Urgeschichte
(erstellt: Mai 2008)
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In der Bibelwissenschaft bezeichnet „Urgeschichte“ den Erzählzusammenhang, der das Buch → Genesis
1. Komposition
Der synchron gelesene Text der Urgeschichte lässt sich im Wesentlichen in drei Abschnitte gliedern: 1) Gen 1,1-6,4
1) Gen 1,1-6,4: Kosmogonie und Anthropogonie
Gen 1,1-2,3
Der folgende „zweite“ Schöpfungsbericht (Gen 2,4-25
Gen 3,1-24
2) Gen 6,5-9,18: die Sintflutüberlieferung
Wie auch in den Parallelüberlieferungen aus Mesopotamien markiert die Sintflut das Ende einer ersten Epoche des Menschengeschlechts und den Beginn einer zweiten, die zugleich neue Formen kosmischer und sozialer Ordnung mit sich bringt (Bosshard-Nepustil; → Sintflut / Sintfluterzählung
3) Gen 9,19-11,32: die Völkergeschichte
Mit der Verfluchung → Kanaans
Die Turmbaugeschichte (Gen 11,1-9
2. Literargeschichte
Die biblische Urgeschichte war Ausgangstext und Paradebeispiel der klassischen Quellenhypothese (→ Pentateuchforschung
Angesichts der fragilen Gestalt des jahwistischen Textes ist es nicht verwunderlich, dass neuere Arbeiten zur Urgeschichte das Quellenmodell genau an dieser Stelle hinterfragen. Die traditionelle Annahme, die J-Urgeschichte sei einmal eine in sich geschlossene Überlieferung gewesen und erst durch die Einarbeitung in P fragmentiert worden, ist ja bereits ein Versuch, die textlich nicht gesicherte Quellenhaftigkeit von J auf der Ebene der Theorie plausibel zu machen. Anhand von Einzelstudien zu Gen 2-3
Die literarische Vorgängigkeit der priesterlichen Texte legt sich auch anhand der Rezeption der Urgeschichte innerhalb des alttestamentlichen Kanons nahe. Der priesterliche Schöpfungsbericht wird vorausgesetzt in Dtn 4,15-19
Mit der Umkehrung des literarischen Verhältnisses von P und nicht-P entfällt zunächst das Problem der literarischen Kohärenz auf der Seite der „jahwistischen“ Texte. Unterschiedlich beantwortet wird allerdings die Frage, ob es sich hierbei nun um eine Ergänzungsschicht aus einer Hand handelt (Blenkinsopp; Bosshard-Nepustil) oder aber um literarisch, historisch und theologisch jeweils eigenständige Bearbeitungen von P (Schüle). Strukturelle und erzählmotivische Bezüge zeigen sich vor allem zwischen Eden- und → Turmbauerzählung
3. Religionsgeschichte
Die Entzifferung und Publikation der großen mesopotamischen Schöpfungsmythen und Fluterzählungen (bes. → Gilgamesch
Auf der anderen Seite präsentieren sich die urgeschichtlichen Stoffe in einer literarischen und theologischen Gestalt, die sie eng in den Diskurs der kanonischen Traditionen des Alten Testaments einbinden. So ist die Vorstellung von der Schöpferkraft des göttlichen Sprechens zwar nicht ohne Analogie in mesopotamischen Texten (Schmidt), in ihrer explizit auf alle Bereiche des Kosmos und auf alle Lebensformen bezogenen Gestalt hat sie ihre nächste Parallele allerdings in den Rahmenstücken → Deuterojesajas
Vor allem aber ist es die Sintfluterzählung, in der die Verfasser der Urgeschichte den → Mythos
Wenngleich mit anderer Pointe gilt Ähnliches auch für die nicht-priesterlichen Texte. So insistiert Gen 8,20-22
Zusammenfassend bildet die Mythologie der antiken Welt gleichsam das Medium, in dem die alttestamentlichen Traditionen eine ihnen eigene Urgeschichte formen. Dies dürfte auch für die im jetzigen Kontext erratisch wirkende Erzählung von den „Engelehen“ gelten (Gen 6,1-4
4. Theologie
