Zitat (AT)
(erstellt: März 2011)
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1. Definition
1.1. Intertextualität, Zitat, Anspielung
Der Begriff des Zitats ist abzugrenzen gegenüber dem weiteren und teilweise auch Anderes meinenden Begriff der Intertextualität auf der einen und dem Begriff der Anspielung auf der anderen Seite.
1.1.1. Intertextualität. Intertextualität ist ein sehr weiter Begriff, damit können Bezüge zwischen einem Einzeltext und einem anderen Einzeltext gemeint sein (Text-Text-Beziehung), sehr wohl aber auch Bezüge zwischen einem Einzeltext und einer Vielzahl von anderen Texten, ja sogar einer umfassenden Tradition (Text-System-Beziehung). Intertextualitäten müssen nicht notwendigerweise intentional sein, sondern können auf allgemeinem Vertrautsein mit anderen Texten, ja einer ganzen Kultur beruhen. Sie müssen nicht einmal vom Autor eingebracht worden sein (produktionsseitige Intertextualität), sondern können durchaus erst vom Rezipienten entdeckt bzw. konstruiert werden (rezeptionsseitige Intertextualität).
Demgegenüber ist das Zitat die vom Autor intendierte Aufnahme eines anderen Textes (produktionsseitige Text-Text-Beziehung), die als solche auch in irgendeiner Form ausgewiesen ist (Markierung). Der Autor eines Textes kann dabei einen anderen, schriftlich verfassten Text zitieren, aber auch eine zuvor erfolgte mündliche Äußerung (intertextuelles Zitat). Eine eigene Form des Zitates liegt vor, wenn ein Textakteur in einem Text vorher Gesagtes oder Erzähltes aufgreift und diese Aufnahme als solche kennzeichnet (intratextuelles Zitat).
1.1.2. Anspielung. Eine Anspielung liegt vor, wenn die Aufnahme eines anderen Textes nicht explizit markiert ist.
Die letztere Abgrenzung ist zugleich die entscheidende Problemanzeige im Bereich der Bibelwissenschaften. Moderne, etwa literaturwissenschaftliche oder germanistische Abhandlungen sprechen in den Regel nur dann von einem Zitat, wenn ein Ausschnitt aus einem Text ausdrücklich nach den gültigen Konventionen als solches markiert ist, in modernen Texten in der Regel durch Anführungszeichen, gefolgt oder begleitet von Herkunftsangabe bzw. Quellenverweis oder aber – bei sehr bekannten Worten, deren Herkunft allgemein bekannt ist – einfach durch Anführungszeichen.
1.1.3. Zitat. Nun pflegten aber im Alten Orient und in der Frühantike Autoren einen anderen Umgang mit Zitaten: „The authors of antiquity were artisans rather than artists. Our preoccupation with originality would have been foreign to them, nor did they care about intellectual property.“ (van der Toorn, 2007, 5). Auch hinsichtlich Markierung und Wörtlichkeit muss man von anderen Gepflogenheiten ausgehen: „That is why quotations in biblical literature, as among Greek and Roman authors, are often from memory. Inaccuracies are not uncommon, and the reference to the author or the scroll – assuming the two are distinguished – is very general. The scroll served as a deposit box for the text; for daily use, people consulted their memory.“ (van der Toorn, 2007, 23).
Die explizite Markierung durch Anführungszeichen (oder einem graphischen Äquivalent) war unbekannt, aber auch die Markierung durch Herkunftsangabe wurde nur selten gebraucht. Man kann daraus folgern, dass alle weiteren Verweise auf andere Texte andere Formen der Intertextualität darstellen, etwa Anspielungen. Man muss aber prüfen, ob biblische Autoren andere, heute nicht mehr gebräuchliche Formen der Markierung verwendeten, ob also mithin Textphänomene, die auf den ersten Blick als Anspielungen gelten könnten, von den historischen Autoren und ihren Adressaten als Zitate verstanden wurden.
