Deutsche Bibelgesellschaft

Brief / Briefformular (NT)

(erstellt: März 2009)

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1. Vorkommen im Neuen Testament

Briefe waren in der antiken Welt ein beliebtes Kommunikationsmittel. Die rege Verwendung von Briefen schlägt sich auch im Neuen Testament nieder. Von den 27 Schriften des Neuen Testaments sind 21 selbständige Briefe. Der briefliche Charakter der → Apokalypse des Johannes ist umstritten, in Apk 1,4f findet sich aber ein typisches Briefpräskript (s.u.). Briefe stellen eine Form der schriftlichen Kommunikation dar, bei der die Kommunikationspartner räumlich und zeitlich getrennt sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ein oder mehrere Absender einen oder mehrere Adressaten in einer Angelegenheit direkt anreden, die beide Seiten betrifft. Neutestamentliche Briefe richten sich z.T. an einen weiteren (oder einen anderen; s.u. 6.) Adressatenkreis als den explizit genannten.

1.1. Gebräuchliche Gruppierungen

Die neutestamentlichen Briefe werden nach unterschiedlichen Kriterien gruppiert: Wenn von den paulinischen Briefen (Röm, 1-2Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1-2Thess, 1-2Tim, Tit, Phlm) oder den Johannesbriefen (1-3Joh) die Rede ist, richtet sich diese Gruppierung nach den (angeblichen) Verfassern, die „katholischen“ Briefe (1-2Petr, 1-3Joh, Jak, Jud) heißen so, weil sie „allgemein“ (= katholisch) im Sinne von „an alle Gemeinden gerichtet“ sind (vgl. 2Petr 1,1), die „Pastoralbriefe“ (1-2Tim, Tit) geben ein zentrales Thema der Schreiben an: Sie beschäftigen sich mit den Aufgaben der Gemeindeleiter (lateinisch: pastores). Zwei neutestamentliche Briefe geben explizit keinen Verfasser an (Hebr, 1Joh).

1.2. Selbständige und unselbständige Briefe

Die 21 (22) Briefe des Neuen Testaments präsentieren sich als selbständige Schreiben. Bei einigen Briefen (insbesondere beim 2Kor, vielleicht auch beim Phil, 1Kor) diskutiert die Forschung, ob sie aus mehreren ursprünglich selbständigen Schreiben zusammengesetzt sind. Selbständige Briefe können andere literarische Formen enthalten, z.B. Hymnen, Glaubensbekenntnisse, Predigten, Gebete, Tugend- und Lasterkataloge. Umgekehrt enthalten die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes (unselbständige) Briefe („Aposteldekret“ in Apg 15,23-29; „Sendschreiben“ in Apk 2-3).

2. Abfassung

2.1. Schreibmaterialien

Vorrangiges Schreibmaterial für längere antike – und auch neutestamentliche – Briefe war → Papyrus. Papyrus wurde aus der Papyrusstaude gewonnen, die vor allem im Nildelta gedieh. Verwendet wurde das Mark aus dem Inneren des Stengels. Papyrus ist also ein organischer Beschreibstoff und damit anfällig für Feuchtigkeit. Deshalb haben sich fast nur Papyri im trockenen Wüstenklima Ägyptens erhalten. Die verwendete Tinte bestand v.a. aus Ruß, der mit Wasser und Klebemittel verrührt wurde. Geschrieben wurde mit einem Schreibrohr. Kürzere Briefe wurden nach Fertigstellung zusammengerollt oder gefaltet. Sie wurden mit einer Schnur umwickelt und ggf. versiegelt. Die Rückseite des Papyrusblattes wurde dadurch außen sichtbar und wurde verwendet, um den Adressaten zu benennen und falls erforderlich eine kurze Inhaltsangabe des Schreibens zu notieren.

