Welterfahrung (AT)
(erstellt: November 2017)
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1. Definition
Welterfahrung bezeichnet den dauernden Umgang und die daraus resultierende Vertrautheit mit dem Ganzen der eigenen Lebenswelt als dem „fraglos hingenommenen Sinn- und Geltungsfundament menschlicher Praxis“ (Eden 2004, 328). Dadurch enthält der Begriff eine anthropologische Komponente, ist Ausdruck einer erfahrungsgesättigten „Weltinnenperspektive“ (Steck 1978, 100 und passim) und unterscheidet sich sowohl von dem Begriff → Weltbild
Indem Welterfahrung auf die Erfahrung eines Ganzen, der „Welt“, abhebt, wird im Anschluss an Husserl bei der Erfahrung eines einzelnen Gegebenen stets sein Mitgegebenes und Mitgemeintes, der umfassende Horizont der verknüpften Wahrnehmungen in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht einbezogen (vgl. Vetter 2004, 611). Erfahren wird zunächst die unmittelbare Lebenswelt als „Welt der schlichten intersubjektiven Erfahrungen“ und „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“ (Husserl 1954, 136.183), sodass Welterfahrung im Anschluss an Heidegger nicht nur die räumliche Erfahrung des „In-der-Welt-seins“ bezeichnet, sondern die alltägliche und bedeutsame Vertrautheit mit der Welt (vgl. Vetter 2004, 612).
Welterfahrung scheint vor allem dem Menschen zuzukommen, weshalb Heidegger die „Welthabe“ von der Weltlosigkeit des Steins und der Weltarmut des Tieres unterscheidet (Heidegger 1983, 261-264). Max Scheler spricht von der Weltoffenheit des instinktarmen Menschen (Scheler 18. Aufl. 2010, 28f). Gemeint ist mit diesen Aussagen, dass Dinge zwar in der Welt vorfindlich sind und Tiere sich sogar in ihr orientieren, aber dass allein der Mensch die mannigfaltigen Erfahrungen und Beziehungen, in denen er steht, vereinen und so seine Stellung gegenüber der Gesamtheit der Wirklichkeit bedenken kann. Wenn es in der Terminologie Heideggers die Welt selbst ist, die „weltet“, so kann dies auch als anthropologische Disposition gewertet werden (vgl. Pina-Cabral 2014, 150): Der Mensch kann sich auf das Ganze der Erfahrungswirklichkeit beziehen, und zwar auf eine Weise, dass die verschiedenen Erfahrungen und Beziehungen gemeinsam verknüpft, raumzeitlich als Einheit und somit als „Welten“ der Welt erfahren werden können. Dabei kann Welterfahrung auch eine Form genuin religiöser Erfahrung sein, wenn Religion als Art und Weise des Welt-Verhältnisses verstanden wird.
„Erfahrung ist erinnerte Praxis“ (Herms 1982, 89); sie bezeichnet „in einem weiten, lebensweltlich geprägten Sinn [...] seit Aristoteles (metaph. 980b28-982a3) eine Art der Wirklichkeitserkenntnis, die auf praktischem Umgang beruht und an paradigmatische Einzelfälle gebunden ist“ (Willaschek 1999). Diese lebensweltlich gebundene Erfahrung ruht auf einem „Vorverständnis, dem es auf erworbene Fähigkeiten des Menschen, auf ein Geübtsein in ..., ein Vertrautsein mit ... ankommt“ (Kambartel 1972, 609). Als Ermöglichung der Orientierung in der Welt (mental map) bezeichnet Welterfahrung „eine Art ‚inneres Modell‘, das den einzelnen und die Gemeinschaft instand setzt, seine Umwelt wahrzunehmen, zu deuten und zu bewerten“ (Janowski 2001, 20; vgl. Pongratz-Leisten 2001, 261f). Sie umfasst deshalb auch das umgängliche und auf Handlungsmöglichkeiten ausgerichtete „Sich-Zurechtfinden“, das auf den gelingenden Plausibilitäten des konkreten Lebensvollzugs aufbaut und sich an das hält, was weiterhilft (vgl. Stegmaier 2004, 498). Indem Welterfahrung oftmals nicht explizit reflektiert wird und „sich auf die alltägliche, vortheoretische Erfahrung natürlicher wie geschichtlicher Phänomene“ bezieht (Stock 2003, 536; vgl. Luck 1976, 15), kann sie gegenüber dem Begriff Weltbild auch als „implizite Kosmologie“ bezeichnet werden (zum Begriff Hartenstein 1997, 18-23).
