., 2009, Der Honig und der Stachel, Gütersloh.
- Rubenstein, J.L., 1995, The History of Sukkot in the Second Temple and Rabbinic Periods, Providence.
- Schauss, H., 1988, The Jewish Festivals. History and observance, New York.
Abbildungsverzeichnis
- Feiern des Laubhüttenfestes vor der sog. Klagemauer. Aus: Wikimedia Commons; © יעקב שיין, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-2.5; Zugriff 24.3.2015.
- Paula Gans, Im Gebet beim Laubhüttenfest (1920).
- Sukkah, die Laubhütte. Aus: Wikimedia Commons; © Djampa, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-3.0; Zugriff 24.3.2015.
- Die vier Bestandteile des Lulav: Palmzweig, Myrtenzweig, Bachweidenzweig und Etrog. Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 24.3.2015.
- Lulav und Etrog (Mosaik einer Synagoge in Tiberias; 7.-8. Jh., Eretz Israel Museum, Tel Aviv). Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 1.4.2011.
- Gang um die Bimah während der Hoschanot. Aus: Wikimedia Commons; © יעקב, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-3.0; Zugriff 24.3.2015.
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