Deutsche Bibelgesellschaft

Verschuldung

(erstellt: Dezember 2008)

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1. Der Mechanismus von Verschuldungsvorgängen

Von Verschuldung im ökonomischen Sinn spricht man dann, wenn ein Wirtschaftssubjekt bei einem anderen etwas geliehen hat und verpflichtet ist, es diesem zurückzugeben. Am Anfang steht also das Ausleihen bzw. der Kredit (→ Leihrecht). Wie kommt es dazu?

1.1. Anlässe zur Verschuldung

Auslöser für die Aufnahme eines Kredits, der in Naturalien oder in Geld bestehen kann (Dtn 23,20), ist ein Mangel, dem durch den Kredit abgeholfen werden soll. Dieser auslösende Mangel kann durch eine Notlage herbeigeführt worden sein. Deren Ursachen wiederum sind überaus vielfältig. Sie können in individuellen Schicksalsschlägen liegen wie Todesfällen, Verletzungen oder Erkrankungen, die die betroffene Person arbeitsunfähig oder nur beschränkt arbeitsfähig machen und damit die Arbeitskraft einer → Familie (eines „Hauses“) als der Grundeinheit antiken Wirtschaftens beeinträchtigen. Ursache können auch kollektive Notlagen wie → Dürren, → Erdbeben, Schädlingsbefall (→ Heuschrecken) oder Kriegsverwüstungen (→ Krieg) sein. Diese treffen zwar unterschiedslos wirtschaftlich Schwache und Starke, doch haben die Starken durch ein größeres Potenzial an Arbeitskräften, größeren Grundbesitz und diversifizierte Produktion bessere Chancen, einen Teil ihrer wirtschaftlichen Ressourcen zu erhalten, sodass sie den Schwachen in solchen Notlagen Kredit geben können.

Der Mangel, der zu einer Kreditaufnahme führt, kann aber auch darin bestehen, dass ein Unternehmen gestartet werden soll und dazu eine bestimmte Ausstattung benötigt wird. In der Moderne ist das der übliche Kapitalbedarf beim Beginn einer wirtschaftlichen Unternehmung. In der Antike spielt die Ausrüstung von → Karawanen oder See-Expeditionen eine große Rolle. Diese müssen zunächst mit heimischen Waren ausgestattet werden, um diese in der Fremde verkaufen und fremde Waren dafür einkaufen zu können. Kann man im erstgenannten Fall von einem Notkredit sprechen, so liegt hier ein Handelskredit vor. Beide Kreditformen führen zur Verschuldung, die aber offenkundig jeweils einen unterschiedlichen Hintergrund hat.

1.2. Begleitumstände von Verschuldungsvorgängen

Mit Verschuldungsvorgängen hängen zwei Begleitumstände eng zusammen. Der eine resultiert daraus, dass der Gläubiger eine Sicherheit für sein verliehenes Darlehen haben will. Er kann dafür entweder direkt bei der Kreditvergabe eine Sicherheit (in Gestalt von Sachen oder Personen) nehmen und solange behalten, bis der Kredit abbezahlt ist. In der Regel beschränkt sich der Kreditgeber aber auf einen Anspruch, der erst dann eingelöst wird, wenn der Kredit tatsächlich nicht zurückgezahlt wird. In beiden Fällen spricht man von Pfandnahme. Eine Sonderform der Sicherheitsgewährung für den Gläubiger ist die Bürgschaft. Der Bürge erklärt sich bereit, im Fall der Fälle für den Schuldner einzutreten, also für ihn den Kredit zurückzuzahlen oder auch sich für ihn pfänden zu lassen.

Zum andern gehört zu Verschuldungsvorgängen die Forderung von Zinsen. Man kann sie so begründen, dass der Gläubiger für die Zeit der Kreditvergabe einen Eigentumsverzicht leistet und dafür eine Prämie haben will. Man kann sie auch damit begründen, dass der Kreditgeber von dem, was der Schuldner mit seinem Geld oder seinen Naturalien (etwa Saatgut) erwirtschaftet hat, einen Anteil haben will. Auf jeden Fall verlangt er mehr zurück, als er gegeben hat.

