Ebionitenevangelium
Andere Schreibweise: Ebionäerevangelium; Gospel of Ebionites (engl.)
(erstellt: April 2013)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/47872/
1. Bezeugung
In seinem ‚Arzneikästchen gegen alle Häretiker‘, dem Panarion (Kapitel 30) beschreibt der Kirchenschriftsteller Epiphanius (ca. 315 – 403 n. Chr.) die judenchristliche Gruppierung der ‚Ebionäer‘ (᾿Εβιωναῖοι, Ebiōnaíoi), deren Name sich von hebr. אֶבְיוֹן (᾿ebyôn, arm) bzw. אֶבְיוֹנִים (᾿ebyônîm) oder aram. אביוניא (᾿ebyônaye᾿, die Armen) ableitet und so als Selbstbezeichnung auf die jüdische ‚Armutsfrömmigkeit‘ (Ps. 40,18; 70,6; 86,1; PsSal 10,6; 18,2; 1QM XI 13; 1QpHab XII 3; 4QpIsa 11,7; Mt 5,3
Eine christliche Sondergruppe unter diesem Namen (lat. Ebionaei oder Ebionitae) ist schon Ende des 2. Jh.s n. Chr. bei → Irenäus
Differenzen bestehen auch in den Angaben über den Gebrauch von Evangelienschriften bei den Ebionäern: Während Irenäus angibt, diese Gruppe verwende ausschließlich das → Matthäusevangelium
Das „ebionitische“ ist mithin eines von mindestens drei judenchristlichen Evangelien, die in der neueren Forschung unterschieden werden. Außer ihm gab es wohl ein griechisches Werk, das bei Clemens v. Alexandrien, Origenes und Didymus d. Blinden in Ägypten bezeugte „Evangelium nach den Hebräern“ oder → Hebräerevangelium
Die Forschung hat zum Teil auch andere überlieferte Titel mit diesem Werk verbunden: den von Origenes (hom in Lc 1,2) erwähnten Titel „Evangelium der zwölf [Apostel]“, den Hieronymus später (wohl zu Unrecht) mit dem aramäischen, von den Nazoräern gebrauchten „Evangelium der Hebräer“ verbindet (adv. Pelag III 2). Das von Epiphanius (30,13,2f.) zitierte Fragment über die Jüngerberufung könnte eine Zeugenfunktion der Zwölf und eine spezielle Autorschaft des Matthäus nahelegen. Dennoch wurde die in älteren Arbeiten noch verwendete Bezeichnung des Werks als „Evangelium der zwölf Apostel“ aufgegeben. Die neuere Forschung redet nur noch vom „Evangelium der Ebionäer“.
2. Überlieferter Textbestand
Die bei Epiphanius zitierten Stücke konzentrieren sich auf den Anfang der Geschichte → Jesu
Die zitierten Passagen handeln von → Johannes dem Täufer
„Es trat auf ein gewisser Mann namens Jesus, und er war etwa dreißig Jahre alt, der erwählte uns. Und als er nach Kafarnaum kam, ging er in das Haus des Simon, der den Beinamen Petrus trägt, und öffnete seinen Mund und sprach: ‚Als ich am See Tiberias entlangging, erwählte ich Johannes und Jakobus, die Söhne des Zebedäus, und Simon und Andreas und Thaddäus und Simon den Zeloten und Judas den Iskarioten und dich, Matthäus, der du am Zoll saßest, rief ich, und du folgtest mir. Ich will nun, daß ihr zwölf Apostel seid zum Zeugnis für Israel.‘”
Die Einordnung dieses Stücks in die Erzählfolge des Werks ist schwierig. Möglicherweise bot es eine Art Incipit oder Vorrede, die vor Beginn der eigentlichen Erzählung den Protagonisten Jesus einführte und die Autorisation der Zeugen und besonders des zuletzt genannten, evtl. als Autor angesehenen Matthäus bot, bevor dann die eigentliche Erzählung mit dem Auftreten des Täufers begann. Da von den Zwölfen nur acht Personen genannt sind, könnte das Fragment evtl. unvollständig überliefert sein.
Nach Auskunft des Epiphanius enthielt das Werk keine Geburtsgeschichten. Die Erzählung begann vielmehr (wie Mk 1,4
3. Einleitungsfragen
3.1. Sprache, Gattung und literarischer Charakter
Das Evangelium der Ebionäer war ursprünglich griechisch verfasst. Dies zeigt das Stück über die Nahrung des Täufers (frg. 3), das im Vergleich zu Mk 1,6
Das Werk war wie die Synoptiker (und Joh) ein narratives Evangelium, das mit dem Auftreten des Täufers begann und vom irdischen Wirken Jesu vermutlich bis zu dessen Ende berichtete. In den erhaltenen Fragmenten werden alle drei synoptischen Evangelien vorausgesetzt, nicht aber das Johannesevangelium. Trotz der Hervorhebung des Matthäus in Fragment 1 ist die Anlehnung an das Matthäusevangelium nur wenig stärker als die an das Lukasevangelium. Das Evangelium der Ebionäer ist daher als Evangelien- oder besser Synoptikerharmonie zu klassifizieren. Hingegen ist eine Beziehung zu anderen judenchristlichen Evangelienschriften (bzw. den erhaltenen Fragmenten) nicht zu erweisen.