Diese Unschärfe hat dazu geführt, dass eine Reihe von Autoren einen weiteren Begriff von Zitat verwenden. Ihnen gelten nicht wenige biblische Texte als Produkte früher Schriftgelehrsamkeit, geschrieben von Experten für Experten, die auch kleinste Übereinstimmungen zwischen Texten als Zitate des älteren im jüngeren wahrnehmen konnten (vgl. dazu etwa Levinson, 1998; Levinson, 2008; Otto, 2006b, insb. 258). Fischer (2005, 64-67) klassifiziert die Möglichkeiten der Aufnahme anderer Texte, unterscheidet aber begrifflich zwischen Zitat in einem engeren Sinne, wie er auch in diesem Artikel gebraucht wird, und anderen Formen der Abhängigkeit.
Weiter ist zu beachten, dass nicht nur dann ein Zitat vorliegt, wenn auch der Spendertext überliefert ist. Spendertexte können verloren gegangen sein oder niemals existiert haben. Im letzteren Fall spricht man von einem „fingierten Zitat“. Fingierte Zitate sind zwar historisch anders zu bewerten als nicht-fingierte, nicht aber literaturwissenschaftlich und auch nicht exegetisch, entscheidend ist hier die textuelle Markierung als Zitat, denn fiktionalen Charakter haben alle Zitate, insofern sie am fiktionalen Charakter des Textes, in dem sie stehen, Anteil haben (vgl. dazu Koenen, 1996, 29, der hier den Spezialfall der Psalmen diskutiert, dessen Schlussfolgerungen aber auf alle Zitate zutreffen).
1.2. Markierung
Um in dieser schwierigen Frage etwas Boden unter die Füße zu bekommen, soll die allgemeine Fragestellung der „Skalierung der Intertextualität“ (Pfister, 1985, 26-29) in Bezug auf die engere Fragestellung der Markierung von Zitaten bedacht werden. Auch wenn man mit der Möglichkeit rechnet, dass antike Autoren andere Formen der Markierung von Zitaten verwendet haben, so behält man doch sinnvollerweise die Unterscheidung bei, dass als Zitat nur ein Textphänomen zu gelten hat, das eine – wie auch immer geartete – Markierung aufweist, die es als Zitat kenntlich macht.
1.2.1. Referentialität (Differenz zwischen Text und Zitat)
Ein Autor kann ein Stück aus einem anderen Text so verwenden, dass er es nahtlos in die eigene Darstellung oder Argumentation einflicht (Erwähnung). Er kann aber das fremde Stück auch so verwenden, dass gerade die fremde Abkunft zum entscheidenden Merkmal der Darstellung oder Argumentation wird (Referenz). Soll die erste Verwendung als Zitat erkannt werden, muss die explizite Markierung sehr deutlich sein, bei der zweiten Verwendungweise ist eine ausdrückliche Markierung impliziert.
1.2.2. Kommunikativität (Deutlichkeit der Markierung)
Ein Autor kann die Tatsache, dass er gerade zitiert, durch die literarische Gestaltung seines Textes sehr deutlich machen. Die Markierung kann den eigentlichen Darstellungs- bzw. Argumentationszusammenhang unterbrechen, etwa durch eine Einleitungsformel, einen expliziten Quellenverweis oder durch die Markierung des Zitatendes. Der Hinweis auf das Zitat kann aber auch beiläufig erfolgen, im Extremfall sogar entfallen (modern: Plagiat) oder nur auf der fraglosen Verweiskraft einer allgemein bekannten, eindeutigen Formulierung basieren. Je weniger der eigentliche Darstellungs- oder Argumentationszusammenhang unterbrochen wird, desto schwieriger ist es, ein Zitat zu identifizieren.
1.2.3. Autoreflexivität (Thematisierung der Zitation)
Ein Autor kann nicht nur ausdrücklich auf einen anderen Text verweisen, er kann darüber hinaus die Tatsache, dass er jetzt gerade zitiert, zum Thema machen. Solche Zitate sind per definitionem eindeutig zu erkennen.
1.2.4. Strukturalität (Wörtlichkeit des Zitats)
Ein Autor kann den vorgegebenen Text wörtlich zitieren, oder weitgehend wörtlich mit geringfügigen Abweichungen oder aber „nur“ sinngemäß. Im Falle des wörtlichen Zitats kann eine weitere explizite Markierung knapp ausfallen oder – bei bekannten Texten („geflügelten Worten“) – ganz wegfallen. Je weiter ein Autor vom Originalwortlaut abweicht, wird die Zitathaftigkeit einer Textaufnahme immer geringer, es sei denn, er macht die Differenz durch explizite Markierung wett.