Kommt es dazu, dass der Schuldner den Kredit (samt Zinsen) nicht zurückzahlen kann, eröffnen sich viele Möglichkeiten. Der Gläubiger kann den Kredit verlängern; erst wenn etwa durch den Tod des Familienvaters die Zurückzahlung grundsätzlich gefährdet ist, schreitet er zur Vollstreckung (so der Fall in 2Kön 4,1-7). Der Gläubiger kann aber auch gleich vollstrecken, indem er die Sicherheiten, die der Schuldner geben musste, einzieht. Das geht von beweglichen Sachen über Felder und Häuser bis hin zu Personen aus der Familie des Schuldners (ein Beispiel gibt Neh 5,1-13). Hat jemand für den Schuldner gebürgt, trifft ihn das gleiche Schicksal (vgl. die Warnung vor dem Eingehen von Bürgschaften in Spr 6,1-5). Ist ein Schuldner dauerhaft nicht in der Lage, den Kredit in voller Höhe zurückzuzahlen, und nimmt immer wieder neue Kredite auf, spricht man in der Regel von Überschuldung statt von Verschuldung.

1.3. Der Zweck des antiken Kreditwesens

Triebkraft des modernen Kreditwesens ist die Erzielung von Gewinn aus den Geldgeschäften. Dies ist für die Antike bei Handelskrediten ebenfalls das Ziel der Kreditvergabe. Bei den viel häufigeren Notkrediten ist dies dagegen nicht ohne weiteres zu unterstellen. Aus derartigen Krediten ergeben sich persönliche Abhängigkeitsverhältnisse. Der Schuldner, der immer wieder neue Kredite bekommt, ist nicht nur dazu gezwungen, bis an die Grenze für seinen Gläubiger zu arbeiten, um den Kredit zurückzahlen zu können. Er ist ihm auch zu Loyalität verpflichtet. In einer Welt, in der die gesellschaftlichen Beziehungen nicht so sehr durch Rechtsverhältnisse als durch Prestige und Klientelverhältnisse geprägt sind, hat der Gläubiger gar kein Interesse, den Schuldner durch Rückzahlung des Kredits aus dem Schuldverhältnis zu entlassen. Moses Finley formuliert dazu die These, „daß der Gewinn von Arbeitskraft und Solidaritätsbeziehungen historisch gesehen eine ältere Zwecksetzung der Verschuldung repräsentieren als der Gewinn in Form von Zinsen“ (M.I. Finley, Schuldknechtschaft 1977, 181).

Ein biblisches Beispiel für das Interesse der Gläubiger an der Verschuldung liegt in Am 8,4-7 (→ Amos) vor. Die dort angegriffenen Personen können es kaum abwarten, ihr Getreide zu verleihen, weil sie sich dadurch erhoffen, die Armen und Elenden in ihre Gewalt zu bekommen (Am 8,6). Sie streben nicht die Rückzahlung von Krediten und damit die Entschuldung, sondern die dauernde Verschuldung ihrer Schuldner an, um über sie dauerhaft verfügen zu können (zur Deutung vgl. R. Kessler, Kornhändler 2009).

2. Gegenmaßnahmen der Tora

Verschuldung ist das Kernproblem antiker bäuerlicher Gesellschaften. In Jes 24,2 wird in die Reihe gesellschaftlicher Oppositionen Volk – Priester, Sklave – Herr, Sklavin – Herrin, Käufer – Verkäufer auch die Opposition von Schuldner und Gläubiger aufgenommen. Und die Spruchweisheit hält fest: „Der Reiche herrscht über die Armen, und wer Darlehen nimmt, wird Sklave dessen, der verleiht“ (Spr 22,7). Verschuldung, die sich zur massenhaften Überschuldung auswächst, kann die Grundlagen der Gesellschaft zerstören.