2.2. Schreibvorgang

Das Schriftbild war überwiegend durch Großbuchstaben geprägt, die ohne Wortzwischenräume aneinander gesetzt wurden. Längere Briefe wurden diktiert (Röm 16,22) und z.T. eigenhändig bestätigt (1Kor 16,21; Gal 6,11; vgl. Kol 4,18; 2Thess 3,17), kürzere vermutlich eigenhändig geschrieben (Phlm 19; 2Joh 12; 3Joh 13). Umstritten ist, inwiefern wir bei einigen neutestamentlichen Briefen mit Sekretären rechnen dürfen, die die Botschaft des Verfassers recht eigenständig formulierten und niederschrieben. Diese Frage ist von Bedeutung, wenn es darum geht zu beurteilen, ob ein bestimmter Brief tatsächlich von dem explizit genannten Absender verfasst wurde (s.u. 6.).

2.3. Beförderung

Im → Urchristentum gab es offenbar einen regen Briefverkehr zwischen Apostel und Gemeinden. Briefe wurden aber auch an andere Gemeinden weitergeleitet (vgl. Kol 4,16). Boten oder enge Mitarbeiter beförderten die Schreiben vom Absender zum Adressaten (vgl. 1Thess 3,2; 2Kor 2,4.13) oder vom expliziten Adressaten zu weiteren impliziten Adressaten, also etwa einer anderen urchristlichen Gemeinde. Ein Mitarbeiter konnte dann den zu überbringenden Brief mündlich weiter erläutern.

3. Briefformular

3.1. Kontinuität und Diskontinuität neutestamentlicher zu antiken Briefen

Antike griechische Briefe weisen bestimmte Konventionen auf, die sich in abgewandelter Form auch in neutestamentlichen Briefen finden. Dabei sind – wie bei uns heute auch – insbesondere Anfang und Ende konventionalisiert. Das Präskript neutestamentlicher Briefe lässt am besten sowohl die Abhängigkeit von als auch die Selbständigkeit gegenüber antiken Schreiben erkennen. Ein griechischer Brief begann mit einem Präskript, das den oder die Absender im Nominativ benannte, dann den oder die Adressaten im Dativ angab und mit einem Gruß abschloss (χαίρειν = grüßen). Paulus als der einflussreichste Verfasser neutestamentlicher Briefe schuf daraus einen besonderen Gruß, der zentral die Wörter χάρις (Gnade) und εἰρήνη (Frieden) enthielt. Während χάρις (Gnade) an das in antiken Briefen übliche χαίρειν (grüßen) erinnert, nimmt εἰρήνη (Frieden) den traditionellen Friedensgruß jüdischer Briefe auf. In einigen neutestamentlichen Präskripten wurde ̕έλεος (Barmherzigkeit) hinzugefügt, so dass eine Dreigliedrigkeit entstand (vgl. 1Tim, 2Tim, 2Joh). Alle drei Elemente des Briefpräskripts konnten erweitert werden, um sie den Erfordernissen der jeweiligen Situation, in die hinein der Brief sprechen sollte, anzupassen.

Nach dem Präskript folgten in griechischen Briefen oft ein Wunsch bzw. ein Gebet, der andere möge gesund sein (vgl. 3Joh 2). In lateinischen Briefen konnte diese Passage – da sie so stark formalisiert war - mit SVBEEV abgekürzt werden (si vales, bene est, ego valeo = wenn du gesund bist, ist es gut, mir geht es gut.). Die Briefe des Paulus enthalten hier oft eine ausführliche Danksagung (εὐχαριστοῦμεν), bei der auch zentrale Themen des Hauptteils benannt werden. Im Gal verzichtet der Apostel auf diese Danksagung und drückt damit seine Verärgerung über die Gemeinde aus.

Das Postskript zeichnet sich durch Grüße unterschiedlicher Art aus sowie durch einen Lebewohl-Wunsch. Die griechischen Briefe verwenden hier oft ἐρρώσω (sei gesund; vgl. Apg 15,29), Paulus hingegen formuliert typischerweise einen Segenswunsch (mit χάρις). Dadurch klingt ein liturgischer Rahmen für das Verlesen der Briefe an. Offensichtlich war es in den urchristlichen Versammlungen tatsächlich üblich, Briefe zu verlesen (vgl. z.B. 1Thess 5,27).

