Deutsche Bibelgesellschaft

Arkandisziplin

(erstellt: Dezember 2010)

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1. Herkunft und Bedeutung des Begriffs

Der Begriff „Arkandisziplin“ (disciplina arcani) taucht erstmals im Kontext des nachreformatorischen kontrovers-konfessionellen Zeitalters in dem Buch „De usu patrum ad ea definienda religionis capita, quae sunt hodie controversa“(Genf 1656) von Jean Daillé auf. Er bezeichnet eine in der Antike verbreitete Forderung nach der Geheimhaltung von bestimmen Riten, Gegenständen und Bekenntnissen einer religiösen Gemeinschaft. Diese Geheimhaltung dient der Abgrenzung einer Gruppe nach außen und dem engeren Zusammenhalt nach innen.

2. Sitz im Leben

Der eigentliche Sitz im Leben dürften die antiken → Mysterienkulte sein. Benannt nach dem griechischen Begriff „Mysterion“ (→ Geheimnis) zeichnen sich diese Religionsformen durch ein geschlossenes System von Weltdeutung aus, in das ein Mensch durch einen speziellen Initiationsritus eingeweiht werden muss. Dieser Weiheritus bedarf einer längeren Vorlaufzeit und wird durch die Gemeinschaft dem Anwärter nach bestimmten Kriterien zuerkannt. Ein prägnantes Beispiel, wie eine solche Initiation abläuft, erzählt Apuleius von Madaura, ein antiker Schriftsteller des 2. Jh.s n. Chr., in seinem Buch „Metamorphosen“. Der Erzähler schildert am Ende des Romans, wie er in den Mysterienkult der Isis aufgenommen wird:

„Im Dunkel der Nacht offenbarte [die Göttin Isis] mir: Er sei gekommen, der Tag, an dem ich des allerhöchsten Glückes sollte teilhaftig werden! Zugleich bestimmte sie ihren Hohenpriester Mithras selbst zu meinem Mystagogen (Einführer in die heiligen Geheimnisse).

Mit feierlichem Gebrauche verrichtete er das Amt der Eröffnung, und nach Vollendung des Morgenopfers holte er Bücher aus dem Allerheiligsten hervor, welche … vor dem Verständnis jedes vorwitzigen Unheiligen gesichert waren. Hieraus las er mir alles vor, was ich zur eigentlichen Einweihung vorzubereiten und anzuschaffen hätte.

Wie es endlich nach des Hohenpriesters Angabe die Zeit erforderte, so führte er mich in das nächste Bad. Zuerst musste ich mich nach gewöhnlicher Weise baden, darauf hielt er ein Gebet über mich, besprengte mich über und über mit Weihwasser und reinigte mich.

In den Tempel zurückgekehrt, ließ er mich zu den Füßen der Göttin hintreten, und nachdem er mir insgeheim gewisse Aufträge erteilt hatte, die ich zu verschweigen habe, so gebot er mir endlich ganz laut, daß es alle Anwesenden hören konnten: zehn Tage lang der Werke der Venus mich zu enthalten und weder Fleischspeisen zu essen noch Wein zu trinken.

Ich erfüllte diese geheiligten Vorschriften mit aller Gewissenhaftigkeit.

Nun war der Tag der Einweihung da. Ich wurde mit einem groben, leinenen Gewande angetan, und der Hohepriester führte mich bei der Hand in das innerste Heiligtum des Tempels ein.

Vielleicht fragst du hier neugierig, geneigter Leser, was nun gesprochen und vorgenommen worden! – Wie gern wollte ich’s sagen, wenn ich es sagen dürfte! Wie heilig solltest du es erfahren, wenn es dir zu hören erlaubt wäre! Allein Zunge und Ohr würden gleich hart für den Frevel zu büßen haben!

Doch es möchte dir schaden, wenn ich deine fromme Neugier so auf die Folter spannte; so höre denn und – glaube, traue! Es ist wahrhaftig.

Ich ging bis zur Grenzscheide zwischen Leben und Tod. Ich betrat Proserpinens Schwelle, und nachdem ich durch alle Elemente gefahren, kehrte ich wiederum zurück. Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Lichte leuchten; ich schaute die Unter- und Obergötter von Angesicht zu Angesicht und betete sie in der Nähe an.