Die Harmonisierung, z. B. im Fragment über die Taufe Jesu, erfolgte wohl nicht nur in der Absicht, die Differenzen zwischen den vorliegenden Evangelienschriften zu beseitigen, auch nicht aufgrund eines primär novellistischen Interesses. Leitend war vielmehr wohl die Intention, in der neuen Komposition die eigene christologische Sichtweise zu artikulieren. Dies zeigen die theologisch motivierten Korrekturen in den Fragmenten 3 und 7. Doch gehen diese, ebenso wie die Kompilation der synoptischen Taufberichte, behutsam mit den vorgegebenen Texten um. Das Stück von der Erwählung der „Zwölf Apostel zum Zeugnis für Israel“ legt die Vermutung nahe, dass es der Redaktion darum ging, die synoptischen Evangelien durch ein noch besser autorisiertes und theologisch adaptiertes Werk in ihren Adressatenkreisen letztlich zu ersetzen. Doch war dem Werk kein übergreifender Erfolg beschieden, zumal – vielleicht nur wenig später – die ‚erfolgreichere‘ Evangelienharmonie Tatians im syrischen Raum und vielleicht auch in judenchristlichen Kreisen Verbreitung fand.
3.2. Zeit und Ort
Aus der Benutzung der Synoptiker ergibt sich als terminus a quo der Anfang des 2. Jh.s. Schwerer zu bestimmen ist der terminus ad quem, da es sichere Zeugnisse vor Epiphanius nicht gibt. Der Vergleich mit dem um 170 entstandenen Diatessaron Tatians, das neben den Synoptikern bereits das Johannesevangelium benutzt und seinem Aufriss zugrunde legt, weist auf eine Entstehung in der Zeit vor Tatian, bis um das Jahr 150. In dieser Periode – nach dem Bar-Kochba-Aufstand – wäre eine Konsolidierung judenchristlicher Traditionen auch historisch plausibel zu machen. Als Ort der Entstehung legt sich insbesondere das → Ostjordanland
4. Theologische Akzente
Ein judenchristlicher Kontext zeigt sich in der Erwählung der Zwölf „zum Zeugnis für Israel“ (frg. 1), in der Betonung der → aaronidischen
Ein zweiter, von Epiphanius heftig angeprangerter Zug dieses Evangeliums betrifft den ebionäischen Vegetarismus und seine Legitimation: Die bei der Nahrung des Täufers erfolgte Ersetzung der Heuschrecken durch Kuchen (frg. 3) und – noch mehr – die Jesus in den Mund gelegte Zurückweisung des Fleischgenusses beim letzten Passa (frg. 7) lassen auf eine rigide halachische Praxis schließen, die auf Fleischgenuss generell verzichtete, um so auch eine versehentliche Befleckung durch unreine, nicht korrekt geschächtete oder gar durch heidnische Kulthandlungen kontaminierte Nahrung zu vermeiden (Act 15,29). In dem völligen Fleischverzicht spiegelt sich wohl das Bestreben von Nachfolgern Jesu, in einer nichtjüdisch geprägten Umwelt nach jüdischen Ordnungen zu leben. Um diese Praxis zu begründen, werden nun auch der Täufer und Jesus selbst zu Vertretern des Fleischverzichts, wozu am synoptischen Text nur kleine Änderungen vorgenommen werden, wie sie auch im Rahmen rabbinischer Exegese und in den Targumim begegnen: die Ersetzung eines Wortes durch ein ähnlich klingendes (frg. 3) bzw. die Einsetzung einer Negation und des Wortes κρέα (kréa, „Fleisch“) in das aus Lk 22,15
Das bei den Synoptikern nicht belegte opferkritische Jesuslogion (pan. 30,16,4: “Ich kam, die Opfer aufzuheben; und wenn ihr nicht aufhört zu opfern, wird der Zorn nicht von euch weichen.”) weist auf die für das Judenchristentum zentrale Auseinandersetzung mit dem Tempelkult und den Opfervorschriften der Tora hin, die sich einerseits an die im Neuen Testament belegte Tempelkritik der frühen Gemeinde anschließt (Apg 2,46
5. Wirkungen
Das Werk hatte wohl von Anfang an nur gruppenspezifische und eventuell auch regional eingeschränkte Bedeutung. Von einem ‚gesamtkirchlichen‘ Anspruch dieses Evangeliums ist nichts erkennbar. Epiphanius hat es (oder einzelne Stücke aus ihm) noch über 2 Jahrhunderte nach seiner Entstehung zu Gesicht bekommen. Die von ihm zitierten Stücke sind die einzigen sicheren Zeugnisse seiner Existenz. Vermutlich geriet es mit der Verdrängung der judenchristlich-heterodoxen Kreise in Vergessenheit.
