Urmeer
(erstellt: September 2010)
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Der Begriff Urmeer (hebräisch תְּהוֹם təhôm und יָם jām) gehört zu einem mythischen Konzept (→ Weltbild
1. Das Urmeer im Alten Orient und im antiken Griechenland
1.1. Ägypten
Das ägyptische Urmeer wird durch den Gott Nun (nwn) verkörpert (vgl. Leitz / Budde 2002, III, 543-550; 2003, 278-280). Nun, der den Titel „Vater der Götter“ trägt (Sargtexte: Coffin Texts IV,1888/9c = Spruch 335), gehört zu den kosmischen Göttern, nämlich zu denen, die die irdischen bzw. unterirdischen Weltteile verkörpern wie Geb, Erde, der Erdgott Aker und andere chthonische Urkräfte. Zusammen mit Atum(-Re) gilt er mitunter als Schöpfergott (Otto, 653; Grieshammer, 534). Als träge Masse steht er der Weltentstehung (Kosmogenese) voran, in der die belebte Welt in Form von Luft und Licht treibt (→ Hermopolis
Zusammen mit seinem weiblichen Pendant Naunet (Leitz 2002, III, 550f.) bildet Nun eines der Urgötterpaare der Achtheit von → Hermopolis
1.2. Mesopotamien
In Mesopotamien heißt das Urmeer → Apsu
8 Apsu war nicht gemacht, Eridu nicht erschaffen, 9 ein reines Haus, das Haus der Götter, seine Wohnung war nicht gemacht; 10 alle Länder waren (noch) Meer, 11 die Quelle inmitten des Meeres war nur eine Rinne …“ (TUAT III/4, 608).
Nach dieser spätbabylonischen Überlieferung aus Sippar entwickelt sich die Schöpfung also aus dem Meer, in dem das Leben spendende Süßwasser als Rinnsal präexistent vorhanden ist. Die traditionelle Rolle des Schöpfergottes Ea / Enki nimmt in diesem Text sein Sohn → Marduk
Zum Umfeld Tiamats und der Chaoswasser gehört auch das Mischwesen Muschchuschu, das auf Darstellungen begegnet sowie in Enuma Elisch II,27 (dazu Wiggermann, 145-155.168f.; → Chaos
Als Sieger über die Chaosmächte wird Marduk – nach einem in der Glyptik von Eschnunna seit altakkadischer Zeit belegten Motiv (Collon, Abb. 785f., 895) – in spätbabylonischer Zeit auf einem drachenartigen Wesen stehend dargestellt. Die reptilhafte Darstellung des Wesens, mit dem im Laufe der Geschichte die unterschiedlichsten Stadt- oder Reichsgötter verbunden waren, deutet ursprünglich auf einen Unterweltkontext hin (Green, 1841f.; Wiggermann, 152). Im vorliegenden Fall schwingt in Anlehnung an das Weltschöpfungsepos der Gedanke der „behobenen Krise“ mit, in deren Folge Marduks Widersacher zu seinem Postamenttier degradiert wurde.
Die konstituierende Bedeutung des Urmeeres für das Weltbild wird ersichtlich aus Zeichnung und Beitext einer spätbabylonischen Weltkarte, auf der die Erde, als flache Scheibe gedacht, von dem kreisrund verlaufenden nâr marratum, dem „Bitterstrom“, umflossen ist.
Das genaue Verhältnis zwischen den Tiefen des Apsu, seinen Pforten und den dem irdischen Bereich zugehörigen Wassern ist nicht eindeutig (Horowitz, 344-347). So dient die Bezeichnung apsû z.B. im Schamasch Hymnus 35-38 für beide Bereiche (BWL 128, vgl. Horowitz, 340). Gilgamesch taucht in die Tiefen des Apsu, um die Pflanze der Verjüngung zu erlangen (Gilgamesch XI, 271-276). Apsu kann darüber hinaus sogar Anteil an der Unterwelt haben und zum Wohnort der Unterweltgötter, der Annunaki, werden (Erra 78,183-185) oder – wie in Ischtar und Dumuzi 137,179-182 – mit dem Unterweltfluss Chubur assoziiert werden (Horowitz, 342-344).