2. Terminologie
Die Hebräische Bibel kennt keinen abstrakten Terminus für die Welt und entsprechend auch keinen Terminus für Welterfahrung. Das Ganze der Wirklichkeit wird zumeist entweder mit einem Merismus wie „Himmel und Erde“ (z.B. Gen 1,1
Auch für den Begriff der Erfahrung gibt es in der Hebräischen Bibel kein terminologisches Äquivalent, doch Verbalausdrücke mit בין bîn „wahrnehmen“, ידע jādaʻ „erkennen“ oder ראה rāʼāh „sehen“ umschließen auch den Akt der menschlichen Erfahrung.
Der Aspekt der Welterfahrung als eine Form der Weltorientierung kann im Alten Testament mit dem Begriff → Tora
3. Leiblich-sinnliche und raum-zeitliche Welterfahrung
Während der Mensch unter anderem Leib ist, die Welt leiblich erfährt, in ihr verankert und mit ihr „verflochten“ ist (vgl. Fuchs 2000, 19.162.315 und passim), ist der menschliche Körper Teil der Welt und fungiert als Medium zwischen Selbst und Welt: „Über den Körper schreibt sich die Welt in das Subjekt (verstanden als die Einheit von Leib und reflexivem Selbst) ein, über ihn bringt sich das Subjekt in der Welt aber auch zum Ausdruck. [...] Am Körper (am Blick, am Gang, am Lachen, an der Kopf- und Schulterhaltung usw.) wird gleichsam ablesbar, wie ein Subjekt in die Welt gestellt ist“ (Rosa 2016, 146).
Die Welt wird zunächst über die Sinne erfahren. Im alten Israel spielen sieben Sinne eine entscheidende Rolle für die Welterfahrung: Sehen, Hören, Gleichgewichts- und Geschmackssinn, Sprechen, Riechen und Tasten, die allesamt nicht nur der Verarbeitung von Informationen dienen, sondern bei denen sich somatische, kognitive und soziale Fähigkeiten überschneiden (vgl. Avrahami 2012). In der Welt der alttestamentlichen Texte sind → Sehen
Die Welt wird als kleinräumige Menschenwelt erfahren. Die meisten Israeliten erfahren sich als subsistenzwirtschaftlich tätige, Regenfeldbau und Viehzucht betreibende Landwirte in die Welt gestellt. Entsprechend empfinden sie sich Raum und Zeit als den Rhythmus der → Jahreszeiten
Die Menschen leben mit ihren Nutztieren im selben Haus. Mensch und Vieh werden als Schicksalsgemeinschaft erfahren (Jon 4,11
Essen und Trinken der landwirtschaftlichen Erzeugnisse sind Ausdruck der Weltaneignung (Rosa 2016, 98) und im Falle Israels Ausdruck dankerfüllter und lebensfreudiger Welterfahrung (z.B. 1Kön 4,20
Die Bedeutung der Fruchtbarkeit von Pflanzen und Nutztieren für die kleinräumige Welt des altisraelitischen Bauern kommt nicht nur in zahlreichen biblischen Texten, sondern auch auf palästinischen Bildern zum Ausdruck (Abb. 2-3).
Welt und Natur werden zum Teil noch als numinose Größen erfahren (vgl. Keel / Schroer 2. Aufl. 2008, 37-91), was auch ikonographisch an Siegeln mit Pflanzenverehrern und solchen mit einem „Herren der Tiere“ zum Ausdruck kommt (Abb. 4-5).
