Turmbauerzählung
(erstellt: November 2006)
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1. Der Titel „Turmbauerzählung“
Der herkömmliche Titel „Turmbauerzählung“ für Gen 11,1-9
Man wollte schon in der Antike die sichtbaren Überbleibsel kennen, die der Turm hinterlassen haben soll (vgl. im babylonischen Talmud Traktat Sanhedrin 109a; Text Talmud
Doch schon die Übersetzung von מִגְדָּל migdāl mit „Turm“ (Gen 11,4
1) Das hebräische Wort, das sonst nie für ein sakrales Gebäude steht, bezeichnet oft eine Zitadelle (vgl. Ri 9,46f
2) Die auffällige Wortverbindung in Gen 11,4
2. Struktur
Der kompositorische, facettenreiche Aufbau macht literarische Akzentuierungen der Erzählung deutlich:
Die Verteilung der Leitworte und lautlicher Anklänge im Hebräischen zeugen von einer sorgfältigen Komposition der Erzählung. Sie gliedert sich in zwei Teile, die sowohl parallel aufgebaut als auch konzentrisch aufeinander ausgerichtet sind. Im Zentrum steht die erste Erwähnung JHWHs in Gen 11,5
1) In gleicher Folge werden Worte aus Gen 11,1-4
2) Zugleich sind Worte und Gleichklänge so platziert, dass sie den Satz „und JHWH stieg herab, um zu sehen“ (Gen 11,5
Die narrative Gestalt hingegen akzentuiert eine gerahmte Doppelstruktur. Nach Westermann (1974; vgl. Bost 1985) „handeln und reden“ zuerst die Menschen (Gen 11,2-4
1) Auf Ortswechsel (Gen 11,2
2) Im Rahmen korrespondieren der Anfangs- und der Endzustand, da es von der gemeinsamen Rede der Weltbevölkerung (Gen 11,1
3) Zugleich werden im Schlussteil Linien zusammengeführt und Themen abschließend koordiniert: Die Bauabsicht sowie -vorbereitung (Gen 11,3-4
Hinzu kommen in der Erzählung Alliterationen (hebr. Buchstaben B, L und N in Gen 11,3f
3. Bedeutungsaspekte
3.1. Sprache und Sprachvermengung
Akzente beim Thema Sprache wurden mittlerweile als bedeutender Gesichtspunkt für das Textverständnis erkannt (Berges 1994, 2002; Diße 2001).
Im Text geht es zunächst wohl nicht um eine Einzelsprache oder ein Sprachsystem (Gen 11,1
Mit solch „einer (gleichen) Rede“ korrelieren gemeinsames Wohnen und Handwerken, verbindendes Bauprojekt (Gen 11,2-4
Dabei „vermengt“ (statt Lutherbibel und Einheitsübersetzung „verwirrt“) JHWH „ihre Lippe“, was bedeuten kann, dass JHWH in die „eine gleiche Rede“ etwas hineinmischt (Jacob 1934). Das Resultat soll sein, „dass sie sich nicht verstehen, einer die Rede seines Nächsten“ (Gen 11,7
Die Kriegsrolle von → Qumran
3.2. Hybris, Schuld oder andere Gründe
Die traditionelle Auslegung ging bei den planenden und bauenden Menschen von einer Hybris und/oder von einer Schuld bzw. Sünde aus. Doch diese Auslegung wusste auch darum, dass „in der Erzählung das, worin nun eigentlich die Sünde der Menschen bestand, doch nicht mit der letzten Deutlichkeit ausgesprochen ist“ (von Rad 1948). Neuere Auslegungen sind bei der Kennzeichnung des Menschenwerkes als Schuld und Hybris behutsamer geworden oder rücken von solchen Thesen ab (Uehlinger 1990; Berges 1994, 2002; Diße 2001; vgl. Jacob 1934). Entscheidend für entsprechende Einschätzungen ist dabei, was einzelne Wendungen bedeuten können.
