Deutsche Bibelgesellschaft

Vollkommen-Vollkommenheit

(erstellt: März 2015)

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Zur Beschreibung der Vollkommenheit einer Person, eines Tieres, eines Gegenstandes, eines Verhältnisses und schließlich auch einer Tat verwendet das Alte Testament vor allem die Wurzel תמם tmm. Sie bedeutet als Verb „vollständig sein“ bzw. „vollständig / fertig werden“ und dieser Bedeutung entsprechen das von ihm abgeleitete Adjektiv und Substantiv. Als Oppositionspaar wird „defekt“ (מוּם mûm) angesehen (Spr 9,7; Hi 11,15) bzw. „Makel“ (Lev 21,17f; 2Sam 14,25 u.ö.). → Hiob ist laut Selbstaussage vollkommen und fügt explizierend hinzu, dass an seinen Händen kein Makel klebt (Hi 31,6-7).

Der semantische Gebrauch von „vollkommen“ lässt sich in drei Kategorien unterteilen, die sich teilweise bestimmten Literaturbereichen innerhalb des Alten Testaments zuordnen lassen: kultisch (1.), ästhetisch (2.) und ethisch (3.). Eine ähnliche Klassifizierung nimmt James Watts (2014) vor, der die Verwendung des Wortfelds „vollkommen“ im Kontext der Opferbestimmungen von denen mit Blick auf den menschlichen Lebenswandel abgrenzt. Seine Terminologie mit „physical und spiritual perfection“ legt jedoch einen etwas anderen Akzent. Kooy (1962) blendet den kultischen Aspekt aus.

Die Fokussierung auf einen semantischen Begriff vollzieht sich im Folgenden als Beleuchtung von dessen literarischem und pragmatischem Verwendungskontext. Dabei wird das Ineinander unterschiedlicher Begriffsfelder deutlich: Vollkommenheit ist v.a. mit Gerechtigkeit, Heiligkeit und Aufrichtigkeit verbunden. Mit Kult, Ästhetik und Ethik wird hier ein Raster vorgelegt zur Erhellung und Systematisierung der Rede von Vollkommenheit bzw. Integrität in alttestamentlichen Texten.

Die Logik, die die Handlungsfelder von Kult über die Ästhetik bis zur Ethik umgreift, ist, dass dieses Ideal in der Gottesrelation begründet ist und dass die Vorstellung der Ganzheit alle Lebensbereiche einschließt. Ob eine sprachgeschichtliche Entwicklung der Vorstellung der Vervollkommnung feststellbar ist, lässt sich schwer sagen (siehe Schluss), und hängt u.a. von der Frage ab, wie die priesterschriftlichen Texte mit ihrem kultischen Vollkommenheitsideal literaturgeschichtlich einzuordnen sind. Festgehalten werden kann zunächst Folgendes: 1. Es besteht ein Konnex zwischen der Vorstellungswelt des Kultes und der des Ethos (vgl. Ps 15 und 24). 2. Das ästhetische Vollkommenheitsideal eines Textes wie Dan 1 ist von dem kultischen Sprachgebrauch beeinflusst und verbunden mit dem ethischen. 3. In späten weisheitlichen Texten (wie Proverbien und Hiob) wird der Gedanke der ethischen Vollkommenheit breit diskutiert. 4. Die Verfasserkreise des → Leviticus-Buches, die den Begriff „vollkommen“ als Beschreibung der kultischen Zweckmäßigkeit vorfanden, ziehen dann für die Vollkommenheit des Menschen mit → „heilig“ einen anderen Begriff heran, der vorrangig Gottes Ausgegrenztheit beschreibt und von dort her bestimmt ist (vgl. Lev 19,2 u.ö.). Dabei wird analog zum Begriff „vollkommen“ das Ineinander der kultischen und ethischen Vollkommenheit deutlich.