3.2. Formelvorrat neutestamentlicher Briefe

Insgesamt variieren die neutestamentlichen Briefe einen Formelvorrat für ihre je eigenen Zwecke, der sich aus folgenden Bausteinen zusammensetzt (vgl. Klauck, 54):

a. Der Briefeingang

a.a. Das Briefpräskript

a.a.a. superscriptio (Angabe des Absenders im Nominativ)

a.a.b. adscriptio (Angabe des Adressaten im Dativ)

a.a.c. salutatio (Zusage von Gnade und Frieden im Infinitiv)

a.b. Das Briefproömium (stereotype Übergangswendungen)

• Wohlergehens- bzw. Gesundheitswunsch

• Danksagung

• Gedenken, Fürbitte

• Freudenäußerung

b. Das Briefkorpus (Hauptteil)

b.a. Korpuseröffnung

• Gedenken

• Freudenäußerung u.ä.

• Kundgabeformel, Ersuchensformel u.ä.

• Selbstempfehlung, Fremdempfehlung

b.b. Korpusmitte

• Information

• Appell, Anweisung

• Mahnung, Empfehlung

• Bitte (verschieden platziert)

• Diverse Klischees (stehende Wendungen)

b.c. Korpusabschluss

• Evtl. Bitte, Mahnung

• Besuchs- und Reisepläne

c. Der Briefschluss

c.a. Epilog

• Schlussmahnungen

• Reflexion auf den Schreibakt

• Besuchswunsch

c.b. Postskript

• Grüße: direkter Gruß (1. Person), Grußauftrag (2. Person), Grußübermittlung (3. Person)

• Wünsche: „Lebe wohl“ u.ä.

• Eigenhändigkeitsvermerk

• Datumsangabe

4. Briefgattungen

Von nurmehr forschungsgeschichtlichem Interesse ist die formkritische Unterscheidung von A. Deissmann zwischen Brief und Epistel: „Der Brief ist ein Stück Leben, die Epistel ist ein Erzeugnis literarischer Kunst.“ (195). Deissmann sah in den Briefen des Paulus wirkliche, unliterarische Briefe, die „dem Verkehr der Getrennten“ dienten, und bezeichnete demgegenüber die katholischen Briefe (Jak, Petr, Jud), den Hebräerbrief und die Johannesapokalypse als literarische Episteln. Diese Unterscheidung gilt heute als überholt. Sie gilt so weder für antike noch für neutestamentliche Briefe. Die paulinischen Briefe sind über weite Strecken sorgfältig durchkomponiert und – mit Ausnahme des Philemonbriefs – deutlich länger als durchschnittliche antike Briefe.

Die Forschung diskutiert heute eine Vielzahl möglicher antiker Briefgattungen. Sie bezieht sich dabei u.a. auf die Ausführungen spätantiker Epistolographen, die bis zu 41 Briefgattungen unterschieden (s. bei Malherbe). Dabei stellt sich auch die Frage, inwiefern die Brieftheorie tatsächlich die Praxis des Briefschreibens im 1. Jahrhundert n. Chr. widerspiegelt. Für die neutestamentlichen Briefe sind insbesondere der Freundschaftsbrief, der philosophische Brief und der Empfehlungsbrief von Interesse. Der Freundschaftsbrief dient zur Pflege des persönlichen Kontaktes zwischen Freunden – bei Paulus dann zur Pflege des Kontaktes zwischen ihm und bestimmten Gemeinden. Der philosophische Brief verbindet – wie auch Paulus dies tut – lehrhafte und ethische Abschnitte. Im Empfehlungsbrief preist Person A einer ihr bereits bekannten Person B die ihr ebenfalls bereits bekannte Person C an, die Person B noch nicht kennt (vgl. 3Joh und 2Kor 3,1).