Als in Israel und Juda seit dem 8. Jh. eine Entwicklung sichtbar wird, die in der Tat den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht, werden erstmals Rechtssätze kodifiziert, die unter anderem auch die Funktion haben, dieser Entwicklung entgegen zu steuern. Aus dem → Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), das vom Ende des 8. oder Anfang des 7. Jh.s stammt, sind das → Zinsverbot (Ex 22,24) und eine Einschränkung bei der → Pfandnahme (Ex 22,25f) zu nennen. Sehr viel weiter geht das → Deuteronomium, eine Revision des Bundesbuchs vom Ende des 7. Jh.s. Es versucht, das Problem der Verschuldung bei der Wurzel zu packen. Schon im Alten Orient ist es verbreitet, dass Könige gelegentlich einen allgemeinen Schuldenerlass anordnen, um das Gleichgewicht in ihrem Herrschaftsbereich wieder herzustellen. Aus solchen sporadischen Erlassen machen die deuteronomischen Gesetzgeber nun die Forderung nach einem allgemeinen Schuldenerlass, der regelmäßig alle sieben Jahre im „Erlassjahr“ ausgerufen werden soll (Dtn 15,1-11). Der Gefahr, dass bei herannahendem → Erlassjahr keine Kredite mehr fließen, versucht das Gesetz mit einem dringlichen Appell zum willigen Geben entgegenzuwirken (Dtn 15,7-11). Die Jesus-Bewegung nimmt diesen Gedanken später zustimmend auf („leiht, wo ihr nichts zu erwarten habt“, Lk 6,35). Das Zinsverbot (Dtn 23,20f) und Bestimmungen zur Pfandnahme (Dtn 24,6.10-13) werden im Deuteronomium aufgenommen und präzisiert. Das erst nach dem Untergang des Staates Juda formulierte → Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) nimmt das Zinsverbot auf (Lev 25,35-38), verlängert mit der Einrichtung des → Jobeljahres aber die Beendigung von Schuldverhältnissen auf einen fünfzigjährigen Zeitraum (Lev 25).

3. Verschuldung und Schuld

Verschuldung ist zunächst ein ökonomischer Vorgang. Doch lassen sich auch nicht-ökonomische Beziehungen mit dieser Begrifflichkeit erfassen. Im Griechischen, Lateinischen, Deutschen und den ihnen verwandten Sprachen hat die Gleichsetzung von ökonomischer, moralischer, juristischer wie religiöser Verwendung der Terminologie stattgefunden. Von Schuld (→ Sünde) ist auf allen diesen Gebieten die Rede. Im Hebräischen findet sich diese Gleichsetzung noch nicht. Die Begriffe für „Schuld, Sünde, Vergehen“ meinen nur eine moralische, juristische oder religiöse Schuld, keine finanzielle. Aber mit dem Aramäischen, das die Vokabel chôb / chôba’ verwendet (vgl. Ez 18,7), wird ein Wort benutzt, das „das zurückzuzahlende Darlehen, die moralisch-sittliche Verpflichtung wie die Sünde gegenüber Gott und den Mitmenschen meint“ (F. Crüsemann, Schulden 1992, 92). Damit erhält das Problem der Verschuldung eine Dimension, die zwar über das Ökonomische hinausgeht, dieses aber nicht aus-, sondern vielmehr wesensmäßig mit einschließt. Der Erlass von Schulden und die Vergebung (→ Gnade) von Schuld hängen eng miteinander zusammen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007

2. Weitere Literatur

  • Crüsemann, F., 1992, „… wie wir vergeben unsern Schuldigern“. Schulden und Schuld in der biblischen Tradition, in: M. Crüsemann / W. Schottroff (Hgg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten (KT 121), München, 90-103
  • Crüsemann, M. / Schottroff, W. (Hgg.), 1992, Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten (KT 121), München
  • Finley, M.I., 1977, Die Schuldknechtschaft, in: H.G. Kippenberg (Hg.), Seminar: Die Entstehung der antiken Klassengesellschaft (stw 130), Frankfurt am Main, 173-204
  • Gerstenberger, E.S., 2007, In der Schuldenfalle: Zwangsvollstreckung? Insolvenzregelungen in Lev 25 und ihre theologischen Folgen, in: BiKi 62, 16-21
  • Kessler, R., 2009, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), Stuttgart, 31-45
  • Kessler, R., 2009, Die angeblichen Kornhändler von Amos 8,4-7, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), Stuttgart, 267-275
  • Schäfer-Lichtenberger, C. / Schottroff, L., 2009, Art. Schulden, Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh, 509-515

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