1.2.5. Selektivität (Erkennbarkeit des Zitats)
Autoren können in Form von Anspielungen größere Textzusammenhänge in den Blick nehmen, sie können aber auch gezielt eine Wortfolge aus einem anderen Text übernehmen. Nur in diesem letzteren Fall spricht man gewöhnlich von einem Zitat. Fehlt allerdings eine explizite Markierung im modernen Sinne, darf die Wortfolge eine Mindestlänge nicht unterschreiten, um noch eindeutig zugeordnet werden zu können.
1.2.6. Dialogizität (Bewertung des Zitats)
Ein Autor macht die Tatsache, dass er gerade zitiert dann besonders deutlich, wenn er sich vom Spendertext absetzt, ihn diskutiert oder in ein Gespräch mit ihm tritt.
2. Zitate in Erzähltexten
2.1. Intratextuelle Zitate
Im Vergleich zu modernen Texten ist das intratextuelle Zitat im Alten Testament sehr viel einfacher zu identifizieren und – je nach Maßgabe – auch häufiger als das intertextuelle. Die Art und Weise, wie intratextuell zitiert wird, kann zum Verständnis der oft schwierigen Sachlage bei intertextuellen Zitaten beitragen, daher setzt der folgende Durchgang mit einigen Beispielen für intratextuelle Zitate ein.
2.1.1. Ein Textakteur zitiert eine Rede eines anderen Textakteurs
1. Gen 3,1-3
Dass es sich um Zitate handelt, wird durch zwei Arten von Markierungen signalisiert, zum einen durch die expliziten Rückverweise auf die vorher ergangene Rede („hat Gott wirklich gesagt“ und „hat Gott gesagt“), zum andern durch die aufgenommenen Ausdrücke „Baum“, „nicht essen“, „sterben / sterblich werden“ usw. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Schlange falsch und die Frau nicht wörtlich zitiert. Solche Zitate kommen auf Grund der vielen Dialoge in den alttestamentlichen Erzähltexten sehr häufig vor und sie sind fast immer ebenso inexakt wie im Falle von Gen 3,3
2. Ex 19,23
3. 2Sam 1,16
4. 1Kön 1,13
5. 1Kön 22,12
2.1.2. Der Erzähler zitiert eine Rede eines Textakteurs
Gen 50,25
Das Zitat spielt zum einen mit der doppelten Bedeutung des Ausdrucks „Söhne Israels“ (in Gen 50,25
In 1Sam 8,5
2.1.3. Ein Textakteur zitiert einen Text des Erzählers
Dieser Fall ist interessant, da er in der bürgerlich-naturalistischen Erzählliteratur nicht vorkommt, denn ein Textakteur kann gar nicht wissen, wie der Erzähler formuliert. Anders dagegen etwa im Hiobbuch. Hiob wird gleich zu Beginn vom Erzähler folgendermaßen charakterisiert (Hi 1,1
2.2. Intertextuelle Zitate
2.2.1. Zitate aus anderen biblischen Büchern
1. 1Kön 14,6. Fälle von explizit markierter Zitation anderer Texte sind äußerst selten. 2Kön 14,6
„Aber die Söhne der Totschläger tötete er [König Amazja] nicht, wie es im Buch der Tora des Mose geschrieben steht (כַּכָּתוּב kakātûv), wo Jhwh geboten hat (לאמר lə’mor): ‚Nicht sollen Väter um der Söhne willen getötet werden, und Söhne sollen nicht um der Väter willen getötet werden, sondern jeder soll für seine eigene Sünde getötet werden.‘“
Das Zitat stammt tatsächlich fast wörtlich aus Dtn 24,16
Die Begründung eines Tuns oder eines Geschehens damit, dass es in der Tora so geschrieben steht, kommt nicht häufig, aber doch gelegentlich vor (Dtn 28,58
2Kön 14,6
2. Jos 8,30-31. Ebenfalls aus der Tora wird in Jos 8,30-31
„Damals baute Josua Jhwh, dem Gott Israels, einen Altar auf dem Berg Ebal, wie Mose, der Knecht Jhwh, den Israeliten geboten hatte, wie im Buch der Tora des Mose geschrieben steht (כַּכָּתוּב kakātûv), einen Altar von ganzen Steinen, über denen man kein Eisen geschwungen hatte. …“.
