Tag / Tageszeiten (AT)
(erstellt: November 2008)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/32270/
→ Nacht
1. Sprachlicher Befund
1.1. Belege
jôm „Tag“ ist in der Hebräischen Bibel 2304-mal hebräisch und 16-mal aramäisch belegt (1452- bzw. 5-mal im Singular, 847- bzw. 11-mal im Plural, ferner 5-mal hebr. im Dual; Bergman / Sæbø / von Soden, 567; Jenni, 708). Die Verdoppelung jôm jôm bedeutet „täglich“. Häufig wird jôm mit Zahlwörtern verbunden, um kalendarische Angaben zu machen. Mit Ausnahme des Sabbats sind alle Wochentage in der Hebräischen Bibel namenlos und nur durch Nummerierung unterschieden.
1.2. Semantik
1.2.1. Singular
Der Singular jôm kann immer mit „Tag“ übersetzt werden, doch können unterschiedliche Größen gemeint sein:
Erstens wird die Zeitspanne zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung bezeichnet, die von der Dauer des Sonnenlichtes bestimmt ist. „Tag“ bildet daher den komplementären Begriff zu lajlāh → Nacht
Zweitens bezeichnet das Substantiv die Zeit von Morgen zu Morgen oder Abend zu Abend (bei uns 24 Stunden). In diesem Sinne ist der Tag für die Hebräische Bibel die Grundeinheit der Zeit. Mit ihr kann ein bestimmter Zeitabschnitt quantitativ bestimmt werden. Man kann sowohl die Tage einer Periode zählen, als auch einen bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer größeren Zeiteinheit markieren.
Drittens kann „Tag“ im Singular einen Zeitpunkt bezeichnen, der von einem Substantiv, einem Infinitiv oder einem Nebensatz qualitativ bestimmt wird. Eine besondere (eschatologische) Qualität erhält der jôm im Singular, der durch den Gottesnamen definiert ist (→ Tag JHWHs
In der Qumranliteratur finden sich keine anderen semantischen Bestimmungen. In der Septuaginta wird jôm fast ausschließlich mit hēméra wiedergegeben, neben 12-mal bíos und 3-mal kairós (Bergman / Sæbø / von Soden, 586; Jenni, 726; Delling / v. Rad, 950). hēméra bezeichnet dabei wie hebräisch jôm die Grundeinheit der Zeit.
1.2.2. Plural
Der Plural jāmîm wird mit Personennamen verbunden, um wichtige Perioden wie die Lebenszeit eines Menschen (Gen 5,5
In den prophetischen Büchern werden mit jāmîm futurische Aussagen über Zeitabschnitte gemacht, die in der ferneren oder näheren Zukunft liegen und als Heils- oder Unheilszeiten qualifiziert werden (Am 4,2
1.3. „heute“ und verwandte Ausdrücke
Der 350-mal belegte Ausdruck hajjôm „der Tag“ bezeichnet zunächst einen bestimmten Tag. In Erzähltexten wird auf diesen Tag fokussiert. hajjôm kann daher das „heute“ umschreiben. Im Zusammenhang von Fest und Kult impliziert die Rede von „heute“ die Erinnerung an Vergangenes und dessen Aktualisierung.
Die Formel bajjôm hahû’ „an jenem Tag“ kann einen Zeitabschnitt unbestimmten Umfangs in der Vergangenheit oder Zukunft meinen. Die Formel ist nicht nur zeitadverbiell zu verstehen, sondern erhält auch den Charakter eines „eschatologischen Terminus“ (Bergman / Sæbø / von Soden, 570).
