Ehre / Scham / Schande (NT)
(erstellt: Juni 2010)
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1. Ehre, Scham und Schande: soziale Regulative des Zusammenlebens
Der Begriff „Ehre“ (griech. time, doxa o.a.) bezieht sich in der Regel auf eine oder mehrere Personen und qualifiziert sie als anerkannte, womöglich sogar herausragende Menschen innerhalb eines sozialen Zusammenhangs. Er ist konnotiert mit sozialem Status und moralischer Integrität und lässt sich als positive Evaluation eines Menschen verstehen, der seiner eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung anderer Menschen zufolge „ehrbar“ ist bzw. der in seiner Haltung und Lebensführung gottes- und schöpfungsgemäßen Maßstäben genügen kann. Einem Individuum oder einer Gruppe kann Ehre zugeschrieben werden (etwa durch eine ehrenhafte Abkunft), oder sie kann erworben werden; unverzichtbar ist dabei der Rückbezug auf eine andere (soziale oder theologische Größe), von der aus die Evaluation gedacht wird: „Ehre“ ist eine relationale Größe und bestimmt sich von den Wertmaßstäben einer Gesellschaft oder Gottes her.
Wer diesen Wertmaßstäben nicht entsprechen kann, seine Ehre und Integrität also verliert, fällt in „Schande“. Mit dieser negativen Evaluation verbunden sind Verachtung, Lächerlichkeit, Gesichtsverlust.
„Ehre“ und „Schande“ als soziale (oder theologische) Begriffe bezeichnen also den Grad der Konformität mit den Wertvorstellungen einer Gesellschaft und / oder Gottes. Indem sie zu einem „ehrbaren“ Verhalten motivieren, das diesen Wertvorstellungen entspricht, erfüllen sie die Funktion eines sozialen (oder theologischen) Regulativs. Es dient der Kontrollierbarkeit und der Aufrechterhaltung des Zusammenlebens und der Zugehörigkeit, wenn festgesetzt werden kann, was „ehrbar“ und was „schändlich“ ist. Was dabei je nach sozialem Kontext als „ehrbar“ oder „schändlich“ bezeichnet wird, ist durchaus unterschiedlich. Beispiele dafür können die Wertmaßstäbe unterschiedlicher Kulturen sein, oder das diesbezügliche Verhältnis einer Subkultur zu der sie umgebenden „Leitkultur“; möglich ist auch, dass eine gottesbezogene Vorstellung von dem, was „ehrbar“ und was „schändlich“ ist, in Konkurrenz zu den gesellschaftlich vorherrschenden Wertmaßstäben tritt. Solche konkurrierenden Wertvorstellungen können Individuen vor die Wahl stellen, an welchen Evaluierungsgrößen sie sich orientieren wollen, wessen Konkretion von „ehrbarem“ und „schändlichem“ Verhalten sie sich zu eigen machen wollen.
Auf diese Wertmaßstäbe bezogen ist der Begriff der „Scham“. Damit ist einerseits das Gefühl benannt, das eine negative Evaluation nach sich zieht – wer erkennen muss, dass er den Wertmaßstäben, die er sich zu eigen gemacht hat, nicht genügt, ist beschämt bzw. schämt sich, d.h. er nimmt sich selbst als defizient wahr. Zum anderen lässt sich „Scham“ aber auch verstehen als Hüterin des Innenlebens: Sie entscheidet darüber, was der Öffentlichkeit zur Evaluation preisgegeben werden soll und was nicht. Schamlosigkeit und Unverschämtheit sind negativ konnotiert, insofern damit die Nichtanerkennung sozial (theologisch) vorgegebener „Regeln“ und Wertvorstellungen bezeichnet wird; Scham ist in diesem Sinne positiv zu verstehen als Akzeptanz der gesellschaftlich (theologisch) vorgegebenen Werte.
Scham schützt von daher die Integrität einer Person und motiviert zur Selbstkontrolle; als soziales Regulativ entlastet sie die Gemeinschaft von fehlerhaftem oder unangemessenem Verhalten einzelner. Als Gefühl steht sie der Reue nahe, bezieht sich aber auf die Person als Ganze, wohingegen Reue sich auf eine bestimmte Tat, Handlung o.ä. bezieht.
2. Ehre, Schande und Scham in der griechisch-römischen Antike
Im homerischen Griechenland ist das Thema Ehre stark mit kriegerischen Vorgängen assoziiert (vgl. Moxnes, 172 unter Berufung auf Finley). Die Perspektive, Ruhm zu erlangen, ist eine wichtige handlungsleitende Motivation.
Im Zusammenleben in der Polis bilden sich verschiedene Formen von Ehrungen und Ehrerweisen heraus. Die Werte, an denen entlang Ehre definiert wird, werden dabei „weicher“; anstelle aggressiver Werte (etwa eines Sieges im Kampf) werden nun Verdienste um die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens wichtiger (etwa die Finanzierung öffentlicher Gebäude oder Einrichtungen). Wer der Gesellschaft Wohltaten erweist, wird mit Macht, Einfluss und Ehre belohnt (vgl. ebd.). Ausdruck dieser Ehre sind etwa Name und Titel, Begrüßung und Geschenke, Kleidung und Schmuck, der Platz in der Sitzordnung beim gemeinsamen Mahl oder schließlich die Ausstattung von Grab und Begräbnis.