Literaturverzeichnis
1. Lexikon- und Handbuchartikel sowie Textsammlungen
- D. A. Bertrand, 1997, Fragments évangeliques. Textes traduits, présentés et annotés, in: F. Bovon/P. Geoltrain (Ed.), Écrits apocryphes chrétiens 1, Bibliothèque de la Pléiade 442, Paris, 393–495 (447–453)
- J. Carleton Paget, 2001, Judenchristen 2: Alte Kirche, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 4, Tübingen, 603-605
- J. Carleton Paget, 1999, Jewish Christianity, in: The Cambridge History of Judaism 3: The Early Roman Period (Hg. W. Horbury / W. D. Davies / J. Sturdy), Cambridge, 731-775
- J. K. Elliott, 1993, The Apocryphal New Testament, Oxford, 9–16
- J. Frey, 2012, Die Fragmente judenchristlicher Evangelien, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg., in Verb. mit A. Heiser), Antike christliche Apokryphen, Bd 1: Evangelien und Verwandtes, Teil 1, Tübingen, 560-592
- J. Frey, 2012, Die Fragmente des Ebionäerevangeliums, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg., in Verb. mit A. Heiser), Antike christliche Apokryphen, Bd 1: Evangelien und Verwandtes, Teil 1, Tübingen, 607-622
- A. F. J. Klijn, 1992, Jewish-Christian Gospel Tradition, VigChrSup 17, Leiden etc. (bes. 65-77)
- A. F. J. Klijn / G. J. Reinink, 1973, Patristic Evidence for Jewish-Christian Sects, NTSup 36, Leiden, 19-43
- D. Lührmann, 2000, Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache, Marburger Theologische Studien 59, Marburg, 32-39
- S. Mimouni, 2006, Les fragments évangéliques judéo-chétiens ‘apocryphisés’ : Recherches et perspectives, CRB 66, Paris
- G. Strecker, 1959, Ebioniten, Reallexikon für Antike und Christentum 4, Stuttgart, 487-500
- P. Vielhauer / G. Strecker, 1987, Judenchristliche Evangelien, in: E. Hennecke / W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1: Evangelien, 5. Aufl. Tübingen, 114-147 (bes. 138-142)
2. Weitere Literatur
- R. Bauckham, 2003, The Origin of the Ebionites, in: P. J. Tomson / D. Lambers-Petry (Hg.), The Image of the Judaeo-Chrisitians in Ancient Jewish and Christian Literature, WUNT 158, Tübingen, 162-161
- D.A. Bertrand, (1980), L’Evangile des Ebionites. Une harmonie évangelique anterieure au Diatessaron, NTS 26, 548–563
- J. R. Edwards, (2002), The Gospel of the Ebionites and the Gospel of Luke, NTS 48, 568–586.
- J. Frey, 2010, Die Vielgestaltigkeit der judenchristlichen Evangelienüberlieferung, in: J. Frey / J. Schröter (Hg., unter Mitwirkung von J. Spaeth), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, WUNT 254, Tübingen, 93-137
- A. Gregory, (2005), Prior or Posterior? The Gospel of the Ebionites and the Gospel of Luke, NTS 51, 344-360
- S. Häkkinen, Ebionites, in: A. Marjanen / P. Luomanen (Ed.), A Companion to Second-Century Christian ‘Heretics’, VigChrSup 76, 247-278
- A. Hilgenfeld, (1863), Das Evangelium der Hebräer, ZWTh 6, 345-385
- G. Howard, 1988, The Gospel oft he Ebionites, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II/25/2, Berlin – New York, 4034-4053
- H.-J. Klauck, 2002, Apokryphe Evangelien, Stuttgart, 72-76
- P. Luomanen, 2005, Ebionites and Nazarenes, in: M. Jackson Mc.Cabe, What’s in a Name? The Problem of Jewish Christianity reconsidered. Rethinking Ancient Groups and Texts, Minneapolis, 7-38.305-310
- P. Luomanen, 2012, Recovering Jewish-Christian Sects and Gospels, VigChrSup 110, Leiden, 17-49
- S. C. Mimouni, 2012, La documentation judéo-chrétienne ‘hétérodoxe’ : La littérature ébionite, in : ders., Le judéo-christianisme ancien : Paris 1998, 257-286. Engl. Übersetzung : The ‘Heterodox’ Judaeo-Christian Documentation : The Ebionite Literature, in : ders., Early Judaeo-Christianity. Historical Essays, Interdisciplinary Studies in Ancient Culture and Religion 13, Leuveon, 220-247
- H.-U. Rüegger, (2006), „Es war ein Mann mit Namen Jesus …“ Philologische Überlegungen zur Komposition des Evangeliums der Ebionäer, ThZ 62, 24–40
- O. Skarsaune, 2007, The Ebionites, in: ders. / R. Hvalvik, Jewish Believers in Jesus, Peabody, 419-462
- H. Waitz, (1912/13), Das Evangelium der zwölf Apostel (Ebionitenevangelium), ZNW 13, 338-348; 14, 38-64.117-132
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)