1. Kultische Vollkommenheit

Der häufigste Gebrauch des Adjektivs „vollkommen“ dient der Bezeichnung der einwandfreien körperlichen Beschaffenheit der Opfertiere innerhalb der priesterschriftlichen Literatur (→ Priesterschrift) bzw. des davon beeinflussten Prophetenbuches → Ezechiel. Die kultische Perfektion der Opfertiere wird betont (Ex 12,5; Lev 1,3.10; Lev 3,1.6.9; Lev 4,3.23.28.32; Lev 5,15.18.25; Lev 9,2.3; Lev 14,10; Lev 22,19.21; Lev 23,12.18; Num 6,14; Num 19,2; Num 28,3.9.11.19.31; Num 29,2.8.13.17-20.23.26.32.36; Ez 43,22-23; Ez 46,4). Diese ist in erster Instanz an den körperlichen Eigenschaften ablesbar: alles, was keinen Fehler hat, so die Detailbestimmungen über die Tauglichkeit der Opfertiere in Lev 22,17-25. Die Erklärung des Begriffs in kultischer Hinsicht geschieht ausführlich in Lev 22: Ein blindes Tier, mit einem gebrochenen Glied, ein verstümmeltes, mit Warzen oder Flechte etc. darf nicht geopfert werden. Die körperliche Makellosigkeit wird in Lev 22,24 nochmals mit Blick auf die Hoden, die Verkörperung der Männlichkeit des Tieres unterstrichen, diese dürfen weder gequetscht noch abgerissen sein (Ruane 2014). Entsprechend wird auch von „physischer Vollkommenheit“ gesprochen (Kedar-Klopfenstein 1995). Es geht um die Korrektheit der Opfermaterie, denn nur diese stellt sicher, dass sie das Wohlgefallen Gottes findet (Hieke 2014).

Die Zweckbestimmung im Zusammenhang der Opferbestimmungen („zum Wohlgefallen“ Lev 1,3; vgl. Lev 22,25) unterstreicht, dass es um eine kultbezogene Eigenschaft geht: Nur ein makelloses Tier ist als Brandgabe geeignet (Lev 9,2f; Num 6,14). Die Makellosigkeit des Opfertieres wird dabei zugleich auf den Gabendarbringer bezogen: Die Tiere sind „vollkommen für euch“ (so Num 18,19.31).

Die in Lev 22 genannten Makel sind eine Kurzform der Liste an körperlichen Fehlern von Angehörigen der priesterlichen Familie, die es diesen verwehrt, sich dem Heiligtum zu nähern, um Gott dort Gaben darzubringen (Lev 21,17-20). Innerhalb der Logik der Opferbestimmungen ist der Gedanke der Qualität und Beschaffenheit des Opfers und seines Darbringers stringent: Das Heiligtum Gottes verlangt absolute Vollkommenheit. Die Vollkommenheit des Tieres zur Opfergabe entspricht damit der Würde des Opferempfängers, der Größe und Heiligkeit seines Namens (vgl. Lev 22,31-32).

Auch betonen die Opferbestimmungen das Geschlecht des zu opferenden Tieres: Fast immer soll es ein männliches Tier sein. Ob ein Tier für die Gabe geeignet ist oder nicht, d.h. vollkommen ist, hängt nicht nur an der intakten materiellen Beschaffenheit des Tieres. Dies wird letztlich auch dadurch deutlich, dass alle Tiere, die von Ausländern stammen (unabhängig ihrer physikalischen Beschaffenheit) generell als Opfertiere einen Makel haben, d.h. für dieses nicht gewählt werden sollen (Lev 22,25). Die Perfektion lässt sich nicht auf körperliche Eigenschaften beschränken, sondern ist eine umfassende kultische Kategorie, die aus dem Gottesverhältnis abgeleitet wird und damit strukturell ähnlich funktioniert wie die ethische Kategorie (siehe 3.).

Im Leviticus-Buch wurde als Ausdruck für die kultische Vollkommenheit des Menschen ein anderer Begriff gewählt: heilig – im Sinne von ausgesondert für den Kult (→ heilig). Die Aufforderung an die Nachkommen Israels heilig zu sein (Lev 11,44-45; Lev 20,26 etc.) verbindet dabei kultische und ethische Aspekte (vgl. auch Dtn 7,6; Dtn 14,2). Für das priesterliche Denken bildet sich in der kultischen Heiligkeit die ethische ab und umgekehrt (zum Ineinander der beiden Aspekte vgl. Lev 19; siehe 3.).

2. Ästhetische Vollkommenheit

In Dan 1,4 wird später die kultische Begrifflichkeit für Opfertiere und Angehörige des priesterlichen Geschlechts verwandt, um die körperliche Makellosigkeit der Jünglinge auszudrücken, die an den königlichen chaldäischen Hof gebracht werden sollen (→ Daniel). Ihre Makellosigkeit verbindet sich mit Schönheit, der Begabung für → Weisheit sowie schneller Auffassungsgabe.