Zwei Richtungen wurden eingeschlagen: Wenn die Zitadelle mit „ihrer Spitze an den Himmel“ (Gen 11,4
Mit dem Bau eng verbunden ist das Ziel: „Machen wir uns einen Namen“ (Gen 11,4
Das Ziel der Bauprojektanten, Zerstreuung zu verhüten (Gen 11,4
Die Worte Gottes in Gen 11,6
So kann ein Teil der Auslegungen in JHWHs Eingriff problemlos eine „Strafe“ erkennen (Procksch 3. Aufl. 1924; von Rad 1948; Westermann 1974; Ruppert 1992). Wo aber Auslegungen im menschlichen Projekt und Sinnen keine oder kaum moralisch negative Momente erblicken, stehen sie vor dem Problem zu erklären, worin das Motiv für JHWHs Eingriff liegt. Die Thesen reichen von anthropologischen über theologische bis hin zu politischen Erklärungen: JHWH wolle den Menschen vor den Gefahren und Folgen seiner großartigen Unternehmungen schützen (Seebass 1996). Gott setze sein Ziel durch, dass die Menschheit alle Welt bevölkere (Jacob). JHWH interveniere gegen eine „sich im Bau von 'Stadt und Turm' konkret manifestierende Form politischer Organisation“, gegen „Weltherrschaftsansprüche überhaupt“ (Uehlinger 1990); Gott richte sich gegen die „Konzentration aller kollektiven Kräfte auf den einen Ort“, es gehe um „Distanz zu den Großmächten“ (Berges 2002). Auch die neueren Exegesen kommen letztlich nicht daran vorbei, dass JHWH einen gewissen Missstand oder ein gewisses Defizit unter den Menschen korrigiert.
3.3. Schinar und Babylon
Mit der „Ebene im Land Schinar“ (Gen 11,2
4. Entstehung
4.1. Schichtung
Gunkel (1901.1910) ging von zwei Quellen aus, die der Erzählung zu Grunde liegen: ein „Stadtbericht“ mit dem Thema Sprachverwirrung (Gen 11,1.3a.4a*.5a*.6a*.7.8b.9a) und eine „Turmbaurezension“ mit dem Thema Zerstreuung (Gen 11,2.4a*.b.3b.5a*.b.6a*.8a.9b). Gunkels These wurde vielfach übernommen und modifiziert (Skinner 1910; Chaine 1948; Wallis 1966; Schreiner 1975; vgl. Rose 2004).
Weitere literarhistorische Erklärungen kamen hinzu: Man nahm eine Verflechtung der unterschiedlichen Themen auf der traditionsgeschichtlichen Ebene an, in einer Vorgeschichte der Erzählung also (Zimmerli 1943; von Rad 1948; Westermann 1974; Bost 1985; Seebass 1996). Andere wollten auf der schriftlichen Ebene einen bis drei redaktionelle Eingriffe erkennen (Weimar 1977; Neveu 1984; Uehlinger 1990; Ruppert 1992), wobei derartige Modelle recht unterschiedlich ausfallen: Beispielsweise meinte Seybold (1976), eine „ätiologische Babelgründungsaussage“ mit dem Thema Sprachverwirrung sei zuerst gerahmt, ergänzt und zu einer Urzeiterzählung gestaltet („Jahwist“ Gen 11,1.6*.9a*) und dann mit dem Thema Zerstreuung glossiert (Gen 11,4b.8a.9b) worden. Hingegen nahm Witte (1998) an, eine weitaus kürzere „Babelätiologie“ sei von einem Redaktor (der Urgeschichte Gen 11,1.2*.3.4b.5b[?].6-7.8ab[?]9a*.b) umfangreich ergänzt worden.
Budde (1925), Jacob (1934) und Cassuto (1964) gingen von der Einheitlichkeit der Erzählung aus. Der Text wird teilweise bewusst als Einheit gelesen (Harland 1998), oder von der Frage nach dem Wachstum wird einfach abgesehen (Auffret 1981; Croatto 1998; Wolde 2000).