Darüber hinaus wird die Welt anthropozentrisch wahrgenommen und mit anthropomorphen Begriffen bezeichnet, wie zum Beispiel die Oberfläche der Erde als „Gesicht“ oder die Flussufer als „Lippen“ (zum Folgenden Weippert 1998, 21-25). Licht und Pflanzen können sich mit einem Kleid bekleiden (etwa Ps 65,13-14
Damit zusammenhängend werden auch Raum und Zeit anthropozentrisch bestimmt: Orientierung in Raum und Zeit geben der Lauf der Sonne und die Länge des Schattens. → Himmelsrichtungen
Neben der Etablierung standardisierter Maßeinheiten werden am Menschen ausgerichtete Maßeinheiten verwendet. „Der Mensch verlängert sich in seine Umwelt hinein, indem er seine Körperteile zum Maßstab macht“ (Oeming 2003, 570; → Maße
Der altisraelitische Mensch verfügt über nur geringe „Zeitsouveränität“ (Mathys 2004, 521) und erlebt sich bei aller notwendigen Aufmerksamkeit auf den richtigen Zeitpunkt ganz in den zyklischen Zeitablauf der Natur eingebunden: „Es gibt eine Zeit, da man das Vieh eintreibt (Gen 29,7), eine der Getreideernte (Jer 50,16) und eine solche des Dreschens (Jer 51,33).“ (ebd.). Möglicherweise hatte die Zeit deshalb „einen langen Atem“ und verlief eintönig (Weippert 1998, 17); zumindest die Phänomene der Zeitdehnung durch Langeweile und der Zeitraffer durch Zerstreuung scheinen unbekannt gewesen zu sein.
Eine neuere Darstellung des alttestamentlichen Weltbildes, die auch dem Aspekt der Welterfahrung Raum gibt, stammt von Othmar Keel (Abb. 8a). Die Welt ist von Wassern umgeben, die zum einen als lebenspendender Regen → Fruchtbarkeit
Die Bedeutung Gottes und des Tempels wird durch den Kerubenthron (→ Kerub
4. Sozial gebundene Welterfahrung
Wie die Welt erfahren wird, ist Ausdruck der Weltbeziehung oder Welthaltung und wirkt prägend auf diese zurück. Die Einstellungen, die der Mensch zum Ganzen der Welt einnimmt, können auch als Lebenshaltung verstanden werden. Weil Weltbeziehung und Welthaltung „niemals einfach individuell bestimmt werden, sondern immer sozioökonomisch und soziokulturell vermittelt sind“ (Rosa 2016, 20), muss eine Beschreibung der aneignenden Welterfahrung im alten Israel sozialkulturelle und individuelle Aspekte umgreifen. „Sowohl in der leiblichen als auch in der symbolischen Dimension ist die menschliche Weltbeziehung geprägt durch den Umstand, dass Subjekte dazu gezwungen sind, einen Standpunkt zu beziehen, von dem her sich ihnen die Welt erschließt oder um den herum sie gleichsam konzentrisch angeordnet ist, und mit diesem Standpunkt beziehen sie zugleich Stellung, verorten sie sich in der Welt“ (Rosa 2016, 123).
Die altisraelitische Welterfahrung gründet nicht auf einem von der Natur unabhängigen, autonomen Menschenbild. Der Mensch erfährt sich als homo mundanus (zum Begriff Welsch 2012), als ein welthaftes Lebewesen, das die Welt nicht als zu erzeugende ständig konstruiert, sondern als eine vorgegebene erfährt und stets in sie eingebunden und hineingenommen ist. Die Schriften der Hebräischen Bibel zeigen eine erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität für die relationale Verfasstheit des Menschen und allen Seins. Dies gilt zuvorderst für die Beziehungen des Menschen zu den Mitmenschen (vgl. Dietrich 2015), zu den Tieren (vgl. Janowski / Neumann-Gorsolke / Glessmer 1993) und zu Gott (vgl. Janowski 4. Aufl. 2013). Der Einzelne erfährt sich normalerweise, von Ausnahmefällen wie angefeindeten Menschen abgesehen, zutiefst in eine vor allem verwandtschaftsbasierte Gemeinschaft eingebunden (vgl. Kessler 2. Aufl. 2008), angefangen bei der Kernfamilie über die Sippe, die Rechtsgemeinschaft im Tor, die dörflich gebundene Festgemeinschaft oder die religiöse Gemeinschaft als Volksidee. Die Bedeutung der Familienbindung zeigt sich in der Einbindung der gesamten → Familie
Einsamkeit war kein zu erstrebendes Ideal, Beziehungsreichtum höchstes Gut. Gelingende Beziehungen geben Kraft und erleuchten die Augen (Ps 13,4
Die Welt wird als sozialmoralisch eingerichtete Weltordnung erfahren und erwartet. Die Welt durchwaltet zwar kein göttliches Prinzip wie in Ägypten die → Maat
Formen des sozialen Umgangs richten sich vielfach nach den Vorstellungen von → Ehre
Max Weber diagnostiziert unter dem Begriff Entzauberung der Welt (Weber 1992, 87.100.109) für die Moderne eine neue Form der Welterfahrung, die in allen Bereichen der Wirklichkeit durch Intellektualisierung und Rationalisierung eine „Weltreichweitenvergrößerung“ (Rosa 2016, 550) durchzusetzen bestrebt ist, welche „die Welt berechenbar und beherrschbar, verstehbar, kalkulierbar und damit verfügbar zu machen versucht“ (Rosa 2016, 549). Diese Entzauberung ist in Ansätzen schon in der Hebräischen Bibel angelegt und Teil der altisraelitischen Welterfahrung. Einerseits zeigt sich eine gewisse „Entzauberung der Welt“ darin, dass der Welt in der Hebräischen Bibel vielfach – allerdings nicht allerorten (vgl. etwa Gen 4,11
5. Analogistische Welterfahrung
Im alten Israel wie in den Schriften der Hebräischen Bibel wird die Welt nicht primär durch systematisierendes, rational-reflektierendes Denken erfahren, sondern durch lebenspraktische Teilhabe an der Welt. Für deren denkerische, allumfassende und relationale Form ist zu einem gewissen Grad eine analogistische Schematisierung der Erfahrung typisch. Unter einem kollektiven Schema sind die von einer Gruppe oder Gesellschaft geteilten kulturellen Dispositionen zu verstehen, „die dank der in einem gegebenen sozialen Milieu erworbenen Erfahrung verinnerlicht sind und die Ausübung von mindestens drei Arten von Kompetenz ermöglichen: zunächst auf selektive Weise den Fluß der Wahrnehmung zu strukturieren, wobei bestimmten, in der Umwelt beobachtbaren Merkmalen und Prozessen ein signifikanter Vorrang eingeräumt wird; sodann sowohl die praktische Tätigkeit als auch den Ausdruck des Denkens und der Gefühle gemäß relativ standardisierten Szenarien zu organisieren; schließlich typische Interpretationen von Verhaltensweisen oder Ereignissen zu liefern, Interpretationen, die innerhalb der Gemeinschaft, in der die von ihnen wiedergegebenen Lebensgewohnheiten als normal angesehen werden, zulässig und mittelbar sind.“ (Descola 2013, 163). Analogistisch wird die Integration der Erfahrung in ein Schema dann, wenn die Dinge und Wesen der Welt zwar verschieden, aber in einem Netz von Bedeutungen miteinander verknüpft sind, das die Form einer „Kette des Seins“ (Descola 2013, 301-344) oder eines Rhizoms annehmen kann (so für Mesopotamien Van De Mieroop 2016, bes. 219-224).
