Besessenheit (NT)
(erstellt: November 2009; letzte Änderung: Juli 2015)
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1. Allgemeines
Der Begriff „Besessenheit“ wird im wissenschaftlichen wie auch im alltäglichen Sprachgebrauch für eine Vielfalt von Phänomenen verwendet. Eine in jeder Hinsicht konsensfähige definitorische Bestimmung und Erklärung existiert nicht. Dies liegt u.a. darin begründet, dass Beschreibungen und Deutungen bestimmter menschlicher Verhaltensformen und Bewusstseinszustände als Besessenheit in hohem Maße kulturell determiniert und dementsprechend variabel sind. Im Allgemeinen markiert Besessenheit aber die Beeinflussung eines menschlichen Wesens durch externe Kräfte oder Entitäten, die mächtiger sind als dieses selbst. Dabei kann es sich um Ahnen, Götter
In der human-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung wurden im Laufe der Zeit zahlreiche, sich z.T. überschneidende und in vielerlei Hinsicht kontrovers diskutierte Typologien von Besessenheitsphänomenen entwickelt. T.K. Oesterreich unterschied zwischen somnambuler Besessenheit, bei der die Besessenen das Bewusstsein ihrer gewöhnlichen Persönlichkeit verlieren, und luzider Besessenheit, bei der dies nicht der Fall ist, ferner zwischen unfreiwilliger, spontaner Besessenheit und absichtlich erzeugter, gewollter Besessenheit. I.M. Lewis führte die vielbeachtete Differenzierung zwischen peripherer und zentraler Besessenheit ein. Bei der erstgenannten Variante handelt es sich um eine Form des indirekten Widerstands unterdrückter Menschen bzw. Gruppen, die von marginalen, der herrschenden Moral entgegenstehenden Geistern geprägt ist. Die zweitgenannte Variante begegnet dagegen im Rahmen offizieller Verehrungen von Göttern oder Ahnen, die die öffentliche Moral verkörpern und stützen. R. Firth unterschied drei Ausformungen von Besessenheit, nämlich Geistbesessenheit im engeren Sinn, worunter bei ihm jegliches abnorme Verhalten fällt, das auf die Kontrolle und evtl. Übermächtigung durch ein Geistwesen zurückgeführt wird, ferner Geistmediumismus, d.h. die Nutzbarmachung des Verhaltens einer besessenen Person zur Kommunikation mit Wesen aus der Geistwelt, und zum dritten Schamanismus, bei dem eine Person Geistwesen kontrolliert und diese Kontrolle in sozial anerkannter Weise gebraucht. Weitere Differenzierungen sind in der Diskussion. Kontrovers debattiert wird insbesondere die genaue Verhältnisbestimmung von Trance, Ekstase
Was den neutestamentlichen Befund anbelangt, empfiehlt es sich, zwischen dämonischer Besessenheit und Geistbesessenheit zu unterscheiden. Dämonische Besessenheit wird im Neuen Testament selbstredend negativ bewertet und in konkreten Fällen mittels exorzistischer Praktiken bekämpft. Die Einwohnung des göttlichen Geistes bindet indes die Existenz und das Wirken Jesu wie auch das Leben und Handeln der Christusgläubigen auf je unterschiedliche Weise in den göttlichen Heilswillen
2. Dämonische Besessenheit
Mehr oder weniger ausführliche Schilderungen dämonischer Besessenheit finden sich in den Exorzismusberichten der synoptischen Jesusüberlieferung. Darin treten mehrere besessene Personen in Erscheinung: ein Besucher der Synagoge zu Kapernaum (Mk 1,21-28
Vor diesem Hintergrund lassen sich u.a. folgende Charakteristika der neutestamentlichen Thematisierung dämonischer Besessenheit festhalten: (1) Konkrete Besessenheit wird als gewalttätiges Agieren und somatisches Leiden geschildert. Dies gilt namentlich für die beiden exorzistischen Großportraits in Mk 5,1-20
Die Interpretation der konkreten Fälle dämonischer Besessenheit ist umstritten. Es liegen medizinisch-psychologische, sozialgeschichtliche, kultur-psychologische und performanztheoretische Deutungsansätze vor. Bisweilen werden sie gekoppelt. Klassisch ist die These, es handle sich um seelische Erkrankungen. Im Näheren ist die Rede von Psychosen und dem Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeit (Davies, 89; Weber, 30). Sozialgeschichtliche Studien weisen der dämonischen Besessenheit eine eminent politische Bedeutung zu. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten, von I.M. Lewis entwickelten Unterscheidung zwischen peripherer und zentraler Besessenheit erblickt man in den Besessenheitsanfällen ein symbolisches politisches Protestverhalten gegen die damals herrschende koloniale Unterdrückung seitens der Römer bzw. als subversive Praxis der sozial Marginalisierten (Horsley; Hollenbach; Crossan, 121ff). Einige Exegeten beleuchten die neutestamentlichen Besessenheitsschilderungen mit Hilfe der kulturpsychologischen, von E. Bourguignon ausgearbeiteten und F.D. Goodman fortgeführten Theorie veränderter Bewusstseinszustände (Davies, 25ff; Crossan, 119ff). Chr. Strecker deutet sie unter Rückgriff auf einschlägige ethnologische und kulturwissenschaftliche Studien als Performanzen. Besessenheit sei ein performatives Interaktionsgeschehen, das einem geprägten kulturellen Muster aufruhe. Die Besessenen aktivierten in dramatischer Form coram publico jenes Rollenmuster, das in ihrer Gesellschaft als Indiz für Besessenheit galt. Die performance des Musters bringe dabei im Sinne eines performativen effet de réel die dämonische Wirklichkeit hervor.
3. Geistbesessenheit
Von Gott gesandte Engelwesen ergreifen im Neuen Testament nicht Besitz von den Menschen, sondern begegnen diesen von Angesicht zu Angesicht oder im Traum (Mt 1,20
Es lässt sich freilich darüber streiten, ob, inwiefern und inwieweit die Rede von „Besessenheit“ mit Blick auf die neutestamentlichen Geistaussagen und andere Ausführungen hilfreich und angemessen ist. G. Theißen spricht allgemeiner von religiösen Erfahrungen. Die Gestalt und Bedeutung dieser urchristlichen Geisterfahrungen fasst er wie folgt zusammen: „Pneuma begegnet in zwei Varianten: als ständige Ausstattung aller Christen und als Einbruch einer irrationalen Macht in das Leben, d.h. als normal- und grenzreligiöses Phänomen. Der Begriff hat drei Dimensionen: Er bezeichnet eine Kontaktaufnahme mit Gott, die durch Gott selbst ermöglicht wird. Er ist die Kraft der Gemeinschaft, durch die sich Menschen so eng verbunden fühlen wie Glieder eines Leibes. Und er ist Motivation zu einem neuen ethischen Leben.“ (541). Andere verwenden indes in unterschiedlichen Zusammenhängen bewusst den Begriff „Besessenheit“. Die gilt zumal für einige jüngere Beiträge der Jesus- und Paulusforschung. So wird postuliert, Jesus von Nazareth sei von seiner Umwelt im konkreten Sinn als Besessener wahrgenommen worden, der zumal bei seiner exorzistischen Praxis in einem veränderten Bewusstseinszustand agierte (Crossan, 125ff; Davies, 93ff). Erschlossen wird dies u.a. aus den im Neuen Testament bezeugten Vorwürfen, er treibe die bösen Geister mit dem Beelzebul aus (Mk 3,22
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