2. Tageszeiten
Ohne Zeitmessungsinstrumente wurde zwischen Morgen, Mittag und Abend unterschieden (Gen 43,16
Am Morgen (hebräisch bôqær) kann der helle Planet Venus sichtbar sein. In den altorientalischen Kulturen wurde der „Morgenstern“ als Astralisierung der entsprechenden Göttin verstanden (Ischtar = Astarte, von astar „Stern“, davon der Name „Ester“). Die Morgenröte (hebräisch šachar, griechisch héōs) ist die Zeit der letzten → Nachtwache
Der Mittag (hebräisch ṣohårajîm oder machăṣît hajjôm „Hälfte des Tages“) ist in der Regel eine Zeit der Ruhe, weil er durch Hitze und fehlenden Schatten gekennzeichnet ist (hebräisch chôm hajjôm „Hitze des Tages“). Der Mittag als Zeit des Lichtes wird explizit positiv gewertet (Jes 58,10
Der Abend (hebräisch ‘æræb) umfasst die Zeit der niedergehenden Sonne, in der es noch hell ist, damit auch den späten Nachmittag. Vor Einbruch der Dämmerung (bên hā‘arbajîm Ex 12,6
3. Quantität und Qualität der Tage
3.1. Antike Zeitmessung
Sonnenuhren sind in Ägypten seit Thutmosis III. (1479-1425 v.Chr.) bekannt (Brown, 970). Die Sonnenuhr des Ahas (2Kön 20,9-11
Die älteste bekannte Wasseruhr stammt ebenfalls aus Ägypten (Amenophis III. 1392-1355 v.Chr.). Die Zeit wurde mittels der Messung des ausfließenden Wasserstandes gemessen, wobei die Form sicherstellen sollte, dass die gleiche Wasserpegeldifferenz die gleiche Zeit misst. Ähnliche Geräte sind aus Mesopotamien bekannt (ausführlich Brown, 969).
Der Tag wird in der Antike in 12 temporäre Stunden eingeteilt (Belzer 2001c, 772), d.h. Stunden, die in ihrer Länge nach dem unterschiedlich langen Tageslicht zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang differieren. Die komplementären 12 Nachtstunden wurden in Ägypten den 12 Abschnitten der Unterwelt, die die Sonne nachts durchfährt, zugeordnet (v. Beckerath, 1371f und s.u.). Aus Mesopotamien sind sechs Doppelstunden belegt (Bergman / Sæbø / von Soden, 562). Nach Herodot (Historien 2, 109,3; Text gr. und lat. Autoren
3.2. Der Kalendertag und seine Abgrenzung
Prinzipiell existieren vier Möglichkeiten, den Kalendertag abzugrenzen: Aufgang, Untergang sowie obere und untere Kulmination der Sonne, also Morgen, Abend, Mittag und Mitternacht (Letzteres seit der römischen Zeit, Diskussion bei Sontheimer, 2012). Biblisch wird in Ex 13,21
Wenn der Tag wesentlich als lichtvolle Zeitspanne zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung verstanden wird, beginnt er am Morgen. In Ägypten wechselt das Datum am Morgen (v. Beckerath, 1371). Ein Tagesbeginn am Morgen korreliert mit einem solaren Kalender bzw. dem bestimmenden Einfluss des solaren Elements auf den Kalender. Nach Dillmann, Cassuto u.a. begann der Tag auch in Israel am Morgen: Nach Gen 1,3-5
Ein Tagesbeginn am Abend korreliert dagegen gut mit einem lunaren Kalender bzw. dem bestimmenden Einfluss des lunaren Elements auf den (lunisolaren) Kalender. Schmid u.a. nehmen an, dass die in Griechenland gültige Abgrenzung (Sontheimer 2012) auch in Israel generelle Gültigkeit besaß: Die Tagzählung des Schöpfungstextes Gen 1
Nach einer vermittelnden These begann der Tag in vorexilischer Zeit noch am Morgen, nachexilisch dagegen am Abend (de Vaux I, 290-294; Stiglmaier, 554). Die These korrespondiert mit der entsprechenden Datierung der einschlägigen Textstellen (vorexilisch: Dtn 28,66
3.3. Die Ordnung der Zeit im Spiegel des Kultes
Die vorexilischen israelitischen Kulte kannten „heilige“ Tage wie die „Tage der Baalim“ (Hos 2,15