Anders als animistische, totemistische oder naturalistische Kollektive verfügen analogistische Kollektive über die Welt als den einen gemeinsamen und umfassenden Erfahrungshintergrund, der die Integration der Erfahrung in Form der Verknüpfung aller Dinge ermöglicht. Welterfahrung besteht nach diesem Schema in der Schwierigkeit, die mannigfaltigen Erfahrungen mit den zahlreichen Entitäten zu vereinen. Symbolisch kann dies auf verschiedene, idealtypisch zu unterscheidende, aber miteinander verbundene Weise zum Ausdruck kommen, wobei die Klassifikationen nicht nur ontologisch, sondern auch funktional sein können: in unterscheidenden Klassifikationsmustern von Entitäten und ihren Relationen, seien diese Klassifikationsmuster nun im Wesentlichen gleichrangig strukturiert (z.B. die Unterscheidung zwischen Himmels-, Land- und Wassertieren [→ Tiere
Neben diesen Klassifikationsprinzipien, die zur Aufgabe haben, die mannigfaltigen Erfahrungen mit den unterschiedlichen Entitäten zu strukturieren, müssen die singulären Erfahrungen unter einem einheitlichen Prinzip als „Welterfahrung“ zusammengebunden werden. „Welt“ ist dabei eine „regulative Idee“ (Kant), die nicht nur wie die Klassifikationsmuster Erfahrungen strukturiert, zusammenbindet und hierarchisiert, sondern sie unter einem umfassenden Prinzip vereinheitlicht. Im Alten Orient kommt dieses Prinzip zum einen in der Vorstellung von einem göttlichen Pantheon zum Ausdruck (vgl. Descola 2013, 404), welches das Netz der Beziehungen in der Welt spiegelt und so auf höherer Ebene zusammenbindet, zum anderen in Form des Kosmozentrismus und Kosmotheismus (zum Begriff Assmann 1993), der die mannigfaltigen Erfahrungen mit den Entitäten der Welt auf das Prinzip des Einen hin vereinheitlichen kann. Im alten Israel ist eine Entwicklung vom Polytheismus zu Monolatrie und → Monotheismus
Religiöse → Rituale
6. Ästhetische Welterfahrung
Ästhetische Erfahrung ist eine Form der Welterfahrung, insofern sie „Welt entdecken, Weltsichten öffnen, Welt erschließen kann.“ (Welsch 2016, 11). Kunst „bezeichnet eine Beziehungsform“ und Form der Welterfahrung, indem sie „die Möglichkeit einer Art des In-der-Welt-Seins, in der Subjekt und Welt einander antworten“, erstellt (Rosa 2016, 482). Ein Wesenszug der ästhetischen Erfahrung besteht darin, „dass sie einem die Augen für ungewohnte Aspekte der Welt aufzuschlagen vermag“ (Welsch 2016, 14), dass sie ungewohnte oder unbekannte Welterfahrung eröffnet, neue Welterfahrung prägt oder gegebene umbildet und zu einer tieferen Welterfahrung beizutragen vermag (vgl. ebd. 18). Ausdruck einer tieferen und in sich stimmigen Welterfahrung bieten beispielsweise nicht nur die altorientalischen Palast- und Tempelgärten, sondern auch die Vorstellungen vom Jerusalemer Tempel sowie die beiden Schöpfungspsalmen Ps 8 und Ps 104, während der poetische Dialogteil des Buches Hiob Ausdruck einer tiefen, aber gestörten Welterfahrung ist. Medien der Welterfahrung können dabei auch somatische Aspekte sein wie das murmelhafte Rezitieren von Bekenntnissen als Form der weltzugewandten, aber auch innerlich aufmerksamen Weltversenkung (vgl. etwa Dtn 6,7
Tanz und Musik haben die Aufgabe, den Menschen bei alltäglichen Arbeiten, Krankheiten und Trauerfeiern mental zu unterstützen und bei Festgelegenheiten sowie zu prophetisch-ekstatischen Anlässen in die jeweils passende Stimmung zu versetzen (vgl. Borowski 2003, 90-92). Bilder sind nicht perspektivisch wie in Griechenland, sondern eher additiv und aspektivisch wie in Ägypten gemalt (vgl. Brunner-Traut 2. Aufl. 1992; Schroer / Staubli 1998, 24-26) und bringen eine Erfahrung zum Ausdruck, die die Welt, obwohl durch das Prinzip der konstellativen Einheit verbunden (vgl. Assmann 2009; Janowski 2009), als Kompositum, als differenzierte, gegliederte und aus Einzelteilen bestehende Ganzheit betrachtet, bei der „die Würdigung der Teile, also der einzelnen ‚Aspekte‘, den Vorrang hat vor dem die Perspektive kennzeichnenden Überblick des Ganzen.“ (Brunner-Traut 2. Aufl. 1992, 11).
