Tora (AT)
Andere Schreibweise: Torah, Thora; Thorah
(erstellt: Oktober 2016)
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1. Das Bedeutungsspektrum von „Tora“
Der hebräische Ausdruck תּוֹרָה tôrāh „Weisung / Lehre / Gesetz“ basiert auf der Verbalwurzel ירה jrh III, die nur im Hifil belegt ist und „lehren / unterweisen / anweisen“ bedeutet. Hinzu kommt noch das substantivierte Partizip מוֹרֶה môræh, das insbesondere im nachbiblischen Hebräisch „Lehrer“ meint. Da in der jüngeren Forschung vor allem Verpflichtungsgrad und Verpflichtungsart von תּוֹרָה tôrāh diskutiert werden, soll im Folgenden darauf eingegangen werden.
1.1. Zur Diskussion um die Bedeutung von „Tora“
Die meisten gängigen Bibelausgaben übersetzen תּוֹרָה tôrāh im Anschluss an die → Septuaginta
Liedtke / Petersen nennen in ihrem THAT-Artikel für das Nomen תּוֹרָה tôrāh die Bedeutungen „Weisung / Gesetz“, als Bedeutung für das Verbum ירה jrh Hifil dagegen „lehren“. Das Nomen תּוֹרָה tôrāh habe in nicht-theologischem Zusammenhang nie „nomistische“, sondern stets „chokmatische“ (= weisheitliche) Bedeutung (1033). Auch im → Deuteronomium
Auch gemäß dem HGANT-Artikel „Tora“ von Hubert Frankemölle ist die „bei Christen beliebte Identifizierung … mit νόμος (‚Gesetz‘) … in dieser undifferenzierten Form unzutreffend“ (392). Im Deuteronomium ziele תּוֹרָה tôrāh auf die „gesamte Willensoffenbarung [Jhwhs] in ihrer Einheit“ (392, vgl. von Rad 1992, 235), es gehe um die „Stiftung der ethnischen Identität“ (392).
Im ThWAT-Artikel von García López findet sich der Versuch einer Differenzierung: „Wie schon erwähnt, bedeutet תּוֹרָה tôrāh Unterweisung oder Lehre, die entweder mündlich oder schriftlich weitergegeben wurde. Wenn die traditio autoritativ verbindlich ist, kann תּוֹרָה tôrāh den Charakter eines Gesetzes erhalten.“ (603).
Nach Frank Crüsemann hat das Wort תּוֹרָה tôrāh im Alten Testament eine große Bedeutungsbreite:
„Das Wort umfasst dabei wie in allen seinen weiteren Verwendungen Information und Anweisung, Instruktion und Normsetzung, damit Zuspruch wie Anspruch, das Gebot genauso wie die Geschichte der Zuwendung, der es entspringt.“ (1992, 7; vgl. Crüsemann 2009).
Die referierten Stimmen repräsentieren recht gut die neuere Debatte um den Gesetzescharakter der Tora (= Pentateuch) und um die Bedeutung des Wortes תּוֹרָה tôrāh. Im Hintergrund steht die Revision der traditionell-christlichen Auffassung vom „gesetzlichen Judentum“. Daher wird in jüngerer Zeit sowohl in Bezug auf die Tora (= Pentateuch) als auch in Bezug auf das Wort תּוֹרָה tôrāh generell ihr Charakter als Unterweisung und als Ethik hervorgehoben.
Die Korrektur einer ganz oder auch nur überwiegend negativen Wahrnehmung der Tora ist ohne Zweifel ein großer theologischer Fortschritt, doch muss man davor warnen, die Tora nur dann positiv zu bewerten, wenn man ihr gleichzeitig den gesetzlichen Charakter abspricht. Die Übersetzung von תּוֹרָה tôrāh mit νόμος nomos „Gesetz“ ist keineswegs ein christliches Missverständnis, sondern wurde von den durchweg jüdischen Übersetzern der Bücher, die in die Septuaginta aufgenommen wurden, als sachgemäß erachtet. Zudem ist die Frage, wie das Wort תּוֹרָה tôrāh in alttestamentlicher Zeit verstanden und verwendet wurde, wohl zu unterscheiden von der Frage, wie die Tora (im Sinne des Pentateuch und im Sinne der gesamten jüdischen → Halacha
1.2. Einige Beispiele für die Bedeutungsbreite von „Tora“
Signifikant ist zunächst die Beobachtung, dass תּוֹרָה tôrāh, wenn sich das Wort auf den → Pentateuch
Markant ist Lev 6,1-2
In den Bestimmungen über das zentrale Obergericht in den Institutionengesetzen des Deuteronomium wird das ergehende Urteil wahlweise als מִשְׁפָּט mišpāṭ „Urteil“ (Dtn 17,9.11
Im Pentateuch wird das Nomen תּוֹרָה tôrāh überwiegend dazu verwendet, eine starke, gesetzesartige, teils mit Sanktionen bewehrte Anweisung zum Ausdruck zu bringen, wobei freilich die Unterweisung impliziert sein kann. Analoges gilt, wenn in anderen Büchern auf den Pentateuch oder einen Teil davon Bezug genommen wird.
