Wunder / Wundergeschichten (AT)
(erstellt: Dezember 2014)
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1. Vorbemerkung
Im Allgemeinen bezeichnet das deutsche Wort „Wunder“ ein unerwartetes, der gewohnten Erfahrung widersprechendes Ereignis, das Staunen und Verwunderung auslöst. Im Rahmen eines modernen, naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes, das die Welt als eine von absolut gültigen Naturgesetzen bestimmte Größe begreift, werden „Wunder“ häufig in einem engeren Sinn als Durchbrechung oder zeitweilige Aufhebung von Naturgesetzen verstanden. Vor allem Letzteres darf nicht einfach auf das Alte Testament übertragen werden, da das dieser Definition zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis den Texten fremd ist. Jedoch bleibt zu bedenken, dass der Mensch auch ohne tiefere Einsicht in naturwissenschaftliche Zusammenhänge zu allen Zeiten und an allen Orten über ein für die Bewältigung des Alltags erforderliches und daraus gewonnenes Erfahrungswissen verfügt, das die menschliche Erwartungshaltung steuert und somit ermöglicht, Außergewöhnliches, mithin Staunenswertes, vom Normalfall zu unterscheiden.
Ein derartiges Verständnis vermag die Engführung des Wunderbegriffs auf Naturphänomene aufzubrechen und erweist sich auch vor dem Hintergrund eines altorientalischen Wirklichkeitsverständnisses als anschlussfähig. Grundlegend für dieses ist die Wahrnehmung der Welt als von den Göttern geschaffen und geordnet (→ Welt / Weltbild
Was im Alten Testament als Wunder gilt, entzieht sich von daher einer strikten definitorischen Festlegung und lässt sich immer nur näherungsweise im Kontext seines literarischen Bezugssystems beschreiben.
2. Zur Terminologie
Dass das alttestamentliche Verständnis von „Wunder“ von der mit dem deutschen Wort „Wunder“ üblicherweise verbundenen Bedeutung verschieden ist, lässt sich bereits an der alttestamentlichen Terminologie ablesen. Das Alte Testament hat kein Wort, das in seiner Bedeutung dem deutschen Wort „Wunder“ entspricht. Stattdessen begegnet eine Reihe verschiedener Termini oder formelhafter Wendungen, die das mit dem Begriff „Wunder“ verbundene Bedeutungsfeld nach verschiedenen Richtungen ausdifferenziert.
2.1. „Zeichen und Wunder“ (אֹתֹת וּמוֹפְתִים)
Hebräisch אוֹת ’ôt meint zunächst allgemein ein „Zeichen“, ein „Merkmal“ (vgl. Gen 4,16
Ganz ähnlichen Verweischarakter besitzt auch das in seiner Etymologie gänzlich unsichere מוֹפֵת môfet (Pl. מוֹפְתִים môfətîm), das in deutschen Übersetzungen zumeist mit „Wunder“, „Wunderzeichen“ oder dergleichen wiedergegeben wird. Auch dort, wo es allein begegnet, wird damit eine Demonstration göttlicher Macht bezeichnet, entweder durch Gott selbst oder seine autorisierten Mittler (Ex 4,21
Die beide Worte verbindende Wendung אֹתֹת וּמוֹפְתִים ’otot u-môfətîm („Zeichen und Wunder“) begegnet am häufigsten als Verweis auf die wunderbaren Ereignisse im Zusammenhang des Exodus, an die sich Israel erinnern soll (Ex 7,3
2.2. „Machterweisungen / Machttaten“ (גְּבוּרוֹת)
Als גְּבוּרוֹת gəvûrôt „Machterweisungen / Machttaten“ (Pl. von גְּבוּרָה gəvûrāh; Wurzel גבר gbr) werden bis auf zwei Ausnahmen (Ps 90,10
2.3. „Großtaten“ (גְּדֹלוֹת)
In ähnlicher Weise kann auch גְּדֹלוֹת gədolôt „Großtaten“ (substantivierter Pl. Fem. zum Adjektiv גָּדוֹל gādôl „groß“) für Gottes große und dem Menschen letztlich unbegreifliche Taten in Schöpfung und Geschichte stehen (Jer 33,3
2.4. „Wunderbar sein“ (פלא), „Wundertaten“ (נִפְלָאוֹת) und „Wunderbares“ (פֶּלֶא)
Die mit der hebräischen Verbwurzel פלא pl’ „wunderbar sein“ zusammenhängende Wortgruppe betont den Aspekt des Außerordentlichen und Unerwarteten, das dem Menschen rätselhaft und letztlich unbegreiflich bleibt. In Bezug auf das Verhältnis von Gott und Mensch kann damit die – verglichen mit dem menschlich Erwart- bzw. Machbaren – unbeschränkte Handlungsfähigkeit Gottes artikuliert werden. Beispielhaft zeigt sich das etwa in der rhetorischen Frage Gen 18,14a
Der Aspekt des Unmöglichen und Unbegreiflichen bestimmt auch die Verwendung von נִפְלָאוֹת niflā’ôt „Wundertaten / erstaunliche Dinge“ (substantiviertes Nif. Partizip Fem. Pl. der Wurzel פלא pl’). Abgesehen von zwei Ausnahmen (Dan 8,24