7. Religiöse Welterfahrung
Die Welt liegt dem Menschen des alten Israel nicht objektiv gegenüber, sondern tritt ihm entgegen und bildet seinen Erfahrungsraum auf eine Weise, bei der die Welt über sich selbst hinausweist und für religiöse Dimensionen offen ist. Das alttestamentliche Weltbild speist sich aus einer Welterfahrung, die dem Weltbild vorausliegt („Primat der menschlichen Wahrnehmung“; Janowski 2015, 2). Der Welt wohnen symbolische Bedeutungen inne, sodass für die altisraelitische Welterfahrung eine ständige „Osmose“ zwischen Realem und Symbolischem typisch ist: „Es findet eine ständige Osmose zwischen Tatsächlichem und Symbolischem, und umgekehrt auch zwischen Symbolischem und Tatsächlichem statt. Diese Offenheit der alltäglichen, irdischen Welt auf die Sphären göttlich-intensiven Lebens und bodenloser, vernichtender Verlorenheit hin ist wohl der Hauptunterschied zu unserer Vorstellung der Welt als eines praktisch geschlossenen mechanischen Systems.“ (Keel 5. Aufl. 1996, 47). Zu dieser Osmose gehört auch die Korrelation von Konkretem und Abstraktem: Bei Fragen des Weltbildes und der Welterfahrung werden zumeist Begriffe und Vorstellungen verwendet, „die an sich konkret sind, aber oft etwas weit über ihre konkrete Bedeutung Hinausreichendes meinen.“ (ebd. 8).
In Israel bedeuten Monolatrie und später → Monotheismus
Das → Bilderverbot
Welterfahrung ist in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient oftmals auf ein Zentrum bezogen und Welt nicht als zentrumslose Gesamtheit erfahr- und begreifbar: Zentrifugale Welterfahrung bedeutet, dass die Erfahrbarkeit und Sichtbarkeit der Nähe eines Tempels als Nabel der Welt eine Form der Orientierung bietet, die den Horizont auf die gesamte Schöpfungswelt einschließlich ihrer religiösen Hintergrundwirklichkeit öffnet. Selbst in solchen Schöpfungstexten, in denen kein kulturelles oder natürliches Zentrum erscheint, übernimmt das Gottesbild die zentrifugale Achse zur Erfahrung des Weltganzen, beispielsweise indem zentrifugale Erfahrungsnähe des Weltganzen nun nicht mehr architektonisch (wie beim Tempel) oder geographisch (wie beim Urhügel oder Gottesberg), sondern allein relational durch die Leben und Nähe spendende Kraft von Gottes Antlitz und Lebensodem ausgedrückt wird (Ps 104). „So wird Jahwe für den Israeliten geradezu zu dem, was man heute gern als schöpferische Naturkraft bezeichnet.“ (Schunck 1979, 405). Das der Atmung und Bewegung fähige Leben der Menschen und Tiere, nicht jedoch das vegetative der Pflanzen, gilt als „eine besondere Gabe und Kraft Gottes“ (ebd. 406).
8. Schöpfungsgemäße Welterfahrung
Ein Ausdruck dafür, dass sich der altisraelitische Mensch auf das Ganze der Welt beziehen kann, findet sich klassischerweise in den beiden Weltschöpfungsmythen (→ Schöpfung
Nach dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a
Damit zeigt der erste Schöpfungsbericht eine „intentionalistische Weltbeziehung“ (zum Begriff Rosa 2016, 211f), die eine wirksame Verwaltung und Herrschaft der Welt als Weltaufgabe und Weltaneignung des Menschen begreift. Die primordiale Welt wird als „sehr gut“ (טוֹב מְאֹד ṭôv me’od), das heißt als wohlgeordnet und lebensförderlich begriffen (Gen 1,31
Im nicht-priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen 2,4b-3,22
Die gegenwärtige Welt wird nicht wie im priesterschriftlichen Weltverständnis als verderbt qualifiziert, aber dafür wird die Verderbtheit anthropologisiert und dem bösen Herzen des Menschen als dessen Denkorgan und Handlungszentrum zugesprochen (Gen 6,5
Auch in den beiden Schöpfungspsalmen Ps 8 und Ps 104 kommt der allumfassende, diesseitige Weltbezug des Menschen in dessen Welthaftigkeit zum Ausdruck: In Ps 8 bedenkt der Mensch seine eigene Größe und Kleinheit angesichts einer Welt, auf die Gott seinen Namen und seine Pracht gelegt hat. In Ps 104 wird der Welterfahrung Ausdruck gegeben, dass die Welt von Mensch und Tier in ihren je unterschiedlichen ökologischen Nischen bevölkert wird und allesamt auf göttliche Nähe und gottgegebene Speise sowie gottgegebenen Lebensodem angewiesen sind. So wird die von Gott geschaffene und getragene Welt in einer typisch alttestamentlichen Form der Diesseitsorientierung bejaht und „sind Mensch und Natur in der Einheit dieses vorgegebenen Geschehens zusammengeschlossen, das als solches schon Sinn- und Wertqualität für alles Lebendige hat!“ (Steck 1978, 68).
