Briefwechsel Paulus – Seneca
(erstellt: April 2015)
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1. Verfasser
Die in lateinischer Sprache verfasste und so auch überlieferte Briefkorrespondenz umfasst 14 Episteln, von denen jeweils acht dem römischen Philosophen und Staatsmann Seneca, sechs dem → Apostel Paulus
2. Textüberlieferung
Zwischen 1200-1500 ist fast jeder Codex der Werke Senecas mit dem Briefwechsel gewissermaßen als Einleitung versehen. Somit existieren ungefähr 300 (teilweise stark verderbte) Handschriften, die sich größtenteils in Frankreich befinden. Die erste Ausgabe von Alcuin gegen Ende des achten Jahrhunderts hatte sicherlich einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die weitere handschriftliche Überlieferung. (vgl. Fürst 21-22; eine genauere Auflistung und Beschreibung von 25 erhaltenen Handschriften bietet Barlow, 8-69; zu den ersten Editionen Barlow, 94-109.)
3. Datierung und Entstehung
Der Briefwechsel ist wohl in die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts nach Christus zu datieren. Hieronymus (De viris illustribus 12) und → Augustinus
Die Einheitlichkeit des Briefwechsels geriet in der Vergangenheit oftmals in die Diskussion. Westerburg sei hier stellvertretend genannt, der eine Teilung der Briefe in eine ältere und jüngere Gruppe annimmt. Neben dem Argument der problematischen Reihung (siehe 3.1.) würden inhaltliche Widersprüche darauf hinweisen. Fürst entkräftet allerdings diese These, zumal die Briefe schon im Einzelnen formal, stilistisch und inhaltlich stark voneinander abweichen, und geht von der Einheitlichkeit des Briefwechsels aus (vgl. Fürst, 2006, 8-10).
Eine Lokalisierung des Werks ist aufgrund fehlender Indizien nicht möglich. Sicher ist es im lateinischsprachigen Westen entstanden.
4. Aufbau und Form
4.1. Reihung der Briefe
Die Reihung der vier letzten Briefe ist nicht gesichert und durchaus problematisch. Die Briefe 10-14 tragen nämlich Datumsangaben, die sich inhaltlich nicht in eine sinnvolle Reihung bringen lassen. Eine korrekte Abfolge der Briefe kann damit nicht gewährleistet werden, ohne dabei entweder die Chronologie oder den inhaltlichen Zusammenhang außer Acht zu lassen (vgl. Übersicht bei Fürst, 2006, 22). Ob die Datumsangaben nachträglich eingefügt wurden, ist heute nicht mehr zu entscheiden.
4.2. Adressatenangaben
Die Briefe passen sich weitgehend an die antike Form der Epistolographie an. Das Präskript der jeweiligen Briefe variiert allerdings. Während Seneca die für seine Zeit typische Briefanrede gebraucht (Seneca Paulo salutem), greift Paulus auf eine erst seit dem zweiten Jahrhundert aufkommende „Demutsgeste“ (Schröter, 654) zurück und nennt den Adressaten zuerst ([Annaeo] Senecae Paulus salutem) (zu dieser Gepflogenheit vgl. Fürst, 2006, 39). Brief 6 und 7 sind zusätzlich an Lucilius, den Briefpartner Senecas, und Teophilus (→ Theophilus) adressiert. Letzterer ist vielleicht einer Verwechslung des Autors mit dem aus den → Paulusbriefen
5. Inhalt
Durchgehend zeigt sich das Bedürfnis des Verfassers, die Briefe mit epistolographischen Merkmalen auszustatten: Der Austausch von Höflichkeiten, die Sehnsucht nach persönlicher Begegnung (Br. 1; 4 etc.), die Problematik der Briefsendung (Br. 2) und die Freude über den Erhalt des Briefs (Br. 2) drängen dem Leser eine persönliche Beziehung zwischen beiden Briefpartnern auf (vgl. Fürst, 1998, 90-92). Doch der übermäßige Gebrauch der genannten Brieftopoi führt dazu, dass das Werk nur wenig Inhalt bietet.