Das ebenfalls von der Wurzel פלא pl’ abgeleitete Nomen פֶּלֶא pælæ’ „Wunderbares / Außerordentliches“ begegnet überwiegend als Kollektivbegriff im Singular. In seiner Bedeutung und Verwendung entspricht es im Wesentlichen נִפְלָאוֹת niflā’ôt und verweist ausschließlich auf Gottes Heilshandeln (Ps 77,12.15
2.5. „Furchtbare Taten“ (נוֹרָאֹת) und „Schreckenerregendes“ (מוֹרָא)
Die von der Wurzel ירא jr’ „fürchten“ abgeleiteten Termini נוֹרָאֹת nôrā’ot (Nif. Partizip Fem. Pl.) „furchtbare Taten“ und מוֹרָא môrā’ (Pl. מוֹרָאִים môrā’îm) „Schreckenerregendes“ heben vor allem die Furcht erregende Wirkung göttlichen Eingreifens hervor, sowohl im Allgemeinen (Ps 85,6
Neben den bislang genannten Termini kann auch das allgemein für „Werk / Tat“ gebrauchte Nomen מַעֲשֶׂה ma‘ăśæh (Pl. מַעֲשִׂים ma‘ăśîm) als zusammenfassende Bezeichnung für Gottes außergewöhnliches Wirken in Schöpfung und Geschichte dienen (Ex 34,10
3. Wundergeschichten
Die genannten Bezeichnungen deuten vor allem die mit Israels Herausführung aus Ägypten verbundenen Ereignisse als die große Wundertat Jahwes (→ Exodustradition
Beschreibungen von Wundern finden sich an mehreren Stellen in der Darstellung der → Wüstenwanderung
Wunderbare Ereignisse werden für den Durchzug durch den → Jordan
Einen weiteren größeren Komplex mit Wunderberichten bildet die Elia-Elisa-Überlieferung (1Kön 17-2Kön 13; → Elia
Vor allem die kurzen Episoden der älteren Elisa-Überlieferung (Heilung einer Quelle: 2Kön 2,19-22
Auf Ankündigung → Jesajas
Wundergeschichten finden sich schließlich im → Danielbuch
Insgesamt gesehen liegt die textpragmatische Funktion alttestamentlicher Wundergeschichten im Wesentlichen im Erweis der Macht Gottes bzw. göttlich autorisierter Mittlergestalten. Neben Gott als dem Wundertäter par excellence stechen unter den menschlichen Thaumaturgen vor allem Mose, Aaron, Elisa und Elia hervor. Bisweilen wird auch auf den Einsatz besonderer Gegenstände (z.B. Moses Stab, Elias Mantel, der Stab Elisas) verwiesen. Entscheidend bleibt jedoch die außergewöhnliche Gottesbeziehung der menschlichen Handlungsträger, die auf verschiedene Weise narrativ plausibilisiert werden kann (vgl. z.B. Beglaubigungswunder wie in Ex 4,1-9
4. Zur Interpretation der Wundererzählungen
Eine Interpretation der Wundererzählungen jenseits eines supranaturalistischen Paradigmas muss den literarischen Charakter alttestamentlicher Erzählungen ernst nehmen. Fundamentalistische Exegese verkennt an dieser Stelle, dass Wundererzählungen keine Tatsachenberichte sind und auch nicht sein wollen. In ihnen begegnet die Wirklichkeit immer schon als gedeutete Wirklichkeit. Im Modus der Erzählung entfalten Wundergeschichten hierbei in profilierter Weise den theologischen Grundgedanken von Gottes Einzigartigkeit und Geschichtsmacht, indem sie die gewohnte Wahrnehmung der Wirklichkeit auf- und durchbrechen.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
- Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart 1988-2001
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
- Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006
2. Weitere Literatur
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- Becker, M., 2002, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (WUNT II/144), Tübingen.
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- Otto, S., 2001, Jehu, Elia und Elisa (BWANT 152), Stuttgart.
- Quell, G., 1961, Das Phänomen des Wunders im Alten Testament, in: A. Kuschke (Hg.), Verbannung und Heimkehr (FS W. Rudolph), Tübingen, 253-300.
- Sauerwein, R., 2014, Elischa (BZAW 465), Berlin.
- Scharbert, J., 1967, Was versteht das Alte Testament unter Wunder?, BiKi 22, 37-42.
- Schmitt, H.-C., 1972, Elisa, Gütersloh.
- Schmitt, R., 2004, Magie im Alten Testament (AOAT 313), Münster.
- Stolz, F., 1972, Zeichen und Wunder, ZThK 69, 125-144.
- Wilms, F.-E., 1978, Das Wunder im Alten Testament (Schlüssel zur Bibel), Regensburg.
- Thiel, W., 1990, Sprachliche und thematische Gemeinsamkeiten nordisraelitischer Propheten-Überlieferungen, in: J. Zmijewski (Hg.), Die alttestamentliche Botschaft als Wegweisung (FS H. Reinelt), Stuttgart, 359-376.
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