Sulamit
Andere Schreibweise: Schulamit, Sulamith, Schulamith
(erstellt: Oktober 2021)
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„Sulamit“ wird vielfach als Name der Frau betrachtet, die im → Hohelied
1. Das Wort שׁוּלַמִּית šûlammît und seine Deutung
Sulamit / Schulamit (שׁוּלַמִּית šûlammît) ist im Alten Testament lediglich zwei Mal belegt. In Hhld 7,1 heißt es: „Wende dich um, wende dich um Schulamit, / wende dich um, wende dich um, dass wir dich anschauen. / Warum wollt ihr Schulamit anschauen, / wie beim Reigen zwischen zwei Kriegslagern?“
Sulamit wird in der Auslegung oft wie selbstverständlich als der Name der weiblichen Stimme im Hohelied betrachtet (Barbiero 2013, 204; Pardes 2019, 4), die so personifiziert wird und als Gegenüber zur Figur des → Salomo
a) Der Gebrauch des Artikels weist grammatikalisch eher auf ein nomen gentilicium hin. שׁוּלַמִּית šûlammît bezeichnet dann eine Frau aus Schulem. Die Schwierigkeit hierbei ist, dass ein Ort Schulem im Alten Testament unbekannt ist. Aufgrund einer angenommenen Konsonantenverschiebung wird Schulem dann mit → Schunem
b) Eine weitere Interpretation sieht – aufgrund der Konsonanten – in Sulamit ein, dem Namen Salomo nachgebildetes, feminines Appellativum. So zuerst in dem anonymen Kommentar Bodleian Library, MS Opp. 625 aus dem 12. Jh.:
כשהייתי הולכת לבקשך היו הבחורים אומרים לי את השולמית אהבת שלומה שקראוה על שם דודה.
„When I went to search for you, then youths said to me, You are the Shulammite, the beloved of Solomon, for they called her after her lover” (hebr. Text und engl. Übersetzung nach Japhet / Walfish 2017, 218-219; weitere Belege bei Rowley 1939).
„Die Salomonin“ fügte sich dann in die auch sonst im Hohelied verwendete Königstravestie ein (Müller 1992, 74). Problematisch ist hier jedoch die Vokalisation, da man eigentlich שְׁלֹמִית šǝlōmît erwartete (vgl. etwa Lev 24,11
c) In seinem Kommentar zum Hohelied (Text unter https://www.sefaria.org/Ibn_Ezra_on_Song_of_Songs?lang=bi
d) Eine weitere Interpretationslinie leitet שׁוּלַמִּית šûlammît von der Wurzel שׁלם šlm ab. So denkt etwa → Raschi
e) In das Umfeld dieser Auslegung gehört auch die Deutung des Wortes als ein Qal Passiv nach dem Muster qūtal (Robert / Tournay 1963, 250; vgl. etwa 2Kön 21,19
f) Religionsgeschichtlich hat man versucht, den Namen kultisch zu deuten (so zuerst Erbt 1906, der Salomon und Sulamit als → Tammus
Die Vielzahl der Interpretationsmöglichkeiten zeigt an, dass hier – wenn man nicht davon ausgehen will, dass archaische Reste vorliegen, die nicht mehr zu verstehen sind (Keel 1992, 212) – ganz bewusst mit Ambiguität gearbeitet wird. Wie auch an anderen Stellen des Hohelieds bleibt es dem Leser überlassen, wie die Stelle gedeutet wird. Hhld 7,1
2. Wirkungsgeschichte
2.1. Sulamit als selbstbewusste Frau und Sinnbild für Israel
Es ist diese Fülle der Sulamit zugeschrieben Rollen, die sie dann zu einer abstrakten ‚Person‘ werden lassen, die sowohl eine zweite Eva (Trible 1978), eine faszinierende, selbstbewusste Frau, also auch Sinnbild für Israel, oder das Judentum als Ganzes verkörpern kann.
Im Folgenden soll lediglich auf zwei ‚Auslegungen‘ geblickt werden, die bewusst die von der Auslegungsgeschichte vorgegebenen Bahnen verlassen und andere Wege beschreiten, auch wenn sie beide Aspekte der breiten Rezeption aufnehmen und anklingen lassen.
2.2. Paul Celan (1920-1970)
Paul Celans Todesfuge (1944/45; Celan 2003, 40f) verarbeitet unter Rückgriff auf das deutsche kulturelle Register und unter Aufnahme der Brutalität des Alltags in den Konzentrationslagern das Grauen der → Schoah
Mit der Gegenüberstellung des goldenen Haares der Margarete und dem aschenen Haar der Sulamith geht Celan über seine literarische Vorlage hinaus, da weder Goethe im Faust noch das Hohelied die Haarfarbe der Frauen nennen. In Hhld 4,1
Der kontrastierende Parallelismus (dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith) reicht weit über die individuelle Person hinaus. Wenn Sulamith hier als die Geliebte par excellence gilt und für das jüdische Volk selbst steht (Felstiner 1997, 67), so ist Margarete die blonde, idealisierte Deutsche (Biro 1998, 183) oder schlicht Deutschland selbst. Die Anklänge an nationalsozialistische Rassenideologie sind offensichtlich, führen aber jede Art von Reinheitsphantasien ad absurdum, da die Kindsmörderin Margarete durch den Mord schuldig bleibt.
2.3. Anselm Kiefer (*1945)
Im Bild aus dem Jahre 1983, „das vielleicht als Kiefers gelungenstes Holocaust-Mahnmal gelten darf“ (Oy-Marra 2011, 309), reduziert er Celans Gedicht auf das letzte Wort („Sulamith“), das links oben in kleinen weißen Buchstaben eingekratzt ist. Der Name ist vermutlich keine einfache Randnotiz, sondern der Beginn einer Liste der Opfer in einem Totenbuch – vielleicht eine Anlehnung an die „Halle der Namen“ in YadVashem. Das Werk ist Teil von Kiefers Auseinandersetzung mit der Monumentalarchitektur der Nationalsozialisten – genauer mit dem Entwurf von Wilhelm Kreis (1873-1955) für die Krypta unter der Soldatenhalle. Kiefer ändert Kreis’ Entwurf, indem er u.a. die Proportionen staucht und das eigentlich in Granit gefertigte Gewölbe nun wie geschwärzte Ziegel wirken lässt.
Kiefers vorerst letzte Referenz an Sulamit stammt aus dem Jahre 1990 (Abb. in Arasse 2001, 166f). Hier wird nun – in einem Buch (101 x 63 x 11 cm; 64 Seiten) – wesentlich deutlicher auf Celans Gedicht angespielt, wenn er gelötetes Blei, Frauenhaar und Asche als Materialien verwendet.
Wie bei Paul Celan ist Sulamit aus Hhld 7,1
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
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- Franz Pforr, Sulamith und Maria, 1811 (Öl auf Holz, 34,5x32 cm, Sammlung Georg Schäfer, Schweinfurt).
- Johann Friedrich Overbeck, Sulamith und Maria, 1811/12 (91,7 × 102,2 cm; Museum Behnhaus Drägerhaus, Lübeck).
- Anselm Kiefer, Dein aschenes Haar Sulamit, 1981 (Privatbesitz).
- Anselm Kiefer, Dein aschenes Haar Sulamit, 1981 (Privatbesitz).
- Anselm Kiefer, Sulamith, 1983 (Öl, Emulsion, Holzschnitt und Stroh auf Leinwand, 290 x 370 cm. The Doris and Donald Fisher Collection at the San Francisco Museum of Modern Art).
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