Im Alten Testament fallen damit „innere“ und „äußere“ Vollkommenheit zusammen. → David wird → Saul gegenüber nicht nur als ein guter Harfenspieler gepriesen, sondern darüber hinaus als ein tüchtiger Mann, ein Krieger, redegewandt und von gutem Aussehen. Abschließend heißt es, dass Gott mit ihm sei (1Sam 16,18). Letztlich ist es diese Formulierung, die außerhalb der Verfügungsgewalt des Menschen liegt, die die Vollkommenheit besiegelt. Das ästhetische Vollkommenheitsideal ist folglich mit dem ethischen verbunden (3.).

3. Ethische Vollkommenheit

Die Verwendung des Wortfeldes „vollkommen“ (תמם tmm) in ethischer Hinsicht findet sich vor allem in weisheitlichen Texten wie → Proverbien, → Psalmen und → Hiob. „Vollkommen“ avanciert hier zu einem anthropologischen Grundbegriff. In narrativen Zusammenhängen (→ Genesis und Hiob) dient er der Charakterisierung von männlichen Protagonisten.

3.1. Menschen und ihr vollkommener Lebenswandel

Die beiden Psalmen, Ps 15 und Ps 24, deren Fokus auf dem aufrechten Lebenswandel liegt, verbinden die kultische Vorstellungswelt (siehe 1.) mit der ethischen. Die kultische Frage, wer sich der heiligen Stätte nähern darf, wird ethisch beantwortet. Zutritt zum Heiligtum, d.h. der Gottesnähe, mag der Mensch genießen, der aufrichtig (vollkommen) lebt und gerecht handelt und der im Herzen verlässlich redet (Ps 15,2; Ps 24,4f). → Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit gehören damit zum Wortfeld von „vollkommen“. Die Begriffe stehen parallel zur Charakterisierung von Hiob (Hi 1,1.8; Hi 2,3; vgl. Ps 25,21 u.ö.).

In Ps 7 bittet der bedrängte Beter, dass Gott ihm Recht schaffen soll entsprechend seiner Gerechtigkeit und Integrität (Ps 7,9). Integrität des inneren Ichs und die von der sozialen Umwelt anerkannte Ehre des Ichs sind in diesem Psalm Grundbestimmungen des Menschseins (Janowski 2013).

In Spr 20,7 heißt es: Der Gerechte geht seinen Weg aufrecht. Der Lebensweg wird zum bildlichen Inbegriff für das Ethos bzw. die Reflexion über den Lebenswandel, die → Ethik (Zehnder 1999). Integrität des Lebenswandels kennzeichnet den Gerechten. Hiob sagt über sich selbst „ein Gespött der Gerechte, der Untadelige“ (Hi 12,4). Fromm und gerecht sind hier asyndetisch miteinander verbunden. Der Vollkommene oder Gerechte wird in einem dualistischen Modell in den Proverbien bzw. den späten Weisheitspsalmen dem Frevler gegenübergestellt. Die weisheitlichen Sentenzen kennen dabei keine graduellen Abstufungen.

Der aufrechte Lebenswandel vor Gott wird mittels der Wendung „mit der Vollständigkeit des Herzens“ ausgedrückt (Gen 20,6; 1Kön 9,4; Ps 101,2). Das → Herz, in der hebräischen Anthropologie Zentrum des Willens und des Denkens, wird damit als vollkommen charakterisiert. Die Entscheidungen im Herzen führen wiederum zu konkreten Taten. Alttestamentliche Ethik gründet sich daher in der Anthropologie (Otto 2014).

3.2. Tugendethik und Imitatio Dei

Um seine Vollkommenheit zu demonstrieren, zählt Hiob in seiner Rede in Hi 31 auf, was er alles nicht getan hat. Via negationis enthält das Kapitel damit einen Katalog an guten ethischen Taten (Oeming 1994). Die Liste vereinigt rechtliche, kultische und weisheitliche Aspekte, wobei bereits die Gesinnung beurteilt wird (Otto 1994). Im Hintergrund steht der → Tun-Ergehen-Zusammenhang (s.u.). Auf der Ebene des Hiobbuches dient die ausführliche Beteuerung seiner Integrität der Charakterisierung der Individualität Hiobs.

