Zeit, Zeitverständnis (AT)
(erstellt: Mai 2010)
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1. Wortbedeutungen
Zur Situierung eines Ereignisses in der Zeit verwendet das Hebräische zahlreiche adverbielle und präpositionelle Ausdrücke. Wird der Zeitpunkt oder Zeitabschnitt eines Geschehens substantivisch benannt, so begegnen vor allem die Wörter יוֹם jôm „Tag“ und עֵת ‘et „Zeit / Zeitpunkt“. Beide können synonym verwendet werden (Ez 7,7
Oft ist der mit עֵת ‘et bezeichnete Zeitpunkt inhaltlich näher bestimmt (Jer 30,7
Es finden sich im Alten Testament keine philosophisch-systematischen Erörterungen über die Zeit, vergleichbar denen eines Aristoteles (Physik IV, 10-14; Text gr. und lat. Autoren
2. Mythisch-zyklisches Zeitverständnis
Es ist zu vermuten, dass in Israel wie überhaupt in der Antike soziale Zeit und Naturzeit stärker aufeinander bezogen waren, als dies in neuzeitlich geprägten Kulturen der Fall ist. Das Zeitempfinden der Menschen dürfte in damaliger Zeit in starkem Maße zyklisch geprägt gewesen sein. Zeitgefühl und Zeitmessung orientierten sich an periodischen Naturerscheinungen, wie dem Wechsel von Tag und Nacht (Gen 1,4f
In diesen Zusammenhang gehört auch die weisheitliche „Lehre von der rechten Zeit“. Ihr zufolge kommt allem Geschehen unter dem Himmel eine entsprechende Zeit zu. Diese Einsicht ist zunächst der Natur abgeschaut (vgl. Dtn 11,14
Ebenso sind die Feste Israels von ihrer Herkunft aus einer bäuerlichen Lebenswelt primär mit dem zyklischen Zeitverständnis verbunden (→ Fest
In vorexilischer Zeit stand auch der → Sabbat
Aus der Perspektive eines linearen Zeitverständnisses wird ein zyklisches Zeitverständnis nicht selten als Ausdruck von Sinnlosigkeit angesehen, weil es „ohne Ziel“ sei. Dies aber wird dem Selbstverständnis mythisch-zyklisch geprägter Kulturen und Lebenswelten nicht gerecht. Das zyklische Zeitverständnis ist gekennzeichnet durch eine Semiotisierung des Kosmos. Der Kosmos ist der primäre Ort der Transzendenzerfahrung: Die Rhythmen der Natur wie der Lauf der Sonne (vgl. Pred 1,5
Auch „geschichtliche Abläufe“ konnten nach zyklischen Modellen dargestellt werden. So wird im → Buch der Richter
3. Geschichtlich-lineares Zeitverständnis
Zu einer ausschließlich mythisch-zyklischen Zeitvorstellung wie etwa im Alten Ägypten kam es in Israel jedoch nicht. Soziale und klimatische Verhältnisse mögen eine Rolle gespielt haben. Die Naturverhältnisse waren in Israel unberechenbarer als in Ägypten. Das Nichtvorhersehbare und Außergewöhnliche gewinnt so an Bedeutung. Damit ist die Voraussetzung für ein lineares Zeitverständnis gegeben. Allerdings entsteht ein solches nicht „von Natur aus“, sondern durch soziale Konstruktion. Konstruktionen linearer Zeit dürften in Israel mit der Entstehung und Konsolidierung politischer Herrschaft aufgekommen sein. Mit der amtlichen Zählung der Regierungsjahre der Könige von Juda und Israel entsteht die Vorstellung einer linearen Entwicklung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie fand ihren Niederschlag in Annalen („Tagebücher der Könige“, vgl. 1Kön 15,7
Das geschichtlich-lineare Zeitverständnis wurde in Israel vor allem prägend für das religiöse Symbolsystem. Grundgelegt wurde es durch eine Semiotisierung der Geschichte. Dies geschah dadurch, dass das Außergewöhnliche nicht eliminiert, sondern im Bewusstsein der Gesellschaft thematisiert und erinnert wurde. Einem (einmaligen, außergewöhnlichen) Geschehen wird eine über den Tag hinausreichende Bedeutung zuerkannt, genauer: in einem (historisch einmaligen) Geschehen wird ein Sinn vernommen, der in jeder Gegenwart neu vernommen werden wollte und der sich erst in der Zukunft in seiner Vollgestalt erschließen sollte. Derartige Ereignisse werden in der biblischen Überlieferung mit einem Handeln Gottes in Verbindung gebracht. Dazu gehören u.a. der Exodus (→ Exodustradition
Vor allem in der prophetischen Tradition wird – häufig in der Wendung „es werden Tage kommen“ bzw. „in künftigen Tagen“ – eine in der Zukunft liegende Zeit angekündigt. Es kann eine Zeit des Gerichts und der Vernichtung (vgl. Jer 4,11
4. Integratives Zeitverständnis
Die von ihrer Herkunft her primär zyklisch geprägten Feste Israels wurden vom geschichtlich-linearen Zeitverständnis überformt und in unterschiedlichem Maße von dorther neu konzipiert (→ Fest
Zum Ort eines integrativen Zeitverständnisses wurde auch das Lebensalter der Menschen. Einerseits wurde das menschliche Leben als ein nicht wiederholbarer Weg in ein Land ohne Wiederkehr verstanden (vgl. Hi 10,21
Die Schöpfungserzählung von Gen 1
Literaturverzeichnis
- Assmann, J., Ägypten. Eine Sinngeschichte, Darmstadt 1996
- Janowski, B., Vergegenwärtigung und Wiederholung. Anmerkungen zu G. von Rads Konzept der „Heilsgeschichte“, in: J. Frey / S. Krauter / H. Lichtenberger, Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, Tübingen 2009, 37-61
- Schwienhorst-Schönberger, L., „Für alles gibt es eine Stunde” (Koh 3,1). Das Verständnis der Zeit im Alten Testament, ThPQ 154 (2006), 356-364
- Wilch, J.R., Time and Event. An Exegetical Study of the Use of ’ēth in the Old Testament in Comparison to Other Temporal Expressions in Clarification of the Concept of Time, Leiden 1969
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