Dagegen können etliche Belege im → Proverbienbuch
Differenzierter ist die Sachlage bei den Belegen für die sog. Torafrömmigkeit (Ps 1,2
2. Die Verwendung des Ausdrucks „Tora“
2.1. Weisung des Vaters, der Mutter oder des Lehrers
Der mutmaßlich älteste Gebrauch des Wortes „Tora“ meint die elterliche Weisung oder auch die Unterweisung durch den Lehrer. Diese beiden Möglichkeiten sind in den kurzen Sprüchen des → Proverbienbuches
2.2. Expertise des Priesters
Eine zweite traditionelle Verwendungsweise scheint die Erteilung von Expertisen durch Priester gewesen zu sein (→ Priestertora
2.3. Worte von Propheten
Weiter wird auch das prophetische Wort in gewissen Fällen als „Tora“ bezeichnet (→ Prophetie
2.4. Gottesworte, deren Vermittlung nicht expliziert wird
Es gibt etliche Stellen, an denen „Tora“ (im Singular oder Plural) eine von Gott ausgehende Weisung meint, wobei allerdings nicht expliziert wird, wie diese Weisung zum Empfänger kommt. Darunter fallen Jes 2,3
2.5. Einzelne priesterliche Gesetze
Häufig werden in den priesterlichen Texten des Pentateuch einzelne Gesetze mit der Bezeichnung „Tora“ eingeleitet oder abgeschlossen: Ex 12,49
2.6. Gesetzbuch des Deuteronomium
Eine sehr markante Verwendungsweise zeigt das → Deuteronomium
Die herkömmlichen Bezeichnungen für gesetzliche Bestimmungen sind מִשְׁפָּט mišpāṭ „Rechtssatz / Rechtsentscheid“, מִצְוָה miṣwāh „Gebot“, חֹק ḥoq „Satzung“ und bezeichnen einzelne, eher kurze Abschnitte. Auch דָּבָר dāvār eigentlich „Wort / Sache / Rechtsfall“ bezeichnet in seiner Anwendung auf präskriptive Sätze wie etwa im → Dekalog
Im Verlauf des → Deuteronomistischen Geschichtswerks
2.7. „Tora“ als Bezeichnung für das Ganze des Pentateuch
Im Anschluss an den Sprachgebrauch des Deuteronomium wurde der Ausdruck „Tora“ in der Folge auch auf das Gesamt des → Pentateuch
Nach Ex 13,9
In zwei nachpriesterlichen Ergänzungen zur Mannaerzählung (→ Manna
Die Erzählung über den Altarbau auf dem → Ebal
Soweit die Belege aus dem Hexateuch, die weiteren Belege im Alten Testament wurden zum Teil bereits angesprochen. Zu nennen sind in erster Linie das → Esra-Nehemia-Buch
2.8. Weitere Entwicklung
Die weitere Entwicklung sei nur ganz kurz umrissen. Im hellenistischen Judentum entwickelten sich die Tora und der Jerusalemer Tempel –vergleichbar den zwei Brennpunkten einer Ellipse – zum politischen, kulturellen und religiösen Doppelzentrum des Frühjudentums (vgl. 1Makk 14,29
Ab der römischen Zeit tritt neben die Tora im Sinne des Pentateuch die mündliche Tora, die im 2./3. nachchristlichen Jahrhundert in Gestalt der Mischna verschriftlicht wurde. Im rabbinischen bzw. orthodoxen Judentum kann mit „Tora“ auch das Gesamt der jüdischen Lebensregeln bezeichnet werden und wird damit zum Synonym für „Halacha“.
Literaturverzeichnis
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