Diese Vorstellung der Vollkommenheit des menschlichen Wandels wird im Heiligkeitsgesetz als eine (Tugend-)Ethik entfaltet, die sich als Nachahmung Gottes (Imitatio Dei) versteht. → Leviticus fordert wiederholte Male die Nachkommen Israels auf „heilig zu sein“ (Lev 11,44-45; Lev 19,2; Lev 20,7.26; siehe unter 1.). Nach dem → Heiligkeitsgesetz – benannt nach eben dieser Forderung, heilig zu sein (Lev 19,2; Lev 20,8; Lev 22,31-33) – hat sich die Heiligung durch Gott im Exodus vollzogen und bildet so die Voraussetzung für das freie Handeln der Nachkommen Israels (Otto 1994).

In der einleitenden Formulierung des zentralen Kapitels des Leviticusbuches heißt es: „Ihr seid heilig, denn heilig bin ich“ (Lev 19,2). Der Aufruf zur Heiligkeit bildet die Überschrift und Zusammenfassung der dann folgenden kultischen wie sozial-ethischen und „technischen“ Bestimmungen in Lev 19 (Erbele-Küster / Tönges 2009). Entsprechend bringt es die rabbinische Auslegung zur Stelle zum Ausdruck: „Wenn Gott sagt ‚seid heilig’ ist die Heiligkeit aller Gesetze gemeint“ (Sifra Qedoschim 10,2).

Lev 20,7f und Lev 22,16 versteht die Heiligung als Handlung Gottes: Er ist es, der die Nachkommen Israels heiligt. Damit wird alles menschliche Handeln an Gottes Sein und Handeln rückgebunden. Die Imitatio Dei heißt dabei jedoch nur bedingt Nachahmung des Handeln Gottes, denn die Gebote in Lev 19 wie die Anweisung zum rechten Opfer, das Elterngebot etc. exemplifizieren, wie Milgrom (2000) betont, nicht das Handeln Gottes. Die Heiligkeit, zu der in Leviticus aufgerufen wird, bildet sich für ihn eher darin ab, dass sich das Volk Israel durch das Handeln absondern soll von den Völkern um sie herum, Gott entsprechend, der abgesondert vom Volk (vgl. Lev 20,26; Lev 19,37) ist. Im Verbot, den Fremden zu unterdrücken (Lev 19,33-34), wird allerdings implizit auf das Handeln Gottes an den Nachkommen Israels angespielt.

Der Gottesbezug der Vollkommenheit kommt auch in der Aufforderung an → Abraham zur Integrität in Gen 17 zum Ausdruck: „Ich bin El Schaddai. Lebe vor meinem Angesicht und sei vollkommen!“ (Gen 17,1). Die Ermahnung in Dtn 18,13 ruft in einer Verbotsreihe zum vollkommenen Sein mit Gott auf. Die Vollkommenheit des Menschen bildet die Vollkommenheit Gottes ab. Anders formuliert: Der vollkommene Wandel des Menschen vollzieht sich vor Gott, in dessen Angesicht.

Moralische Normen wie Integrität sind daher nicht mittels einer Gehorsamsethik begründet. Walter Eichrodt (1935), Eryl Davies (1999), Bruce Birch (1988), John Barton (2014) u.a. sehen in der Nachahmung Gottes (Imitatio Dei) dann auch ein leitendes Prinzip einer Ethik des Alten Testaments (kritisch C.H. Rodd 2001). Doch die Frage ist dabei, ob sich Ethik (nur) im rechten Verhalten Gottes gründet bzw. (nur) dieses nachahmt. Es geht allgemeiner gesprochen um das rechte Gottesverhältnis.

Entsprechend bezeichnet der Begriff „vollkommen“ dort, wo er mit Blick auf eine Person wie Noah, David oder Hiob, verwendet wird, nicht nur eine konkrete Charaktereigenschaft, sondern eine allgemeine Haltung des Menschen, die in der Gottesbeziehung gegründet ist. Diese wird auch näherhin als Gottesfurcht beschrieben (Hi 2,3; vgl. Jos 24,14).