Die Versicherung, Josua habe gemäß der Mosetora gehandelt, bezieht den gesamten Vorgang Jos 8,30-35
Der Abschnitt Jos 8,30-35
3. Neh 13,1-2. Einschlägig ist weiter Neh 13,1-2
„An jenem Tag wurde aus dem Buch des Mose vor den Ohren des Volkes vorgelesen, und man fand darin geschrieben (כתוב בו), dass ein Ammoniter und ein Moabiter nicht kommen darf in die Versammlung Gottes für ewig. Denn sie waren den Israeliten nicht mit Brot und mit Wasser entgegengekommen und hatten Bileam gegen sie gedungen, sie zu verfluchen, aber unser Gott hatte den Fluch in Segen verwandelt. …“.
Die in Neh 13,2
Auch dieser Abschnitt wird gemeinhin zu den spätesten Stücken des → Nehemiabuches
4. Esr 9,10-12. Warum nur so selten explizit aus der Tora zitiert wird, mag vielleicht ein Ausschnitt aus dem Bußgebet Esras (Esr 9,10-12
„Und nun, unser Gott, was sollen wir nach alldem sagen? Denn wir haben deine Gebote verlassen, die du durch deine Knechte, die Propheten, geboten hast, indem du sprachst (לאמר lə’mor): ‚Das Land, in das ihr kommt, um es in Besitz zu nehmen, ist ein beflecktes Land wegen der Befleckung der Völker der Länder, wegen ihrer Gräuel, mit denen sie es vom einen Ende bis zum andern durch ihre Unreinheit erfüllt haben. So sollt ihr nun nicht eure Töchter ihren Söhnen geben und ihre Töchter nicht als Frauen für eure Söhne nehmen, und ihren Frieden und ihr Wohl sollt ihr bis in Ewigkeit nicht suchen, damit ihr stark werdet und das Gute des Landes esst und es auf eure Söhne vererbt bis in Ewigkeit.‘ …“.
Das einleitende לאמר lə’mor kennzeichnet das Folgende als Zitat. Literarisch handelt es sich aber um eine eigenständig gestaltete Blütenlese aus Dtn 7,1-4
Man argumentiert der Sache nach mit den Anliegen der Tora, beruft sich aber nicht auf sie als legitimierende Schrift und zitiert sie daher auch nicht wörtlich. Ein vergleichbares Vorgehen findet sich etwa in Jer 34,14
5. Jer 26,18. Der neben 2Kön 14,6
„Micha, der Moreschiter, hat in den Tagen Hiskias, des Königs von Juda, geweissagt und zum ganzen Volk Juda gesprochen (לאמר lə’mor): ‚So spricht Jhwh Zebaoth: Zion wird zum Acker gepflügt, und Jerusalem wird zu Trümmerhaufen und der Berg des Hauses zu Waldeshöhen.‘“
Die Übereinstimmung mit Mi 3,12
2.2.2. Der Sonderfall Deuteronomium
Ein Großteil des Buches → Deuteronomium
Als Beispiel sei Dtn 1,6-18
Insbesondere auf Reden, die im Zusammenhang mit der Gesetzgebung am Gottesberg ergangen sind, nimmt Mose in seiner Mahnrede wiederholt zitierend Bezug (Dtn 5,6-21
Der Dekalog Dtn 5,6-21
„4 Von Angesicht zu Angesicht hat Jhwh auf dem Berg mitten aus dem Feuer mit euch geredet – 5 ich stand zwischen Jhwh und euch zu jener Zeit, um euch das Wort Jhwhs zu verkünden, denn ihr fürchtetet euch vor dem Feuer und stieget nicht auf den Berg, – indem er sprach (לאמר lə’mor): ‚ …‘“.