In exilisch-nachexilischen Texten werden die Tage näher bezeichnet, indem man sie zählt (z.B. Gen 1,5
3.4. Persönliche Ereignisse
Der Ausdruck jômô „sein Tag“ kann sowohl den Geburtstag (Hi 3,1
Wo vom Todestag (jôm hammāwæt Pred 7,1
3.5. Die Praxis der „Tagewählerei“
„Der Begriff ‚Tagewählerei‘ bezeichnet die kulturelle Praxis, das Gelingen oder Mißlingen von Handlungen mit kalendarisch … definierten günstigen oder ungünstigen Tagen in Verbindung zu bringen. Die Annahme, daß Tage nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bestimmt sind, war allen antiken Kulturen geläufig und führte zu einem eigenen Genre, den Hemerologien“ (von Stuckrad, 1220). Hemerologien legten für kultische und profane Tätigkeiten jeweils geeignete Tage und Monate fest bzw. schlossen ungeeignete Zeiträume aus (ausführlich Labat 1939). Die Praxis der Tagewählerei gehört zur → Mantik
Biblische Texte wie z.B. Dtn 18,9-11
Die Henoch-Astronomie (→ Henoch
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl., München / Zürich 2004
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
2. Weitere Literatur
- Albani, M., 1994, Astronomie und Schöpfungsglaube. Untersuchungen zum astronomischen Henochbuch (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 68) Neukirchen-Vluyn
- v. Beckerath, J., 1986, Art. Zeiteinteilung, -messung, Lexikon der Ägyptologie VI, 1371f.
- Belzer, J., 2001a, Art. Tag, Neues Bibel-Lexikon III, 769f.
- Belzer, J., 2001b, Art. Tagesbeginn, Neues Bibel-Lexikon III, 770f.
- Belzer, J., 2001c, Art. Tageseinteilung, Neues Bibel-Lexikon III, 771f.
- Bergman, J. / Sæbø, M. / von Soden, W., 1982, Art. jôm, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament III, 559-586
- Bonnet, H., 1952, Art. Tagewählerei, Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte, 763f.
- Bottéro, J., 1991, Religion, in: Hrouda, B., Der alte Orient. Geschichte und Kultur des alten Vorderasien, München, 217-245
- Brown, D. / Dohrn-van Rossum, G., 2001, Art. Uhr, Der Neue Pauly XI, 969-976
- Delling, G. / v. Rad, G., 1935, Art. hēméra, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament II, 945-956
- Janowski, B., 1989, Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im alten Orient und im Alten Testament (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 59), Neukirchen-Vluyn
- Jenni, E., 1994, Art. jôm, Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament I, 707-726.
- Keel, O., 2006, Spätbronze- und Eisenzeit I, in: Keel, O. / Schroer, S., Eva – Mutter alles Lebendigen. Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient, Fribourg, 130-163
- Labat, R., 1939, Hemerologies et Menologies d’Assur, Paris
- Labat, R., 1965, Un calendrier babylonien des travaux des signes et des mois, Paris
- Lanckau, J., 2006, Der Herr der Träume. Eine Studie zur Funktion des Traumes in der Josefsgeschichte der Hebräischen Bibel (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments 85), Zürich
- Pack, R.A. (Hg.), 1963, Artemidori Daldiani onirocriticon libri V, Leipzig
- Sontheimer, W., 1932, Art. Tageszeiten, Paulys Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft, Zweite Reihe, IV A,2, Stuttgart, 2011-2023.
- Stiglmair, A., 1984, Art. lajil / lajlāh, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament IV, 552-562
- Stuckrad, K. von, 2001, Art. Tagewählerei, Der Neue Pauly XI, 1220-1223
- de Vaux, R., 1960, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen I, Freiburg
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)