Gemäß dem ersten Brief liest Seneca mit Lucilius und Anhängern der Lehren des Paulus (disciplinarum tuarum comites Z. 3; Textgrundlage im Folgenden aus Barlow) dessen Briefe und ist voll des Lobs, weil sie „eine wunderbare Anleitung zu einer moralisch einwandfreien Lebensführung“ seien (Übersetzung in der Folge aus Fürst, 2006). Paulus, sich für die Verzögerung der Antwort entschuldigend, bekundet seine Freude über „das Urteil eines so bedeutenden Mannes“ (tanti viri iudicio Br. 2 Z. 8). Senecas Begeisterung geht soweit, dass er im dritten Brief vorschlägt, die Briefe des Paulus dem Kaiser (= → Nero
6. Historische Grundlage
Die Fiktion eines Briefaustauschs zwischen Seneca und Paulus kann einerseits an historische Gegebenheiten anknüpfen, andererseits auf die hohe Wertschätzung des Philosophen im Christentum aufbauen. Mit → Tertullians
7. Forschungsstand
Nachdem die ältere Forschung den Briefwechsel noch als authentisch betrachtete (siehe Testimoniensammlung bei Barlow, 110-112), geht man heute – mit wenigen Ausnahmen (vgl. Auflistung bei Klauck, 201-201) – von einer Fälschung aus. Die Dürftigkeit des Inhalts (vgl. Römer, 45) und „das wenig elegante Latein“ (Klauck, 207) stellen ein vernichtendes Urteil dar, sind aber kein Grund dafür, die Briefe überhaupt als wertlos und unerheblich abzutun. Es stellt sich vielmehr die Frage nach der Intention und des Erfolgs dieses pseudepigraphischen Werks (siehe 8. Rezeption; vgl. Krauter). Barlow mutmaßt, dass die Briefe ohne jegliches Ziel verfasst wurden, sondern aus der spätantiken Rhetorikschule stammen (vgl. Barlow, 89-92). Dafür ließen sich einige Anhaltspunkte finden, ist der Briefwechsel doch gekennzeichnet durch das Streben nach rhetorischen Mitteln und antiker Brieftopik (vgl. Fürst, 1998, 78-80).
Die These, dass der Autor durch das Medium des fiktiven Briefs ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte, muss nicht unbedingt konträr dazu stehen. Denn die Stellung einer solchen Aufgabe im Rhetorikunterricht geschieht auch nicht grundlos, sondern setzt eine bestimmte intentionale Haltung voraus. Die sich ergebende Attraktivität der Briefe weist zudem auf das allgemeine Grundbedürfnis hin, zwischen Seneca und Paulus eine vertraute Beziehung herzustellen. Wie man das auch immer entscheiden mag, stand dabei nicht der Inhalt der Korrespondenz, sondern die Tatsache, dass diese überhaupt stattgefunden hat, im Vordergrund. Wenn es also bei der Abfassung vornehmlich darum ging, zwischen Seneca und Paulus eine freundschaftliche Verbundenheit zu fingieren (das belegen die zahlreichen Freundschaftsbekundungen), dann ist die Intention der Korrespondenz und ihre angestrebte Wirkung auf die Zukunft hin aber noch nicht geklärt. Weit verbreitet ist daher die Ansicht, man habe die Schriften des Paulus bzw. christliche Literatur überhaupt frisch zum Christentum bekehrten Lesern aus der höheren Bildungsschicht schmackhaft machen wollen (Palagi, 15-16, weitere Angaben bei Fürst, 2006, 17). Dies ist aber nur dann erfolgsversprechend, wenn der Mittler, also Seneca, in der paganen Welt in hohem Ansehen stand, was von Fürst allerdings erfolgreich widerlegt wurde (Fürst, 1998, 94-96).
Westerburgs These, dass Paulus nach ebionitischer Tradition nicht empfohlen, sondern in Verruf gebracht werden soll, weil er mit Nero und seiner zwielichtigen zweiten Frau Poppaea in engem Kontakt stünde, ist aufgrund der Briefteilung, die er dafür vornehmen muss, nicht zu halten (vgl. Fürst, 1998, 101-102).
Der Vorschlag, der Autor wolle zur Seneca-Lektüre aufrufen, ist mit Blick auf dessen Ignoranz, was die Literatur des Seneca betrifft, kaum nachvollziehbar (vgl. Klauck, 226).