Der literarische Status der Zitate im Deuteronomium ist unterschiedlich. Eindeutig intratextuell ist Dtn 31,2
2.2.3. Zitation von Dokumenten
Ein Grenzfall zwischen Inhaltsangabe und Zitation liegt vor, wenn der Erzähler den Inhalt von Dokumenten mitteilt. Handelt es sich um Requisiten der Erzählung, die – nach Maßgabe des Textes – nicht auf ein Dokument in der Welt der Adressaten referieren, spricht man wohl am besten von Inhaltsangabe. Beispiele sind: der Brief Davids an Joab (2Sam 11,15
Zwei Grenzfälle seien ausführlich erläutert. Nach dem Tod Sauls singt David ein Klagelied (2Sam 1,19-27
Auf ähnliche Art ist der sog. „Psalm Hiskias“ (Jes 38,10-20
In diesem Zusammenhang bietet es sich an, auf die Quellenhinweise des → Königebuches
Interessant ist, bei welchen Dokumenten eine Inhaltsangabe bzw. Zitation fehlt: beim Buch, das zur Zeit → Josias
Deutlich als Zitate zu verstehen sind dagegen die Dokumente, die in das → Esrabuch
Die Markierung als Zitat wird dadurch hervorgehoben, dass der Erzähler ausdrücklich auf ein Dokument verweist, in Esr 4,11
Verstärkt wird die Zitathaftigkeit der Briefe und Edikte zudem durch die aramäische Sprache, in der die Dokumente gehalten sind. Auf Esr 1,2-4
Das erzählerische Mittel der Einflechtung und Zitation von offiziellen Briefen in die Darstellung findet seine Fortsetzung in den → Makkabäerbüchern
3. Zitate in prophetischen Reden
Das Thema wurde von Hans Walter Wolff monographisch behandelt. Seine Schlussfolgerung sei als Motto vorangestellt: „Im Zitat wird das Wort des Menschen als Schuld vor Gott bloßgelegt.“ (Wolff, 1937, 112).
Es ist beileibe keine Selbstverständlichkeit, dass in Prophetenworten auch Worte von Zeitgenossen und anderen Sprechern zitiert werden, denn „Prophetenworte werden als Gotteswort erfahren und weitergegeben“ (Rendtorff, 2001, 229). Doch im Prophetenwort kommen Menschenwort und Gotteswort, Gesellschaftsanalyse und Zukunftsansage zusammen (Zenger, 2008, 426). Deutlich wird diese Zweiseitigkeit an der Zweiteilung des Prophetenwortes, die in vielen, vor allem älteren Prophetenworten zu finden ist. Ein erster Teil zeigt die Schuld der Adressaten auf, ein zweiter kündigt die von Gott herbeigeführten Unheilskonsequenzen an (vgl. dazu Westermann, 1964, 93-98; von Rad, 1981, 16-18). Im ersten Teil sind häufig Zitate der Angesprochenen, der zweite Teil wird häufig durch die Formel „So spricht Jhwh“ (כה אמר יהוה koh ’āmar Jhwh) eingeleitet, was für unsere Fragestellung von Belang ist.
3.1. Die Formel „so spricht Jhwh“
Die Formel „so spricht“ (כה אמר koh ’amar) kommt nicht nur in prophetischen Reden vor, dort aber gehäuft und wirkungsgeschichtlich weitreichend, sodass das Thema als Ganzes hier behandelt werden soll (→ Prophetische Redeformen
„Weil der alttestamentlichen Prophetie die Gewißheit zugrunde liegt, kein eigenes Wort zu erzeugen, sondern Botschaftsdienst zu verrichten, kann man ihre Rede im Kernstück ‚Zitat‘ nennen.“ (Wolff, 1937, 38)
Wolff bezeichnet die koh-’amar-Formel in diesem Zusammenhang als „Zitationsformel“. Träfe dies zu, müsste man jedes Prophetenwort, oder zumindest jedes mit der koh-’amar-Formel eingeleitete, als Zitat verstehen. Dieser Mehrheitsauffassung stand und steht eine Minderheitsmeinung entgegen, die sowohl den Botencharakter der alttestamentlichen Prophetie als auch die Zitationsfunktion der koh-’amar-Formel in Frage stellt. Umfassend bearbeitet wurde das Problem von Wagner, 2004, Forschungsüberblick 25-62, an den sich die folgende Darstellung hält.