9. Geschichtliche Welterfahrung
Im alten Israel, ebenso wie im alten Orient überhaupt, gibt es noch nicht „die“ Geschichte, die dem Menschen als Größe sui generis gegenübertreten kann (→ Geschichte
10. Welterfahrung und Katastrophenerfahrung
Die Welt ist „eine bedrohte Welt“ (von Rad 1957, 156), und die Geschichte Israels durch katastrophale Ereignisse bestimmt, die sich entsprechend in der altisraelitischen Welterfahrung niederschlagen. Die Welt wird nur zum Teil als harmonischer Kosmos erfahren (z.B. Ps 19; Ps 104). Zwar verweist das Motiv vom → Chaoskampf
Regenfeldbau und Herdenzucht erfordern eine sich anpassende Haltung zur Natur und eine dementsprechende enttäuschungsfeste Weltsicht mit relativ hoher Frustrationstoleranz. Dies umso mehr, als es gilt, sich auf herausfordernde Ereignisse wie das Ausbleiben des Regens mit Dürre und Hungerkatastrophen, auf Erdbeben, Überflutungen, Heuschreckenschwärme und andere Naturkatastrophen einzustellen. Die Menschen im alten Israel waren „diesem labilen Charakter seiner Lebenswelt unbeschönigt ausgesetzt“ und verfügten über „elementares Wissen um Angewiesensein und Abhängigkeit im Blick auf die natürlichen Lebensbedingungen, Wahrnehmung und Bewältigung des Lebensrisikos in der natürlichen Umwelt, Sensibilität für das Unvorhersehbare, nicht Verfügbare“ (Steck 1978, 52f). Eine hohe Kindersterblichkeit und eine gegenüber heutiger Zeit deutlich geringere Lebenserwartung gehörten zu den Unwägbarkeiten des Lebens. Krankheiten wurden als Schlaffheit und Schwäche erfahren. „Gesundheit wäre also Straffheit, Kraft. Man sieht, ein Begriff rein aus den Erfordernissen des praktischen, täglichen Lebens gezogen“ (Köhler 1953, 34).
Die Schriften des Alten Testaments spiegeln eine Welterfahrung, die Katastrophen auf sinnvolle Weise verarbeiten und in das vorgegebene Weltbild integrieren kann. Kontingenz wird in Sinn verwandelt mit Hilfe beziehungsgesättigter, personalisierter Welterfahrungen und auf personale Ursachen wie die Sünden von Menschen und entsprechende Folgen wie den Zorn Gottes zurückgeführt. Indem komplexe katastrophale Ereignisse auf personal vorgestellte Ursachen und Folgen reduziert werden, werden sie als verständliche erfahrbar und leichter in ein kohärentes Weltbild integriert (vgl. Dietrich 2012b). Das gilt auch für kollektive Katastrophen: Mit der Weiterentwicklung der altisraelitischen Monolatrie zum Monotheismus antworten Gruppen im antiken Israel auf die kollektive Katastrophe des babylonischen Exils und können auf diese Weise ihre eigene Identität auch angesichts von Katastrophenerfahrungen wahren.