Schlüssiger scheint die Fokussierung auf die Person Senecas aus christlicher Perspektive. Dessen herausragende Resonanz im Christentum zu dieser Zeit könnte dazu motiviert haben, die Nähe Senecas zum Christentum auf ein Fundament zu stellen. Dabei wird aber nicht die Absicht verfolgt, Senecas Philosophie mit der Theologie des Paulus in Einklang zu bringen (Vgl. Klauck, 226). Vielmehr ist lediglich die Fiktion einer Vertrautheit zwischen den Briefpartnern beabsichtigt, wozu das Medium des (spät-)antiken Privatbriefs hervorragend geeignet ist. Fürst weist zudem auf die Möglichkeit hin, dass die Kirche mit diesem Brief eine ihrer wichtigsten Überzeugungen aufrechterhalten wollte, nämlich die der → apostolischen Sukzession
8. Rezeption
Hieronymus nimmt Seneca aufgrund des Briefwechsels in das Verzeichnis der Heiligen auf und gibt an, dass dieser von vielen gelesen wird (vgl. De viris illustribus 12). Augustinus, wohl von diesem Zeugnis abhängig, erwähnt die Existenz der Briefe beiläufig (Epistulae. 153,14). Als drittes Testimonium gilt die aus dem fünften Jahrhundert oder später stammende Passio Pauli Sancti Apostoli des Pseudo-Linus, der den apokryphen Briefwechsel in seine Version der Passio Pauli einarbeitet (vgl. Testimonium III bei Fürst, 2006, 60; siehe auch Klauck, 2008, 205-206). Letztlich ist es das Verdienst des Erasmus von Rotterdam, den Briefwechsel als Fälschung entlarvt zu haben: „Schamlose Narretei ist es, Seneca so reden zu lassen, Gotteslästerung ist es, Paulus so reden zu lassen“ (Testimonium XI bei Fürst, 2006, 77).
Die Intention dieser Briefkorrespondenz, eine Freundschaft zwischen Seneca und Paulus zu fingieren und Senecas Nähe zum Christentum zu beweisen, ist den zahlreichen Testimonien nach zu urteilen durchaus gelungen. Sogar die sich im Frühhumanismus verbreitende Legende, Seneca sei Christ gewesen, stützt sich oftmals auf diesen Briefwechsel, obgleich dies an keiner Stelle der Korrespondenz behauptet wird (vgl. Fürst, 2006, 19-20)
Literaturverzeichnis
1. Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare
- Barlow, C.W., 1938, Epistolae Senecae ad Paulum et Pauli ad Senecam <quae vocantur> (PMAAR 10), Rom
- Bocciolini Palagi, L., 1985, Epistolario apocrifo di Seneca e San Paolo (BPat 5), Florenz
- Fürst, A., Fuhrer, T., Siegert, F., Walter, P., 2006, Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Zusammen mit dem Brief des Mordechai an Alexander und dem Brief des Annaeus Seneca über Hochmut und Götterbilder. Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von A. Fürst, T. Fuhrer, F. Siegert, P. Walter (SAPERE 11), Tübingen
- Römer, C., 51989, Der Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, in: E. Henecke / W. Schneemelcher (Hgg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung II. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen, 44-50
2. Weitere Literatur
- Fürst, A., 1998, Pseudepigraphie und Apostolizität im apokryphen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, JAC 41, 77-117
- Klauck, H.J., 2008, Die apokryphe Bibel. Ein anderer Zugang zum frühen Christentum (Tria Corda 4), Tübingen
- Krauter, S., 2009, Was ist „schlechte“ Pseudepigraphie? Mittel, Wirkung und Intention von Pseudepigraphie in den Epistolae Senecae ad Paulum et Pauli ad Senecam, in: J. Frey / J. Herzer / M. Janßen / C.K. Rothschild (Hgg.), Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters (WUNT 246), Tübingen, 765-785
- Schröter, J., 2013, Der Briefwechsel Paulus-Seneca, in: F.W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen, 563-565
- Trillitzsch, W., 1971, Seneca im literarischen Urteil der Antike. Darstellung und Sammlung der Zeugnisse, Bd. I-II, Amsterdam
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