Weisheit (Personifikation) (AT)
(erstellt: Juli 2007)
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1. Verwendung und Herkunft der Personifikation
1.1. Weisheit als weibliche Gestalt
Der Begriff chākhām „weise“ bezeichnet im Alten Testament überwiegend Personen, die guten Rat geben können (Spr 16,21
1.1.1. Sprüchebuch
In den neun Eingangskapiteln des Sprüchebuches, die in nachexilischer Zeit entstanden sind und die älteren Spruchsammlungen interpretieren, stellt sich Frau Weisheit mit zwei Reden vor (Spr 1,20-33
In Spr 8,22-31
Die Weisheit vermittelt nach Spr 1,7
1.1.2. Hiobbuch
Das → Hiobbuch
1.1.3. Sirachbuch und Parallelen
Der nachexilische Ps 19
Vollendet wird die Verbindung von Weisheit und Tora im Buch des Schriftgelehrten → Jesus ben Sira
1.1.4. Weisheit Salomos
Die ursprünglich anonyme, später als „→ Weisheit Salomos
1.1.5. Frühjudentum und Neues Testament
Vergleichbar der Weisheit Salomos entwickelt der jüdische Philosoph Philo von Alexandria (20/13 v. Chr. - 45 n. Chr.; → Philo von Alexandria
Das zwischen 63 v. Chr. und 70 n. Chr. entstandene vierte Makkabäerbuch (→ Makkabäerbücher
In jüdisch-apokalyptischen Schriften wird die Weisheit mit der Gerechtigkeit identifiziert und zur Heilsgabe an die Gerechten (äthHen 5,8; äthHen 91,10; syrBar 54,13; 4Esra 8,52). Gott als Herr der Weisheit (äthHen 63,2-3) hat das All geschaffen und dem Menschen die Gebote gegeben; Gott gewährt dem Apokalyptiker Einblick in die Ordnung des Kosmos und den Gang der Geschichte, sodass dieser für die Eingeweihten zum Brunnen der Weisheit wird (äthHen 99,10; 4Esra 12,36-42; slawHen 48,7.9). Nach äthHen 48,7 offenbart die personifizierte Weisheit den Menschensohn als Heiligen und Gerechten, der wie sie selbst präexistent ist (→ Henochbuch
Schriften aus Qumran (→ Qumran
In den synoptischen Evangelien können Johannes der Täufer und Jesus Kinder der Weisheit genannt werden (Lk 7,31-35
Paulus thematisiert das Kreuz Christi als Weisheit Gottes, die im Gegensatz zur Weisheit der Welt steht (1Kor 1,18-31
An die Stelle des Begriffs σoφία tritt jedoch im Prolog des Johannesevangeliums der maskuline Begriff des λόγος, des göttlichen Wortes. Ein später Ausläufer der Tradition der nährenden Weisheit ist die Darstellung Jesu im Johannesevangelium als Weisheit, Wasser und Brot des Lebens (Joh 4,10-15
Die rabbinische Tradition führt die in Esr 7,25
1.2. Der altorientalische Hintergrund der weiblichen Weisheit
Als Mittlerin zwischen Gott und den Menschen verkörpert die Weisheitsgestalt Eigenschaften altorientalischer Göttinnen. Da „Frau Weisheit“ im Alten Testament keine göttlichen Züge trägt, ist hier von einer Transformation mythischer Vorstellungen zu sprechen.
1.2.1. Lebensbaum und Baumgöttin
Im Lob der Weisheit als Lebensbaum (Spr 3,13-18
1.2.2. Ma’at als ägyptisches Vorbild der Weisheit
Nach Spr 8
Die auf → Gerechtigkeit
Während die Ma’at aber die soziale und kosmische Ordnung repräsentiert, kennt Frau Weisheit diese Ordnung nur, ohne mit ihr identisch zu sein. Frau Weisheit ist keine Göttin, hat aber göttliche Autorität. Sie stellt sich in Spr 8
1.2.3. Weisheit als göttliche Gestalt in den Sprüchen des Achiqar
Das aramäisch überlieferte Weisheitsbuch des in der Antike bekannten Weisen → Achiqar
1.2.4. Die vielgestaltige Isis als Vorbild der Weisheit
Die Ich-Reden von Frau Weisheit in Spr 1
1.2.5. Sophia und Philosophie in hellenistischer Zeit
Analog dem hebräischen Begriff bezeichnet σoφία (sophia) in der griechischen Frühzeit jede praktische Fertigkeit und Sachkunde. Während in der klassischen Periode Weisheit vor allem als theoretisch-intellektuelles Wissen erscheint, verbinden die griechischen Philosophen der hellenistischen und spätantiken Zeit wieder praktische und theoretische Elemente im Begriff der Weisheit.
Während die Sophisten die Lehrbarkeit der Weisheit, die auf die Bewältigung des praktischen Lebens zielt, vertreten, definieren Sokrates und Platon die Weisheit als das Sein sowie die Idee des Guten und Schönen, die allein Gott zugänglich ist (Platon, Symposion 204a; Text gr. und lat. Autoren
Demgegenüber setzt Aristoteles Weisheit (σoφία) und Philosophie gleich und stellt die Weisheit als rein theoretische Tugend der praktischen Klugheit gegenüber. Die Weisheit ist das allein dem Philosophen zugängliche höchste Wissen um den Anfang der Dinge und dem Zusammenhang des Kosmos (Aristoteles, Metaphysik I 2 982a 13-17).