Monolatrie und Monotheismus entwickeln sich im Laufe der Zeit und mit der Kanonisierung zu einer Buchreligion, die die geschichtlichen Welterfahrungen Israels bindet. Diese Buchreligion gestaltet die Welterfahrung im alten Israel in Zeiten grundlegender Widerfahrnisse insofern neu, als „die Bucherfahrung in Rivalität zur Welterfahrung“ tritt (Blumenberg 3. Aufl. 1993, 11). Auf diese Weise kann die Bibel als „das Buch der Bewältigung menschlicher Welterfahrung“ gelten (Luck 1967, 6), das „im Angesicht der Wirklichkeit Lebenserwartung und Welterfahrung zusammenbindet“ (Luck 1976, 29), indem es die Welt mit ihren Kontingenzen und Differenzerfahrungen in Hinsicht auf bezeugtes Gott- und Weltvertrauen einsichtig und „lesbar“ macht. Nach dem Landverlust und mit der Entstehung von Diasporagemeinden bleiben Hoffnung und Fokussierung auf die Heimat Israel bestehen und werden mit Hilfe der Tora als „portatives Vaterland“ (Heinrich Heine) am Leben erhalten.
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Abbildungsverzeichnis
- Auf diesem frühsumerischen Rollsiegel (ca. 3300-2900 v. Chr.) verteidigt ein nackter Mann eine kalbende Kuh gegen einen Löwen. „Die Konstellation versinnbildlicht die Entwicklung grundlegender Vorstellungen von ,Kultur‘ und ,Natur‘“ (Keel / Schroer 2. Aufl. 2008, 39). Aus: O. Keel / S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen 2. Aufl. 2008, 39 Abb. 1 (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
) - Auf diesem Skarabäus, wahrscheinlich aus Geser (ca. 1650-1540 v. Chr.), erscheint eine nackte Frau oder Göttin. Sie hält als Zeichen der Fruchtbarkeit je einen Zweig in der Hand, und Zweige sprießen aus ihrer Scham. Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg / Basel / Wien 5. Aufl. 2001, Abb. 12b (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
) - Die säugende Kuh ist, wie bei dieser Malerei auf einem Tonkrug von Kuntillet ‘Aǧrūd (8. Jh. v. Chr.), ein typisches Motiv für Fruchtbarkeit im alten Israel. Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg / Basel / Wien 5. Aufl. 2001, Abb. 219 (Ausschnitt) (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
) - Auf diesem judäischen Siegel (ca. 700 v. Chr.) sind zwei Verehrer an einem stilisierten Baum zu sehen. Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg / Basel / Wien 5. Aufl. 2001, Abb. 233b (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
) - Der Herr der Tiere bändigt auf diesem Skaraboid vom Tell eṣ-Ṣāfī (6. Jh. v. Chr.) zwei Capriden. Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg / Basel / Wien 5. Aufl. 2001, Abb. 361c (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
) - Der Zusammenhang zwischen Mond und Fruchtbarkeit war den Menschen im alten Israel deutlich und zeigt sich auch in der Verehrung des Mondgottes, wie auf diesem Siegel vom Tell Kēsān (ca. 700 v. Chr.). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg / Basel / Wien 5. Aufl. 2001, Abb. 291c (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
) - Die Beziehung zwischen Sonne, Fruchtbarkeit und Schöpfungssymbolik zeigt sich beispielsweise in der Verehrung des Sonnengottes im Lotusnimbus, wie auf dieser gravierten Muschel aus Bethlehem (ca. 7. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg / Basel / Wien 5. Aufl. 2001, Abb. 337b (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
) - Die Rekonstruktionen des alttestamentlichen Weltbildes von Othmar Keel (Abb. 8a) und Izak Cornelius (Abb. 8b), die auch der Welterfahrung des altisraelitischen Menschen Raum geben. Aus: O. Keel, Das sogenannte altorientalische Weltbild, BiKi 40 (1985), 157-161, Abb. 14 (Abb. 8a); I. Cornelius, The Visual Representation of the World in the Ancient Near East and the Hebrew Bible, JNSL 20 (1994), 193-218, Abb. 10 (Abb. 8b)
- Auf diesem neuassyrischen Rollsiegel (9.-7. Jh. v. Chr) präsentiert ein Mensch / ein königlicher Held seine Herrschaft über die Erde durch den aufgestemmten Fuß auf dem Capriden und die gleichzeitige Abwehr des Löwen. Aus.: O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 5. Aufl. 1996, Abb. 60 (© Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
)
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