1.3. Anatolien
Eine untergeordnete Rolle hat die Wassermotivik in dem hethitisch-hurritischen Mythenzyklus vom Gerstengott Kumarbi (Catalog der Texte der Hethiter [= CTH] 344), der in Hattuscha gefunden wurde. Im Kern geht es um einen Sukzessionsmythos in der sumerischen Tradition des Himmel-Erde-Trennungsmythos (→ Schöpfung
1.4. Syro-Phönizien
Der phönizische Historiograph → Philo von Byblos
1.5. Griechenland
Das griechische Weltbild ist wenigstens in der vorklassischen Zeit dem altorientalischen nicht unähnlich. Das homerische Weltbild wird fassbar in Ilias 18, 478-608, der berühmten Beschreibung des Schildes von Achilleus, der die Trias von Himmel (Ouranos) – Erde (Gaia) – Meer (Thalassa) darstellt, wobei der Ringstrom Okeanos (vgl. Ilias 15,189-192; 16,150) als „Ahn und Schöpfer … von den Lebenden allen“ das Ganze umfließt (Ilias 16, 246). Dieser gilt auch als Vater der Götter (wie der Flüsse und Meere; vgl. Ilias 21,195; Hesiod, Theogonie 337) und Gatte der (Ur-)Meeresgöttin Tethys (Ilias 14,200; Theogonie 337-370). Bei Hesiod (Theogonie 133) zählt er als Sohn von Ouranos und Gaia zu den Titanen (Hübner, 19-22). Okeanos ist also einerseits eine mythische Gestalt der Urgöttergeneration, andererseits eine naturkundliche Größe in Meer und Horizont (Hübner, 28f.). In der ionischen Naturphilosophie des 6. Jh.s v. Chr. gilt das Wasser als der Ursprung von allem. Thales von Milet beschreibt in De Coelo B 13, dass die Erde wie ein Stück Holz auf dem Wasser schwimme, und trennt sich somit von der vorklassischen Voraussetzung des alles umfließenden Okeanos. Anderseits vertritt er aber auch noch nicht die materialistisch-physikalische Anschauung, die besagt, dass alles Seiende aus Wasser besteht, wie Anaximenes von Milet (6. Jh. v. Chr.) es tat (vgl. Kirk / Raven / Schofield, 101-104). Der Kirchenvater Hippolyt (Refutatio I,8,3-10) überlieferte das bereits naturwissenschaftlich orientierte Weltbild des Anaxagoras von Klazomenai (5. Jh. v. Chr.). Dieser beschrieb die Erde als frei schwebende, von Luft getragene Scheibe. Die Gewässer auf der Erde (so z.B. das Meer) speisen sich aus dem Wasser in der Erde und aus den ins Meer strömenden Flüssen, die neben dem Grundwasser auch Regenwasser mit sich führen (vgl. Kirk / Raven / Schofield, 416f.).
2. Das Urmeer in der Bibel
Das Hebräische kennt für das Urmeer verschiedene Begriffe, nämlich das seltene Nomen תְּהוֹם təhôm (36 Belege; manchmal parallel zu מַיִם majim „Wasser“ Gen 1,2
Außerbiblisch findet sich תהום təhôm z.B. in der → Qumranliteratur
2.1. Schöpfungstexte
In dem zweigeteilten Weltbild zählt das Urmeer sowohl zu den himmlischen als auch zu den irdischen bzw. unterirdischen Bereichen. Im dreiteiligen Weltbild formiert es (alternativ zur Unterwelt) den dritten, unteren Bereich (Ps 65,6-9
2.2. Kult
Die Urmeermotivik kommt in der Symbolik des Jerusalemer Tempels zum Tragen. 1Kön 7,23-24
In kultischen Texten finden sich einige Anspielungen auf den im Alten Orient beheimateten präkosmischen Meerkampf (→ Chaos
In Ps 18,16-18
Das altorientalisch geprägte Motiv ist demnach für die Jerusalemer Kulttradition charakteristisch (Stolz, 1970, 60-66 mit Liste der Belege; → Zionstheologie
2.3. Fluterzählung und Exoduserzählung
Die → priesterschriftliche
In Ps 66,6
2.4. Apokalyptisches Denken
Das Urmeer spielt nicht nur beim Weltbeginn, sondern auch im Zuge des Nachdenkens über die Endzeit (vgl. dazu die Bahn brechende Publikation von → Hermann Gunkel
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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Abbildungsverzeichnis
- Pharao Ptolemaios IX Soter II (ohne Abb.) bringt ein Lotusopfer für Re-Behedety als Kind gefolgt von den vier frosch- bzw. schlangenköpfigen Urgottpaaren der Achtheit von Heliopolis (Architravdarstellung aus Edfu; 2./1. Jh. v. Chr.). Aus: G. Roeder, Die Kosmogonie von Hermopolis, Egyptian Religion 1 (1933), 1-27, 8
- Die Barke des Sonnengottes bei der Nachtfahrt über das Urmeer, das von der Apophis-Schlange symbolisiert wird (Holzsarg; Theben; 20.-22. Dyn., 1100-900 v. Chr.; BIBEL+ORIENT Datenbank Online
). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz - Der Reichsgott Marduk steht auf einem gehörnten Mischwesen als Postamenttier (Rollsiegel; Babylon; 850-820 v. Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
- Die sog. Babylonische Weltkarte und eine Rekonstruktion; die Welt liegt inmitten der Urwasser (Apsu); der Euphrat entspringt dem Gebirge oben und mündet im Sumpfland unten; ein Rechteck stellt Babylon, Kreise stellen weitere Ortschaften dar (Tontafel, Sippar, 6./5. Jh. v. Chr.). Mit Dank an © The Trustees of the British Museum, BM 92687; Rekonstruktion nach E. Unger, Babylon. Die heilige Stadt nach der Beschreibung der Babylonier, photomech. Nachdr. der Ausg. v. 1931, erweitert um eine Vorbemerkung von R. Borger, Berlin 1970, Tf. 3
- Siegreicher Gott über dem Schlangendrachen, der die Chaosmächte symbolisiert (neuassyrisches Rollsiegel; 900-700 v. Chr.; BIBEL+ORIENT Datenbank Online
). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz - Das eherne Meer (rechts) im Vergleich mit Kultbecken (links), die im Alten Orient den unterirdischen Süßwasserozean symbolisieren. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
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