Das uneinheitliche Bild in der Forschung rührt von der Beurteilung her, ob Spannungen (z.B. zwei Motive, den Turm zu bauen: einen Namen machen – nicht zerstreut werden Gen 11,4
4.2. Historische Einordnung
Die zeitliche Einordnung der Erzählung wurde von der Forschung lange anhand von übergeordneten Erklärungsmodellen vorgenommen, wie der → Pentateuch
Uehlinger (1990) bot für sein redaktionsgeschichtliches Modell die detaillierteste historische Zuschreibung: Der Verfasser einer Grundschicht habe den Machtzuwachs des → assyrischen Reiches
Witte versteht die Arbeit der umfangreichen Redaktion (s.o.) vom Versuch Alexanders d. Gr. (336-323 v. Chr.) her, mit 10.000 Soldaten Babylon und seine Zikkurat wieder zu errichten, als Hauptstadt des makedonischen Reiches auszubauen und damit seine „kulturelle Verschmelzungspolitik zu stützen“. Gen 11,1-9
Abgesehen von der Entstehungszeit ist das zeitgeschichtliche Ambiente zu beachten, welches mit den Namen „Schinar“ und „Babel“ etabliert werden soll. Beim Ambiente ist ein Durchschimmern der Exils- und/oder Nachexilssituationen möglich (vgl. Sals 2004). Dieses Ambiente muss nicht pragmatisch im und für den gemeinten „exilischen bzw. nachexilischen“ Zeitraum entstanden sein, es kann auch paradigmatisch für analoge Situationen gelesen werden. Das Exil eines Unterdrückers wie Babylon werde den „Exilierten“ bzw. territorial Entwurzelten prognostiziert (vgl. Croatto 1998); „Baustopp und Zerstreuung“ könnten befreiend auf solche wirken, die sich mit den aus Israel, Juda und den Nachbarvölkern Deportierten identifizieren können (vgl. Berges 2002); dabei klingt eine „Befreiung vom Joch eines verhassten Zwangsstaates“ mit an (Krauss / Küchler 2003).
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
2. Kommentare
- Cassuto, U., 1964, Commentary on the Book of Genesis II. From Noah to Abraham, Genesis VI 9-XI 32, Jerusalem
- Delitzsch, F., 1872, Neuer Commentar über die Genesis, Leipzig
- Gunkel, H., 1901 (3. Aufl. 1910; Nachdruck 7. Aufl. 1966), Genesis (HK I/1), Göttingen
- Jacob, B., 1934 (Nachdruck Stuttgart 2000), Das erste Buch der Tora Genesis übersetzt und erklärt, Berlin
- Krauss, H. / Küchler, M., 2003, Erzählungen der Bibel. Das Buch Genesis in literarischer Perspektive. Die biblische Urgeschichte (Gen 1-11), Freiburg (Schweiz)
- Procksch, O., 3. Aufl. 1924, Die Genesis übersetzt und erklärt (KAT 1), Gütersloh
- Rad, G. v., 1948 (12. Aufl. 1987), Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2-4), Göttingen
- Ruppert, L., 1992, Genesis. Ein kritischer Kommentar und theologischer Kommentar, 1. Teilband: Genesis 1,1-11,26 (fzb 70), Würzburg
- Seebass, H., 1996, Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn
- Skinner, J., 1910 (2. Aufl. 1930), Critical and Exegetical Commentary on Genesis (ICC), Edinburgh
- Wenham, G. J., 1987, Genesis 1-15 (WBC 1), Waco Texas
- Westermann, C., 1974 (4. Aufl. 1999), Genesis. 1. Teilband: Genesis 1-11 (BK I/1), Neukirchen-Vluyn
- Zimmerli, W., 1943 (4. Aufl. 1984), 1. Mose 1-11. Urgeschichte (ZBK.AT 1.1), Zürich
3. Weitere Literatur
- Auffret, P., 1982, Essai sur la structure littéraire de Gn 11,1-9, in: ders., La sagesse a bâti sa maison. Études de structures littéraires dans l'Ancien Testament et spécialement dans les psaumes (OBO 49), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 69-90
- Berges, U., 1994, Gen 11,1-9: Babel oder das Ende der Kommunikation, BN 74, 37-56