In der Auslegungsgeschichte führte die Aufforderung zur Vollkommenheit zur Diskussion, ob dem Menschen angesichts seiner Sündhaftigkeit ein vollkommenes Leben überhaupt möglich sei. Doch selbst der untadelige und vollkommene Hiob weiß um seine schuldhaften Taten (Hi 13,26; vgl. Kooy 1962). Ist die Aufforderung Gottes an Abraham in Gen 17, dass er vollkommen sein soll, dann nicht gerade auf dem Hintergrund seiner konkreten auch fehlerhaften Handlungen (Gen 12,10-20; Gen 16) und seines fehlenden Gottvertrauens zu verstehen? Biblische Erzählungen liefern also weder einen Tugendkatalog noch eine direkte Exemplifizierung der Vollkommenheit, vielmehr sind in der → Narrativität der (männlichen) Charaktere die Verwicklungen und Normenkonflikte entfaltet (→ Ethik).

Tugenden werden gemeinhin als positive Haltungen eines Menschen angesehen, die sein Handeln bestimmen. Alttestamentlich gedacht, bildet sich die Haltung im Herzen, dem Zentrum der Entscheidungen, ab. Es ließe sich damit von einer Gesinnungsethik sprechen, wobei für den Menschen im Alten Testament Gesinnung und Tat zusammengehören. Was im Denken vorgeht („Herz“ im biblischen Hebräisch), ist entscheidend, ähnlich wie in der modernen Tugendethik (so Barton 2014). Das Bild des tugendhaften Lebensweges, das ethische Handeln und die Gesinnung im Herzen sind in Ps 15,2 miteinander verbunden. Laut 1Kön 9,4 ist das Zentrum der moralischen Urteilsfähigkeit, das Herz, vollkommen, d.h. tugendhaft und entsprechend auch die Taten, die dort im Herzen geboren werden. Diese implizite alttestamentliche Tugend-Ethik in der narrativen Literatur bindet daher die verstandesmäßigen betrachtenden und die praktischen Tugenden zusammen.

3.3. Tun-Ergehen-Zusammenhang

Entscheidend für das Konzept der Ethik der Vollkommenheit ist der intakte → Tun-Ergehen-Zusammenhang, wie Klaus Koch (1975) und andere betont haben. Die Taten des Menschen bestimmen dessen Schicksal und Sein. Hier ist auch das Wortfeld שׁלם šlm „vollständig sein / ganz sein“ heranzuziehen (→ Friede), das unter anderem zum Ausdruck bringt, dass jede Tat eine Auswirkung hat – auch auf den Täter.

Das „Ich“ in Ps 101,2 formuliert seinen Wunsch unter doppelter Verwendung des Stammes „vollkommen“ so: „Ich will mich halten an den Weg der Vollkommenheit. Wann kommst du (Gott) zu mir? Ich lebe in der Vollkommenheit meines Herzen im Innern meines Hauses.“ Übersetzungen neigen dazu, dies nicht sichtbar zu machen, indem sie es als „mit reinem Herzen“ wiedergeben. Das „Ich“ wünscht sich Anerkennung Gottes für seinen Lebenswandel. Eine solche Bitte rahmt auch Ps 26,1.11: Gott soll Recht schaffen, denn der Lebenswandel ist tadellos. Die Psalmen klagen vor Gott den Tun-Ergehen-Zusammenhang ein.

In den → Sprüchen wird die Gültigkeit des Zusammenhangs konstatiert. Dort wird als handelndes Subjekt auch die Gerechtigkeit genannt. Sie schützt den Lebensweg des Integeren (Spr 13,6). Die Integrität eines Menschen trägt der nachfolgenden Generation Frucht ein: Diese werden glücklich gepriesen (Spr 20,7). Dieses Sprichwort bringt die schicksaalwirkende Tatsphäre zum Ausdruck – ohne, dass auf eine dritte (göttliche) Instanz referiert wird. Die Auswirkungen von vollkommenen Taten bringen Vollkommenheit ein.

Hinterfragt wird der Zusammenhang von Tat und Ergehen im → Hiobbuch: Hiob wird von Gott gegenüber dem → Satan folgendermaßen charakterisiert. Auf Erden sei keiner wie Hiob: Er ist schuldlos und aufrecht, er fürchtet Gott und meidet das Böse (Hi 2,3). Er handelt gut und es ergeht ihm gut (Hi 1,1-5). Diese Gleichung geht nach dem Verlust seiner Rinder, dem Tod seiner Söhne und Töchter nicht mehr auf und Hiobs Frau hält ihm seinen integeren Lebenswandel anklagend vor: „Willst Du immer noch festhalten an deiner Vollkommenheit?“ (Hi 2,9). Damit benennt sie die Krise des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Doch Hiob hält auch angesichts der Erfahrungen des Bösen und Schlechten in der Trauer an Gott und damit am Glauben an das Gute fest (Hi 2,10). In seiner abschließenden Rede in Hi 31 bekräftigt Hiob nochmals seinen Glauben an den Zusammenhang von Tat und Ergehen: Wenn er tatenlos den Notleidenden sehen würde, dann solle seine Schulter vom Nacken fallen (Hi 31,19-22). Die gute Tat macht den Zustand vollkommen.