Bedingt durch die Umbrüche in hellenistischer Zeit entwickeln die Philosophen der Stoa ein Ideal des Weisen, das theoretische Einsicht in den Kosmos mit einer ethischen Grundhaltung verbindet. Die Weisheit als Wissen um die göttlich gefügte Welt begründet eine praktische Vernunft, die lehrbar ist und zur Glückseligkeit führt.
Die Schriften Sirachbuch und Weisheit Salomos sind in ihrer Darstellung der Weisheit vor allem von der stoischen Tradition beeinflusst. Sie übernehmen die stoische Auffassung von einem rational gestalteten Kosmos, aber auch die enge Verbindung von Weisheit und Philosophie. Gleichzeitig halten Sirach und Weisheit Salomos jedoch am jüdischen Gesetz als konkretem Ausdruck des ethisch gebotenen Lebens fest.
2. Funktion und Rezeption der weiblichen Personifikation
2.1. Die Funktion der Personifikation
Die Personifikation der Weisheit als weiblicher Gestalt basiert zum einen auf der dargestellten Transformation weiblicher Gottesbilder, zum anderen auf der Analogie ihrer Rollen mit Frauenrollen in Israel: Sie ist gute Ratgeberin, nährende Mutter, Erbauerin des Hauses, und begehrenswerte Braut (Schroer, 1992, 63-79). Vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Sozialstruktur und der Bedeutung der Frau für die Organisation des Haushalts und der Großfamilie erscheint die Metapher stimmig – die personifizierte Weisheit ist das Ideal umsichtiger Lebensführung. Darüber hinaus verkörpert „Frau Weisheit“ als Schöpfungsmittlerin, Weltordnungsexpertin und thronende Herrscherin über den Kosmos die den Menschen zugewandte Seite Gottes (Baumann, 1996). Sie vervollständigt so das sonst überwiegend mit männlichen Metaphern umschriebene Gottesbild der Bibel.
Durch die Identifikation von Weisheit und Tora in Sir 24
2.2. Die Rezeption der weiblichen Weisheit
2.2.1. In der christlichen Ikonographie
Auf Titel- und Initialbildern zu den Schriften Sirach und Weisheit Salomos wird die göttliche Weisheit meist als reichgekleidete Frau dargestellt, oft mit Krone und Nimbus. Der Typus der auf einem siebensäuligen Gebäude dargestellten Weisheit mit Weltkugel, Buch oder Spruchband und Lilienzepter geht auf die Beschreibung des christlichen römischen Dichters Aurelius Prudentius Clemens (348-ca. 413 n. Chr.) in seinem Werk Psychomachia (Der Kampf der Seele, PL 60,11-90), und auf Darstellungen in Handschriften des Prudentius zurück. Die sieben Säulen verweisen auf das nach Spr 9,1
2.2.2. In der feministischen Theologie
In feministisch-theologischen Entwürfen spielt die weibliche Weisheit eine bedeutende Rolle, da sie gemäß Spr 8
Diese positive Rezeption der Weisheitsgestalt ist jedoch nur möglich, wenn die Gestalt losgelöst vom jeweiligen Kontext betrachtet wird. Im Sprüchebuch hat die Weisheit als Gegenspielerin die Torheit (→ Tor / Torheit
Die Tatsache, dass Weisheit und Erkenntnis im Alten Testament oft synonym verwendet werden, wird von feministischen Theologinnen zu Recht aufgegriffen, um der seit der griechischen Antike tradierten Dichotomie von männlichem Geist und weiblichem Körper kritisch zu begegnen (Wodtke, 1991, 169-171). Die Weisheit als weiblicher Aspekt des Gottesbildes und als weibliche Lebensklugheit widerspricht also einer vermeintlichen Geschlechterhierarchie im Gottesbild und Menschenbild.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
- Der Kleine Pauly, Stuttgart 1964-1975 (Taschenbuchausgabe, München 1979)
- Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976
- Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff.
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1992
- Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
- Dictionary of Judaism in the Biblical Period. 450 B.C.E. to 600 C.E., New York 1996
- New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Dictionary of Deities and Demons in the Bible, 2. Aufl., Leiden 1999
- Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006
2. Weitere Literatur
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- Camp, C. V., 1985, Wisdom and the Feminine in the Book of Proverbs, Sheffield
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- Maier, C., 2003, Voll weiblichen Geistes. Die Weisheit (Chokmah / Sophia) als Mittlerin der Schrift, in: Welt und Umwelt der Bibel 28, 31-33
- Maier, C. / Herzer, J., 2001, Die spielenden Kinder der Weisheit (Lk 7,31-35 par. Mt 11,16-19). Beobachtungen zu einem Gleichnis Jesu und seiner Rezeption, in: C. Maier / R. Liwak / K.-P. Jörns (Hgg.), Exegese vor Ort (FS P. Welten), Leipzig, 277-300
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- Strack, H. L. / Billerbeck, P., 3. Aufl. 1961, Kommentar zum Neuen Testament. Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte erläutert aus Talmud und Midrasch, München
- Schüssler Fiorenza, E., 1997, Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh
- Wodtke, V. (Hg.), 1991, Auf den Spuren der Weisheit. Sophia – Wegweiserin für ein weibliches Gottesbild, Freiburg
Abbildungsverzeichnis
- Die Göttin Ma’at mit ihrem Symbol, der Schreiberfeder (Relief aus dem Grab Sethos’ I.; 19. Dynastie, um 1300 v. Chr.). Aus: Keel 1974, Abb. 20; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
- Der König bringt dem Gott Amun die Ma’at dar (Relief aus Karnak; um 1180 v. Chr.). Aus: Keel 1974, Abb. 30; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
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