Siehe! Nun hast du alles gehört: aber auch verstanden? Unmöglich! So vernimm wenigstens, was ich ohne Sünde dir Laien verständlich machen kann!“ (Apuleius, XI,20ff; Übersetzung nach: http://www.symbolon.de/downtxt/esel.htm; gekürzt).

Deutlich wird dabei, dass die genauen Abläufe, die verwendeten Hilfsmittel und die gesprochenen Worte dem Außenstehenden nicht mitgeteilt werden dürfen. Der „Myste“ („Eingeweihte“) darf bei Strafandrohung nicht das verraten, was er im Raum der Gemeinschaft erfahren hat. So gewinnt die Gemeinschaft durch die eigene Darstellung auf der einen Seite eine gewisse Faszination nach außen, auf der anderen Seite aber zugleich einen nach innen wirkenden Effekt, der sie zusammenhält.

3. Jüdischer Horizont

Im Kontext des antiken Judentums beschreibt → Flavius Josephus, ein jüdischer Geschichtsschreiber des 1. Jh.s n. Chr., in seinem Werk „Geschichte des jüdischen Krieges“ (Bellum Iudaicum) die Gruppierung („Sekte“) der → Essener ähnlich einem antiken Mysterienkult.

„137 Bewirbt sich jemand um die Aufnahme in die Sekte, so wird ihm der Eintritt nicht sofort gestattet, sondern er muss noch ein ganzes Jahr draußen bleiben…. 138 Hat er dann im Verlaufe dieser Zeit seine Enthaltsamkeit bewährt, so nähert er sich dem Essenerleben um eine weitere Stufe, indem er an dem heiligen Bade der Reinigungszeremonie teilnehmen darf. 139 Bevor er jedoch vom gemeinsamen Tische essen darf, muss er sich zuerst durch schauerliche Eidschwüre vor ihnen verpflichten, vor allem der Gottheit die gebührende Verehrung zu erweisen. 141 Jeder solle stets die Wahrheit lieben und entschlossen sein, den Lügnern den Mund zu stopfen; seine Hände, gelobt er, rein von gestohlenem Gute, rein auch die Seele von schmutzigem Gewinn zu bewahren, vor den Anhängern seiner Sekte kein Geheimnis zu haben und umgekehrt an andere keine internen Angelegenheiten zu verraten, auch wenn man ihn zu Tode foltern würde. 142 Außerdem muss er noch schwören, sämtliche Lehren der Sekte ohne Entstellung genau so, wie er sie selbst überkommen, überliefern zu wollen, sich auch jeder Verstümmlung derselben zu enthalten, sowie die Bücher der Sekte und die Namen der Engel sorgfältig zu hüten. Mit solchen Eidschwüren fesseln sie nun die Eintretenden vollständig an die Sekte. 143 Wer bei einem bedeutenden Vergehen ertappt worden ist, wird aus der Genossenschaft gejagt, und muss gar oft der Ausgeschlossene auf die erbärmlichste Weise sterben und verderben.“ (Josephus, Bellum Iudaicum II, 139-143; Übersetzung: Kohout; gekürzt)

Inwieweit die Schilderung des Josephus historischer Realität entspricht, ist in den Details umstritten. Interesse verdient aber vor allem die Betonung, dass nach innen keine Geheimnisse zu bewahren sind, nach außen hingegen alle Vorgänge, die sich innerhalb der Gruppe abspielen, geheim zu halten sind. Von daher legt sich analog zum Isis-Kult die Funktion nahe, die Identität der Gruppe zu stärken, indem sie nach außen abgeschottet wird. Theologisch bedeutet dies die Versicherung, dass die Gruppe als solche sich rein halten kann und so dem göttlichen Anliegen entspricht, heilig zu sein.

Von daher beinhaltet die Geheimhaltung nicht nur eine soziale Schutzfunktion der Gruppe, sondern auch eine soteriologische Dimension: Nur wenn die Gruppe sich nicht verunreinigt durch fremde Elemente, ist sie sich der Erwählung Gottes gewiss.