5. Epistolographie und Rhetorik

Lebhaft diskutiert wird aktuell die Bedeutung der antiken Rhetorik für die Interpretation neutestamentlicher Briefe. Rhetorik ist die Lehre von der mündlichen Rede in der Öffentlichkeit. Hier wird die Schnittmenge zur Epistolographie, also zum Schreiben von Briefen, deutlich: „Rede und Brief sind Formen von Kommunikation durch Sprache.“ (Klauck, 168). Umstritten ist, ob und wie in der Antike Rhetorik und Epistolographie in Theorie und Praxis aufeinander bezogen waren. H.D. Betz legte 1979 einen Kommentar zum Galaterbrief vor, der diesen unter rhetorischen Gesichtspunkten als apologetisches (verteidigendes) Schreiben charakterisiert. Betz identifiziert im Aufbau des Gal die Teile einer Rede, gerahmt durch das briefliche Prä- und Postskript: Präskript (Gal 1,1-5), exordium (Vorrede; 1,6-11), narratio (Formulierung des Sachverhalts; 1,12-2,14), propositio (Zusammenfassung des gedanklichen Kernbestandes; 2,15-21), probatio (Beweisführung; 3,1-4,31), exhortatio (Ermahnung; 5,1-6,10), Postskript (6,11-18). Die Integration von Epistolographie und Rhetorik bleibt aber schwierig – insbesondere dort, wo die rhetorische Analyse auf Kosten der brieflichen Eigenheiten eines Schreibens erfolgt.

6. Pseudepigraph(isch)e Briefe

Briefe, die einen falschen Verfasser angeben, nennt man pseudepigraph(isch)e Briefe. In diesen Briefen treten also der reale Verfasser und der im Text genannte Verfasser auseinander. Es kommt zu einer Verdoppelung der Kommunikationssituation. Der 2Thess gibt z.B. an, von Paulus zu dessen Lebzeiten geschrieben und an die Gemeinde in Thessalonich gerichtet zu sein. Tatsächlich wurde der Brief aber vielleicht deutlich nach dem Tod des Paulus an eine ganz andere urchristliche Gemeinde geschrieben. Der pseudepigraphe Brief muss so formuliert sein, dass die realen Adressaten ihn auf sich beziehen, obwohl sie nicht als Adressaten genannt sind.

Die historisch-kritische Forschung zieht derzeit die Verfasserschaft des Paulus in den Pastoralbriefen, im Kol und Eph sowie im 2Thess in Zweifel, ferner die Verfasserangaben in den katholischen Briefen. Umstritten ist insbesondere, ob pseudepigraphe Briefe als bewusste Fälschungen zu betrachten sind oder ob uns in ihnen eine Fortschreibung und Aktualisierung bestimmter Glaubenstraditionen begegnet, so dass sie ohne Täuschungsabsicht verfasst wurden. Für die umstrittene Einstufung insbesondere des 2Thess als Pseudepigraph ist die Frage von Bedeutung, ob die urchristlichen Verfasser Kopien ihrer Briefe aufhoben und als Vorlage für weitere Schreiben benutzten.

7. Außerkanonische urchristliche Briefe

Die Produktion urchristlicher Briefe brach mit den später als kanonisch eingestuften Schreiben nicht ab. In der gesamten Spätantike blieben Briefe die vorherrschende literarische Form des Urchristentums. Besonders bekannt sind die Ignatiusbriefe, der → Polykarpbrief sowie der → 1. Clemensbrief und der → 3. Korintherbrief.

8. Vom Einzelbrief zum Kanon

Im Neuen Testament sind die Briefe (grob) der Länge nach angeordnet, und zwar in absteigender Reihenfolge. Zwischen der Abfassung von Einzelbriefen und der Zusammenstellung des neutestamentlichen Kanons in der uns vorliegenden Form liegen Briefsammlungen, über deren Umfang, Redaktion und Veröffentlichung uns allerdings kaum etwas bekannt ist. Wahrscheinlich wurden die oder zumindest einige deuteropaulinische Briefe (also pseudepigraphe Briefe, die als Verfasser Paulus angeben) einer in der Entstehung begriffenen Sammlung von echten Paulinen angefügt.

Literaturverzeichnis

  • Brox, Norbert, 1977, Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike, Darmstadt
  • Klauck, H.-J., 1998, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, München
  • Malherbe, A.J., 1988, Ancient Epistolary Theorists, Atlanta
  • Merz, A., 2004, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus, Göttingen
  • Trobisch, D., 1994, Die Paulusbriefe und die Anfänge der christlichen Publizistik, Gütersloh
  • White, J.L., 1986, Light from Ancient Letters, Philadelphia
  • Zimmermann, R., 2003, Unecht – und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem, ZNT 12, 27-38

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