Danach ist – für die vorliegende Fragestellung aufs Äußerste komprimiert – zu unterscheiden zwischen der einfachen koh-’amar-Formel (כה אמר) „so spricht N.N.: …“ und der erweiterten ki-koh-’amar-Formel כי כה אמר … „denn so hat N.N. gesprochen: …“. Die erste Variante, die sehr häufig in Prophetenworten anzutreffen ist, markiert das Folgende jedoch nicht als Zitat, sondern dient zunächst der Identifikation desjenigen, dessen Worte gerade verlauten. Zudem hat die Formel proklamatorische Funktion, d.h. beim Aussprechen der Worte durch den Sprecher spricht zugleich der in der koh-’amar-Formel Genannte (deklarativer Sprechakt). Der Vorgang ähnelt dem der amtlichen Verkündigung eines königlichen Erlasses, zum Vergleich kann man etwa Esr 1,2
Im Unterschied dazu leitet die erweiterte ki-koh-’amar-Formel – und nur diese – tatsächlich Zitate ein, und dies nicht nur in Prophetenworten, sondern auch in Erzählzusammenhängen. Als Beispiel sei Am 7,10-11
Und Amazja, der Priester von Bethel, sandte zu Jerobeam, dem König von Israel, und ließ sagen (לאמר lə’mor): „Amos betreibt eine Verschwörung gegen dich mitten im Haus Israel. Das Land kann all seine Worte nicht ertragen. Denn so hat Amos gesprochen (כי־כה אמר עמוס): ‚Durchs Schwert wird Jerobeam sterben, und Israel wird ganz bestimmt aus seinem Land gefangen wegziehen.‘“
Es ist ganz offensichtlich, dass hier keine Botenformel vorliegt, denn von Amos stammt der Auftrag, Jerobeam zu informieren, nicht. Der Bote vermeldet vielmehr im Auftrag des → Amazja
Die Zitatfunktion der ki-koh-’amar-Formel findet auch in Prophetenworten Verwendung. Am 5,4
Jer 4,3
Dieses und weitere Beispiele für die Verwendung der ki-koh-’amar-Formel bei Wagner, 2004, 219-244.
3.2. Buchtypische Verwendungen des Stilmittels „Zitat“
Vorauszuschicken ist, dass das Stilmittel des Zitats in Redetexten zu unterscheiden ist von dem des Sprecherwechsels. Letzteres kommt in den Prophetenbüchern, aber auch in den Psalmen häufig vor, und ist Ausdruck des dramatischen Charakters dieser Texte (Utzschneider, 2005, 11-16). Beim Zitat liegt gerade kein Sprecherwechsel vor, vielmehr signalisiert der Sprecher, dass es jetzt er selbst ist, der etwas sagt, was zuvor ein anderer oder andere gesagt haben. Sprecherwechsel sind oft ohne Einleitung, Zitate werden dagegen durch die ki-koh-’amar-Formel und andere Sprechaktbezeichner markiert.
Was für das Amosbuch generell gilt, dass es für die prophetischen Redeformen schulbildend war (zweiteiliges Gerichtswort, Wehruf), gilt auch für den Einsatz des Stilmittels des Zitats. Am 4,1-3
„Hört dies Wort, ihr Kühe Baschans auf dem Berg Samarias, die die Geringen unterdrücken, / die Armen schinden, und zu ihren Herren sagen: / ‚Bring her, dass wir trinken!‘ …“.