Sicher sollte bei der Beurteilung des Realitätsgehalts Vorsicht geübt werden, doch zeigt der Bericht deutlich, dass im Rahmen verschiedener Gruppierungen innerhalb des Judentums eine mehr oder minder ausgeprägte Tendenz zur Geheimhaltung verzeichnet werden kann. Dies lässt sich nicht nur durch weitere Hinweise aus dem Werk des Josephus (Contra Apionem II,7,82), sondern auch durch spätere rabbinische Texte belegen (bQid 71a; mMeg 4,10). Besonders deutlich kennt die apokalyptische Tradition den Befehl, Offenbarungen geheim zu halten, um sie entweder zu dem von Gott gewollten Zeitpunkt zu veröffentlichen oder nur einer bestimmten Gruppe zugänglich zu machen. So befiehlt Gott seinem Schreiber Esra:

„44 So wurden in den vierzig Tagen niedergeschrieben vierundneunzig Bücher. 45 Als aber die vierzig Tage voll waren, da sprach der Höchste zu mir also: Die vierundzwanzig Bücher, die du zuerst geschrieben, sollst du veröffentlichen, den Würdigen und Unwürdigen zum Lesen; 46 die letzten siebzig aber sollst du zurückhalten und nur den Weisen deines Volks übergeben. 47 Denn in ihnen fließt der Born der Einsicht, der Quell der Weisheit, der Strom der Wissenschaft.“ (4. Esra 14,44-47; Übersetzung: Gunkel)

Neben die soziologische und theologische Funktion der Geheimhaltung tritt im Rahmen der → Apokalyptik eine weitere Funktion. Da die Apokalyptik darauf angewiesen ist, ihre „neuen“ Offenbarungen mit der Autorität „alter“ jüdischer Heroen auszustatten, liegt die Frage auf der Hand, warum diese „alten“ Lehren erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich der Gegenwart der wirklichen Autoren, bekannt werden. Das Gebot, gewisse Lehren geheim zu halten und bis zu ihrer „Veröffentlichung“ zu verstecken, beantwortet diese Frage mit dem Willen Gottes. So wird für den Leser verständlich, warum z.B. → Mose sein Werk nicht gleich vollständig bekannt gemacht, sondern es zunächst geheim gehalten hat (Assumptio Mosis 1,16-18; 10,11-13): die Zeit der Bekanntmachung war noch nicht gekommen. Von daher ist das Gebot zur Geheimhaltung in apokalyptischen Texten ein Stilmerkmal, das die Autorität des Werkes sichert.

4. Christlicher Horizont

Da die Zeit der ersten Christen keine allgemeine Verfolgung kennt, fällt die Pflicht zur Geheimhaltung der eigenen Lehre zunächst weg. Streng genommen lässt sich eine den Mysterienkulten vergleichbare Verpflichtung zur Geheimhaltung und deren eventueller Ahndung im christlichen Kontext nicht belegen. Das → Markusevangelium bedient sich verschiedener Schweigegebote lediglich als Stilmittel im Rahmen des → Messiasgeheimnisses (Mk 3,12; u.ö.). Erst in der frühen Kirche finden sich Gebote zur Geheimhaltung von Riten und Texten im christlichen Horizont. Erstmals belegt dürfte dies in dem traditionell Hippolyt von Rom zugeschriebenen Werk „Traditio Apostolica“ sein, einer Kirchenordnung aus dem 3. Jh. n. Chr. Hier wird im Zusammenhang von → Taufe (Traditio Apostolica 21) und → Abendmahl (Traditio Apostolica 37) ausdrücklich gesagt, dass kein Ungläubiger davon Kenntnis haben soll bzw. das Brot des Abendmahls essen darf. Allerdings scheint hier eher an eine fromme Scheu vor dem → Sakrament als eine echte Geheimlehre gedacht zu sein. An den Schutz von Gemeindegliedern vor behördlichem Zugriff scheint die Bestimmung der wahrscheinlich wenig älteren „Didaskalia apostolorum“, ebenfalls eine Gemeindeordnung aus dem 3. Jh. n. Chr., zu denken, wenn sie verbietet, im → Gebet die Namen von Wohltätern zu nennen. → Irenäus von Lyon, ein bedeutender Theologe des 2. Jh.s n. Chr., erkennt in seinem Werk „Gegen die Heiden“ in der Offenheit der christlichen Lehre geradezu ein Merkmal der wahren Lehre: „Die Lehre der Apostel ist öffentlich, fest und vollständig, und sie lehren nicht manches im Verborgenen und anderes in der Öffentlichkeit.“ (Adversus haereses III,15,1) So verteidigt er das wahre Christentum gegen gnostische Strömungen des Christentums, die sich auf Geheimlehren berufen.

