Unschuld
(erstellt: Juli 2018)
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1. Definition und Terminologie
Das Wortfeld „Unschuld“ / „unschuldig“ bezeichnet im deutschen Sprachgebrauch eine moralisch-ethische Qualifikation, die sich sachlogisch an der Negation des Gegenbegriffs „Schuld“ und (in einen breiteren Bezugsrahmen gesetzt auch → „Sünde
Das deutsche Lexem „Unschuld“ / „unschuldig“ hat im Hebräischen keine unmittelbare Entsprechung. Es wird am ehesten über das Verb תמם tmm ausgedrückt, sowie seine Derivate: תָּמִים tāmîm (Ps 84,12
Im Griechischen findet sich als übliches Äquivalent der Begriffe תָּמִים tāmîm, תֹּם tom, תָּם tām und תֻּמָּה tummāh*, sofern diese sich auf den Aspekt der Unschuld beziehen, fast ausschließlich der Ausdruck ἀκακία akakia (wörtlich: „Mangel an Bosheit“). Die Wahl der griechischen Übersetzung ist bemerkenswert. Denn dem Griechischen stand ein ausdifferenziertes und sprachlich durchaus üblicheres Wortfeld bereits zur Verfügung (vgl. die bei Bons, 2016, 496 gelisteten Termini). Die Wahl des Begriffs ἀκακία akakia ist eventuell dadurch motiviert, dass er als einziger griechischer Begriff explizit und in absoluter Weise die „Abwesenheit von böser, also ethisch fragwürdiger Gesinnung“ ausdrückt (Bons, 2016, 491-501).
2. Unschuld als ethisch-moralische Kategorie
Das hebräische Begriffsrepertoire mit dem Bedeutungszuschnitt „Unschuld“ / „unschuldig“ kommt äußerst selten vor und beschränkt sich nahezu ausschließlich auf die → Psalmen
Die semantische Zuspitzung auf die Sphäre des ethisch-moralischen ist bemerkenswert, denn ihr biblischer Gegenbegriff, die Schuld, deckt ein weitaus schillernderes Bedeutungsspektrum ab, welches nicht nur die ethisch-moralische, sondern vor allem die juristische Bedeutungsebene evoziert, und mit Aspekten aus dem Finanzwesen („Verschuldung“) sprachlich wie sachlich grundiert ist (Schenker, 2001, 728-734; Knierim, 2001, 365-373). Die Wortgruppe תמם tmm bezeichnet das Richtige, Gutartige, Gerade, Rechte einer Handlung oder einer gesamten Lebensführung in Bezug auf das Gemeinwesen.
Der Gottesbezug spielt keine konstitutive Rolle. Die „Unschuld“ zielt also nicht primär auf den religiösen, sondern vor allem auf den zwischenmenschlichen Raum. Anders hingegen der biblische Sprachgebrauch für das sachliche Gegenstück der „Schuld“, welches semantisch zwischen Schuld im oben genannten Sinne und Sünde, also dem Verstoß gegen göttliche Normen (dazu Bieberstein / Bornmann, 2009, 570-573), oszilliert. Das biblische Unschuldsverständnis differiert von einem modernen und teilweise auch aus der christlichen Auslegetradition entstandenen Verständnis, das dazu tendiert, Unschuld begrifflich und sachlich in die Nähe von vollkommener Sündlosigkeit und exklusiver Observanz göttlicher Normen zu rücken. Dem biblischen Bild ist die Vorstellung einer absoluten Sündlosigkeit des Menschen, der der Mensch etwa durch den sog. → Sündenfall
3. Zum Zusammenhang von Intentionalität und Tat
Ein zentrales Kriterium für die „Unschuld“ eines Menschen ist insbesondere die individuelle Intentionalität, nicht der Effekt einer Handlung, der gemeinschaftsschädigend wirkt. Oder anders formuliert: Wo moralisch-ethisch verwerfliches Handeln mit einer entsprechen Intentionalität der Handlung zusammenkommen, ist das entsprechende Individuum schuldig.
Umkehrt aber kann eine von ihrem Ergebnis her moralisch-ethisch negativ zu beurteilende Tat den Handlungsausführenden noch als Unschuldigen qualifiziert lassen, sofern die entsprechende Intentionalität fehlt. Dies wird regelmäßig in bestimmten biblischen Texten vorausgesetzt und teilweise narrativ expliziert.
Hierzu zwei prägnante Beispiele:
1) In der zweiten Fassung der „Gefährdung der Ahnfrau“-Erzählung (→ Preisgabeerzählungen
2) Vergleichbares gilt auch für die Thronfolgestreitigkeiten (→ Thronfolgegeschichte
4. Das Losorakel „Urim und Tummim“
Ein interessanter Bedeutungshorizont könnte sich hinsichtlich des priesterlichen Losorakels „Urim und Tummim“ (hebräisch: אוּרִים וְתוּמִּים ’ûrîm wətûmmîm) aufspannen, welches in Ex 28,30
Es besteht allerdings auch die Möglichkeit „Urim“ etymologisch von der Wurzel ארר ’rr „verfluchen“ abzuleiten. Für „Tummim“ ist eine Ableitung von תָּמִים tāmîm und תֻּמָּה tummāh* (s.o. 1.), also „Unschuld“, „unschuldig“. Die sich daraus ergebende gegensätzliche Bedeutungen „verflucht und unschuldig“ geben die binären Ausschläge dieses Orakels wieder, wie sie auch die biblischen Texte widerspiegeln: ja oder nein (2Sam 2,1
Literaturverzeichnis
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- Aurelius, E., Davids Unschuld. Die Hofgeschichte und Psalm 7; in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS Otto Kaiser, Band 1; BZAW 345/1), Berlin / New York 2004, 391-412
- Bieberstein, K. / Bormann, L., 2009, Art. Sünde, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh, 570-573
- Bons, E., Ἀκακία and ἄκακος. Considerations on a Septuagint Term of „Innocence“, in: S. Kreuzer / M. Meiser / M. Sigismund (Hgg.), Die Septuaginta – Orte und Intentionen. 5. Internationale Tagung veranstaltet von Septuaginta Deutsch (LXX:D), Wuppertal 24.-27. Juli 2014, Volume I (WUNT 361), Tübingen 2016, 491-501
- Crüsemann, F., Eva – Die erste Frau und ihre ‚Schuld’. Ein Beitrag zu einer kanonisch-sozialgeschichtlichen Lektüre der Urgeschichte, in: ders., Kanon und Sozialgeschichte. Beiträge zum Alten Testament, Gütersloh 2003, 55-65
- Hensel, B., Die Vertauschung des Erstgeburtssegens in der Genesis. Eine Analyse der narrativ-theologischen Grundstruktur des ersten Buches der Tora (BZAW 423), Berlin / New York 2011
- Kedar-Kopfstein, B., Art. תמם, in: ThWAT, Bd. 8, Stuttgart u.a. 1995, 688-701
- Knierim, R.P., Art. „Sünde. II. Altes Testament“, in: TRE, Bd. 32, Berlin u.a. 2001, 365-373
- Schenker, Art. Sünde I: AT, in: NBL, Bd. III, Zürich u.a. 2001, 728-734
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