Im ersten, anklagenden Teil des Wortes zitiert Amos die Protzerei der Frauen. Die direkte Rede verstärkt den Eindruck der Verwerflichkeit solchen Tuns. Darauf folgt die hier als Schwurrede gestaltete Gerichtsankündigung. Ein ähnliches Zitat findet sich in Am 6,13
Das oben bereits besprochene Traditionszitat Am 5,4
Im Hoseabuch spielt das Stilmittel des Zitats keine Rolle, sehr wohl dagegen im Michabuch. Ähnlich wie Am 5,14
Im Michabuch wird in Mi 3,5
Für Jesaja ist charakteristisch, dass bei ihm das Zitat der Äußerung und die eigene Bewertung desselben in eins fallen. Die Äußerungen der Jerusalemer Kultpropheten gibt er so wieder (Jes 28,10
Deuterojesaja und Tritojesaja greifen nur vereinzelt zum Stilmittel des Zitats, solche von Gegnern gibt es gar nicht. Stattdessen werden zweimal Stimmen zitiert, die an der deuterojesajanischen Trostbotschaft zweifeln, einmal das Volk (Jes 40,27
Weiter ist das zweite → Gottesknechtslied
Darüber hinaus können Jes 45,19
In Jer 7,4
Solche Zitate der Gegner Jeremias, die anders als bei Jesaja tatsächlich deren Standpunkt zum Ausdruck bringen, sind typisch für Jeremia. So lautet der Vorwurf in Jer 8,8
Im Ezechielbuch dient das Zitat in besonderer Weise der Auseinandersetzung des in der babylonischen Deportation wirkenden Propheten mit den im Land Juda Zurückgebliebenen. Deren Haltung und Selbstverständnis werden mehrfach in Form von Zitaten in das Gotteswort eingeflochten (Ez 8,12
Notierenswerte Beispiele für Zitate gibt es wieder im Sacharjabuch. Der Autor von Sach 1,1-6
Dient in Sach 1,4
4. Zitate in den Psalmen und Threni
Wie die Prophetensprüche so sind auch die Psalmen Reden und weisen die typischen Gestaltungsmittel wie Sprecherwechsel, Adressatenwechsel und Zitation auf. Letzteres findet sich in den Psalmen freilich bedeutend seltener als in den Prophetenbüchern, sodass die folgende Darstellung auf eine gewisse Vollständigkeit hoffen darf.
Zitiert werden neben Worten von menschlichen Zeitgenossen des Psalmbeters auch Gottesworte. Das ist erklärungsbedürftig, weil Psalmen eigentlich ganz überwiegend Gebete an Gott sind: „Die zitierten Gottesworte haben als Argumentationsbasis eine dienende Funktion“ (Koenen, 1996, 71, zum Ganzen 29-66). Dabei sind solche Gottesworte, die in die Gegenwart des Psalmbeters hineinsprechen – es handelt sich um Fälle von Sprecherwechsel, die hier unberücksichtigt bleiben können – zu unterscheiden von denen, die Gott früher gesprochen hat und jetzt zitiert werden.
Ein Teil der zitierten Gottesworte ruft Zusagen an König David oder an die Davididen in Erinnerung (Ps 2,7-9
Ein anderer Teil zitiert Heilszusagen an das Volk (Ps 60,8-10
Bisweilen ist nicht eindeutig, ob ein Zitat vorliegt oder nicht, so etwa im Falle der Gottesrede Ps 82,2-7
Ps 90,3
Insgesamt fällt auf, dass ein überproportional großer Anteil der zitierten Gottesworte in den Königspsalmen zu finden ist. Herrschaft kann im Alten Orient und im Alten Israel grundsätzlich nur von Gott legitimiert werden.
Die aus Menschenmund stammenden Zitate sind überwiegend Äußerungen von Gegnern des Psalmbeters und dienen damit der Profilierung der Kontroverse. Man kann diese Zitate unterteilen in solche, die als Teil der Feindklage den Gegnern des Beters in den Mund gelegt werden (Ps 3,3
Die Klagelieder zeigen im Wesentlichen einen ähnlichen Gebrauch des Zitats. Klgl 2,15
5. Zitate im Predigerbuch
Ein Problem ganz eigener Art stellt das → Predigerbuch
Im Falle von Pred 7,1-14
Dennoch scheint die Schwierigkeit, Zitat und Kommentar bei Kohelet eindeutig zu trennen, nicht nur an der kulturellen Distanz zwischen damals und heute zu liegen, sondern zumindest in einigen Teilen beabsichtigt zu sein. Kohelet ziele auf „Mehrdeutigkeit …, um die Leser zu einer mehrfachen Lektüre sowie zu einer eigenen Urteilsbildung zu provozieren“ (Krüger, 2000, 37; Schwienhorst-Schönberger, 2004, 68-69).
Als Beispiel für die Schwierigkeiten bei der Identifikation von Zitaten sei Pred 7,26
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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