Während die frühe Phase der Kirchengeschichte also prinzipiell einen offenen Umgang mit ihrer Umwelt pflegt und lediglich aus praktischen Gründen nicht immer alles für jeden und zu jeder Zeit zugänglich macht, lässt sich im weiteren Gang der Geschichte eine klare Abgrenzung zwischen Christen und ihrer Umwelt beobachten. Cyrill von Jerusalem, im 4. Jh. n. Chr. Bischof von Jerusalem, lehrt in seinen Katechesen, dass vor Heiden nicht über das Mysterium der → Trinität geredet werden darf (Kat. 6,29) Ihm pflichtet → Athanasius von Alexandrien, im 4. Jh. n. Chr. Bischof von Alexandrien, in seiner Verteidigungsschrift gegen die Sekte der Arianer (Apol I,11) bei: „Denn man muss nicht die Geheimnisse den Uneingeweihten zum Besten geben, damit nicht die unwissenden Heiden darüber lachen, den Katechumenen aber, indem sie zur Neugierde gereizt werden, Ärgernis gegeben werde.“ (Übersetzung: Fisch) Die christlichen Geheimnisse, gemeint sein dürften damit vor allem die Sakramente und die theologischen Lehren, sollen also nicht nach außen dringen, damit die Gemeinde sich keinen Spott zuzieht und die Taufbewerber sich nicht ärgern. Offensichtlich ist damit also eine längere Taufvorbereitung verbunden, die eine schrittweise Einführung in das Christentum einübt und so zur Taufe hinführt.

5. Zusammenfassung

Eine christliche Arkandisziplin im Sinne antiker Mysterienkulte dürfte es nicht gegeben haben. Dort, wo sich Belege dafür finden lassen, dass Christen ihre Lehre nicht nach außen tragen sollen, geht es nicht um Geheimhaltung um der Gottheit und ihrer exklusiven Geheimnisse willen, sondern in erster Linie um praktische Überlegungen, wie z.B. den Schutz der Gemeinde vor Verfolgung oder Spott. Ihrem Prinzip nach ist die Kirche jedenfalls von Anfang an eine offene Kirche, die sich der Welt zuwendet (Mt 28,18).

Aufschlussreich ist die Frage nach einer christlichen Arkandisziplin vor allem dann, wenn das Interesse gesehen wird, das damit in den nachreformatorischen Streitigkeiten verbunden ist. Wenn es ein Geheimwissen gibt, das die Apostel nicht in der Schrift niedergelegt haben, sondern nur ihren Nachfolgern mündlich überliefert haben, dann kann aus der Tradition der Kirche Wissen überliefert werden, das erst in der jeweiligen Gegenwart bekannt gemacht werden wird. Ein Sola Scriptura Prinzip wäre damit hinfällig, da die Überlieferung der → Apostel nicht vollständig in „ihre“ Schriften eingegangen wäre und nur die apostolische Sukzession die volle Lehre bewahrt hätte. Von daher ist die Motivation der Frage eher konfessioneller Natur.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Perler, O., 1950, Art. Arkandisziplin, RAC 1, Stuttgart, 667-676
  • Powell, D., 1979, Art. Arkandisziplin, in: TRE 4, Berlin / New York, 1-8

2. Übersetzungen

  • P. Kohout,1901, Jüdischer Krieg, aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Anhang von ausführlichen Anmerkungen versehen, Linz
  • H. Gunkel, 1900 Das 4. Buch Esra, in: E. Kautzsch (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments II, Tübingen, Nachdr. Hildesheim 1975, 331-401
  • Fisch, J., 1875, Ausgewählte Schriften des Heiligen Athanasius, Erzbischofs von Alexandria und Kirchenlehrers II (BKV, 1. Reihe, Bd. 29), Kempten
  • http://www.symbolon.de/downtxt/esel.htm

3. Weitere Literatur

  • Kloft, H., 2. Aufl. 2003, Mysterienkulte der Antike: Götter – Menschen – Rituale, München
  • Salzmann, J.C., 1994, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten (WUNT II 59), Tübingen

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