3.4. Vollkommenheit und Tora

Der vollkommene Lebenswandel und die → Tora können wie in Ps 119,1 parallel stehen: „Wohl denen, deren Weg vollkommen ist, die in der Weisung (Tora) JHWHs wandeln.” Die Tora, die Weisung Gottes, ist dabei als Raum gedacht, den man betreten kann und in dem es sich leben lässt. Die innere Haltung einer Person ist für Ps 119 im äußeren Raum, der Tora, begründet. Es geht also – auch im Bezug auf die Unterweisung nicht um ein juridisches Urteil, sondern um ein lebenspraktisches. Das Gesetz ist vollkommen und stellt darin eine Erbauung für den inneren Menschen dar (Ps 19,8). Anders ausgedrückt: In der Heiligkeit und Vollkommenheit des menschlichen Seins, Handelns und Herzens, wie Num 15,39-40 es ausdrückt, spiegelt sich die Vollkommenheit der Tora, d.h. der Gesetze.

Im Anschluss an diese und andere Stellen, die von der Vollkommenheit der Werke Gottes sprechen (Dtn 32,4), wird von einer Theologisierung der Vorstellung der Vollkommenheit gesprochen. Die Forderung werde immer mehr zum allgemeinen Sittengesetz, dessen Urheber Gott selbst sei (Kedar-Klopfenstein 1995). Ob dies allerdings eine gradlinige chronologische Entwicklung ist, lässt sich nicht so einfach sagen. Zumal sich auch im kultischen Gebrauch des Wortfeldes „vollkommen“ der Gottesbezug und die ethische Dimension abbildet. Doch die Betonung des Gottesbezugs macht deutlich, dass es um ein theologisches Konzept geht: Mit der Bestimmung der Tora als „vollkommen“ wird unterstrichen, dass die menschliche Vollkommenheit in der Vollkommenheit Gottes bzw. der von Gott gegebenen Tora gegründet ist. Ob davon ein allumfassender Begriff der Vollkommenheit ähnlich wie der der Schönheit abgleitet werden kann, der beinhaltet, dass die Vollkommenheit (der Welt) eine gottgebene Qualität ist, an der die Menschen Anteil haben, bleibt offen. Daher nochmals mit dem für die alttestamentliche Ethik zentralen Konzept des Tun-Ergehen-Zusammenhangs formuliert: Wer das Gebot achtet, dem wird sein Tun vollkommen gemacht werden (Spr 13,13).

3.5. Vollkommenheit als Bestimmung des Individuums

Die Integrität des Menschen bildet sich im Gottesverhältnis und im Inneren des Menschen ab. Sie richtet sich an der Vollkommenheit der Tora als den Weisungen Gottes, die der Person Lebendigkeit zurückbringt, aus (Ps 19,8). Fremdbestimmung des Menschen durch die Weisungen Gottes und Selbstbestimmung sind dabei aufeinander bezogen (Ps 19,8-9). Die in der gegenwärtigen Diskussion eingebrachte dualistische Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie, wobei v.a. Letztere als konstitutiv für eine alttestamentliche Anthropologie gedacht wird (di Vito 2009), kann von diesen und anderen Stellen hinterfragt werden. Der Gedanke der Vollkommenheit ist dabei korreliert mit einem weiteren zentralen anthropologischen: dem → Herzen als Sitz der Willensentscheidungen. Das Ich versucht in kognitiven Suchbewegungen den Gedanken der Vollkommenheit zu erfassen, um dann in dieser Integrität des Herzens zu leben (Ps 101,2). Das darin zum Ausdruck kommende Menschenbild scheint im Innern des Menschen die Individualität und Integrität des Menschen abzubilden, die in Taten der Gerechtigkeit nach außen tritt.

Literaturverzeichnis

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