Von der Hypothese ausgehend, dass die „jahwistische“ Fassung die ursprüngliche Gestalt der Urgeschichte bildete, wurde die Urgeschichte theologisch als Darstellung des „lawinenartigen“ Anwachsens menschlicher Sünde gelesen (v. Rad). Die Sündenlinie führt demnach von Adam und Eva über Kain hin zur Generation Noahs und schließlich zur ganzen Menschheit, die sich gegen Gott auflehnt, indem sie einen himmelhohen Turm baut. Den Kontrast zur Urgeschichte bilden dann die Vätererzählungen, in denen es nicht mehr Sünde, sondern Segen ist, der sich von Abraham ausgehend über die Welt der Völker ausbreitet. Das textimmanente Problem dieser These ist, dass sie mit einem stark generalisierten Sündenbegriff die feineren Nuancen der betreffenden Texte nicht erfasst. So ist von „Sünde“ tatsächlich nur in Gen 4,7
Die Urgeschichte handelt wesentlich davon, wie die Menschen ihren Platz in der Welt finden und einnehmen. Für die Priesterschrift ist dies ein Prozess, der durchweg von Gottes souveränem Schöpferhandeln gelenkt wird. Selbst die Gewalt in der Welt, die den Kosmos fast wieder auf den anfänglichen Chaoszustand zurückwirft, kann nicht verhindern, dass sich die Welt und die Menschen darin am Ende von Gen 11
In den nicht-priesterlichen Texten auf der anderen Seite zeigt sich das für die antike Mythologie typische Konfliktmotiv, das insbesondere in den Edenerzählungen, der Sintflutgeschichte, der Episode von „Noah als Weingärtner“ und schließlich im „Turmbau zu Babel“ hervortritt. Was Menschen sind, wo ihr Platz in der Welt ist und schließlich was sie tun und was sie lassen sollen, all das wird erzählerisch anhand eines spannungsvollen Beziehungsgeflechts thematisiert, in das Gott und Menschheit gleichermaßen eingeschlossen sind. So „fallen“ Adam und Eva zwar aus dem Gottesgarten heraus, beginnen damit aber im Grunde gerade das zu tun, wozu sie laut Gen 2,5
Was dem theologischen Diskurs der Urgeschichte eine übergreifende Struktur und inhaltliche Orientierung gibt, ist die in der Priesterschrift verankerte Rede von der Gottebenbildlichkeit (→ Gottebenbildlichkeit
In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage nach der Erkenntnis von Gut und Böse, die sich die Menschen gegen Gottes Absichten aneignen. Diese Erkenntnis zeigt sich interessanterweise nicht in einer ad-hoc Umwandlung des Menschen zu einem weisen, ethisch-moralisch reifen Wesen. Wenn Adam und Eva von Gott zur Rede gestellt sich wechselseitig beschuldigen, dann wird damit in negativer Abschattung gesagt, dass der um Gut und Böse wissende Mensch in der Lage sein sollte, für sich und seine Taten Verantwortung zu übernehmen. Dazu ist er nach dem Griff zur verbotenen Frucht allerdings nicht schon automatisch in der Lage. Verantwortung als zentrale ethische Kategorie in der Urgeschichte ist etwas, wozu der Mensch zwar befähigt ist, was er allerdings auch erst erlernen muss. Die Geschichte von Kain und Abel thematisiert die moralische Ansprechbarkeit des Menschen („Wo ist ein Bruder Abel?“), einschließlich deren Scheiterns durch Eifersucht, Zorn und schließlich Gewalt. In der Perspektive von Gen 4,7
Für die Einordnung der Urgeschichte in den Kontext der Tora ist wichtig, dass mit ihr die Besinnung auf Mensch und Menschheit im Allgemeinen der eigentlichen Geschichte Israels vorangestellt wird. Das Spezifische dieser Geschichte - der Glaube der Mütter und Väter Israels, die Mehrung der Israeliten zu einem Volk, die Rettung Israels durch die Wasser des Schilfmeeres und die Vernichtung der Truppen Pharaos, das Aufbegehren Israels gegen Gott in der Wüste - all das erscheint nun im Spiegel mythisch-weisheitlicher Reflexion auf das allgemein Menschliche sowie auf das Wesen des Schöpfergottes und seiner Beziehung zur geschaffenen Welt.
Literaturverzeichnis
Lexikonartikel
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Abbildungsverzeichnis
- Gott erschafft die Welt (Grandval-Bibel; 9. Jh.).
- Die Flut (Hans Baldung; 1516).
- Der Turmbau zu Babel (Peter Bruegel d. Ä.; 1563).
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