- Berges, U., 2002, Die befreiende Gabe der Vielfalt. Eine exegetische Analyse der Erzählung vom Baustopp, KatBl 127, 248-253
- Borst, A., 1957-1963, Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über den Ursprung und die Vielfalt der Sprachen der Völker. Bände I-IV, Stuttgart
- Bost, H., 1985, Babel. Du texte au symbole (Le Monde de la Bible), Geneve
- Budde, K., 1925, Einheitlichkeit und Erhaltung von Gen. 11,1-9, in: ders., Vom Alten Testament (FS K. Marti; BZAW 41), Berlin, 45-51
- Chaine, J., 1945, La Tour de Babel (XI 1-9), in: Mélanges E. Podechard, Lyon, 63-69
- Croatto, J. S., 1998, A reading of the story of the tower of Babel from the perspective of non-identity. Genesis 11:1-9 in the context of its production, in: Segovia, F. F., Tolbert, M. A. (Hgg.), Teaching the Bible. The discourses and politics of Biblical pedagogy, Maryknoll, NY, 203-223
- Diße, A., 2001, Turmbau oder Sprachverwirrung? Von der Exegese zur Religionspädagogik, in: A. Michel / H.-J. Stipp (Hgg.), Gott, Mensch, Sprache (FS Walter Groß; ATS 68), St. Ottilien, 23-44
- Fokkelmann, J. P., 2. Aufl. 1991, Narrative Art in Genesis. Specimens of stylistic and structural analysis, Sheffield
- Harland, P. J., 1998, Vertical or horizontal. The sin of Babel, VT 48, 515-533
- Kass, L. R., 2000, The humanist dream: Babel then and now, Gregorianum 81, 633-657
- Kikawada, I. M., 1974, The Shape of Genesis 11:1-9, in: J. J. Jackson (Hg.), Rhetorical criticism (FS James Muilenburg), Pittsburgh, Pa., 18-32
- Neveu, L., 1984, Avant Abraham. Genèse I-XI, Angers
- Raddy, Y. T., 1972, Chiasm in Tora, LingBibl 19, 12-23
- Rose, C., 2004, Nochmals: Der Turmbau zu Babel, VT 54, 223-238
- Sals, U., 2004, Die Biographie der „Hure Babylon“. Studien zur Intertextualität der Babylon-Texte in der Bibel (FAT 26), Tübingen
- Schreiner, J., 1975, Heillos verwirrt und verstreut (Gen 11,1-9), in: A. Rosenberg (Hg.), Der babylonische Turm. Aufbruch ins Maßlose, München, 16-34
- Seybold, K., 1976, Der Turmbau zu Babel. Zur Entstehung von Genesis XI,1-9, VT 26, 453-479
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- Soden, W. v., 1971, Etemenaki vor Asarhaddon nach einer Erzählung vom Turmbau zu Babel und dem Erra-Mythos, UF 3, 253-263
- Swiggers, P., 1999, Babel and the confusion of tongues (Genesis 11:1-9), in: Lange, A., Lichtenberger, H., Römheld, D. (Hgg.), Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt (FS Hans-Peter Müller, BZAW 278), Berlin, 182-195
- Uehlinger, C., 1990, Weltreich und „eine Rede“. Eine Deutung der sogenannten Turmbauerzählung (OBO 101), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
- Uehlinger, C., 2003, „Bauen wir uns eine Stadt und einen Turm …!“, BiKi 58, 37-42
- Wallis, G., 1966, Die Stadt in den Überlieferungen der Genesis, ZAW 78, 133-148
- Weimar, P., 1977, Untersuchungen zur Redaktionsgeschichte des Pentateuch (BZAW 146), Berlin
- Witte, M., 1998, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1-11,26 (BZAW 290), Berlin
- Wolde, E. v., 2000, The Earth Story as Presented by the Tower of Babel Narrative, in: N. C. Habel / S. Wurst (Hgg.), The Earth story in Genesis, Sheffield, 147-157
Abbildungsverzeichnis
- Der Turmbau zu Babel (Französischer Meister im Stundenbuch des Herzogs von Bedford; 1423).
- Stadt und Zitadelle auf einem neuassyrischen Palastrelief aus Nimrud. Aus: Uehlinger, 1990, 378 Abb. 02; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
- Der Turmbau zu Babel (Peter Bruegel d. Ä.; 1563).
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