Auch die Philosophie hat ein (vorrangig ethisches) Interesse an dem, was ehrbar und schändlich ist. Hinzu tritt aber auch die Kritik an kenodoxia, an entleertem, falschem Ruhm bzw. an einem selbstsüchtigen Interesse am eigenen Status. Einzelne Gruppierungen, allen voran die → Kyniker
Mit der Ausbreitung des römischen Reiches (und den damit verbundenen Einschnitten für die griechische Stadtkultur im Osten des Reiches) verschiebt sich auch die Auffassung über Ehre und Schande. Ehre bezieht sich nun verstärkt auf die Nation, das römische Volk; thematisch wird „Ehre“ nun oft mit der Stellung des römischen Reiches im Verhältnis zu anderen Staaten in Verbindung gebracht. Damit geht ein deutlicher Zug ins Militärische einher, als individuelle Kennzeichen von Ehre gewinnen militärische Dekorationen an Bedeutung, Triumphzüge machen die mit militärischen Siegen verbundene Ehre augenfällig.
An der Ehre herausgehobener Menschen können nach griechisch-römischer Vorstellung auch untergeordnete Individuen partizipieren, womit sie ihrerseits die Ehre der Höhergestellten stabilisieren. So war es durchaus üblich, dass Rangniedrigere als „clients“ über vermögendere, einflussreichere „patrons“ an Ressourcen partizipieren konnten, die ihnen sonst nur schwer zugänglich waren, und im Gegenzug durch ihre Loyalität dem „patron“ gegenüber seine Stellung im sozialen Gefüge festigten.
Für „Scham“ gibt es im Griechischen zwei Begriffe: aischyne ist stärker mit dem assoziiert, wessen man sich schämt, wohingegen aidos sich allgemeiner verstehen lässt als ein Gefühl für das, was ehrenvoll und was schändlich ist, etwa im Sinne eines Schamgefühls, das naturwüchsig angelegt ist, aber durch Erziehung ausgebildet und aktualisiert wird (vgl. hierzu genauer Steger, 58ff). In diesem Sinn erhält aidos Bedeutung für die philosophische Ethik als Kriterium für das Streben nach Glück, in dem individuelles und soziales Glücksstreben zueinander in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden müssen: Ein allgemeines Wissen um Scham und Schamlosigkeit garantiert „eine gewisse moralische Durchschnittlichkeit und Einheitlichkeit in einer Gemeinschaft“ (ebd., 62); als Furcht-Scham entspringt aidos dem „Reibungsverhältnis von objektiver und subjektiver Moral“ (ebd., 65).
3. Ehre, Schande und Scham in der Bibel
Scham ist bereits in der Grunderzählung über das menschliche Dasein, in der Paradiesgeschichte, ein wichtiges Thema: Als das erste Menschenpaar seiner Verfehlung vor Gott gewahr wird, schämen sich die beiden – und zwar nicht nur ihrer Tat, sondern auch ihrer Nacktheit (anders als noch in Gen 2,25
Gegenseitiges Beschämen oder Nicht-Beschämen sagt etwas über die Solidarität und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Person oder Gruppe aus (vgl. Rut 2,15
Während sich „Scham“ stärker auf das innere Erleben bezieht, bezeichnet „Schande“ eher die äußere Seite eines verunehrenden Geschehens (der Begriff „Schmach“ könnte dabei eine Mittelposition einnehmen). Die Konnotationen sind ähnlich: Niederlagen können ebenso als Schande oder Schmach erlebt werden (1Sam 11,2
Schande (Dtn 23,15
Wer in Schande steht, ist der Verachtung der anderen ausgesetzt (Neh 3,36
Auch Schmach und Schande haben mit Zugehörigkeit, Loyalität und Solidarität zu tun: Unter Nachbarn sollen Schmähungen unterbleiben (Ps 15,3
Schmach und Schande können auch um Gottes willen getragen werden (Ps 69,7f
Schmach, Schande und Scham werden sehr realistisch erlebt: Als Schamröte (Ps 69,7f
Noch beklemmender ist die Perspektive ewiger Schmach und Schande, wie sie in Dan 12,2
Wer die Anerkennung seiner Umgebung genießt, in Ansehen steht oder einen hohen Rang in seiner Bezugsgruppe einnimmt, hat Ehre. Auch hier ist der Beziehungsaspekt entscheidend: Ehre hat man nicht für sich allein. Sie dort zu erweisen, wo sie ihren Ort hat, ist eine wichtige soziale Pflicht. Dies gilt besonders für die Eltern – sie zu ehren, ist als viertes Gebot eine der Grundfesten schöpfungsgemäßen Zusammenlebens (Ex 20,12
„Ehre“ ist auch ein politischer Faktor (2Sam 10,3
Ehre ist ein umstrittenes, gefährdetes Gut. Davon zeugen Klagen darüber, dass die Ehre (heute würde man an dieser Stelle vielleicht von „Würde“ sprechen) eines Menschen von seinen Feinden mit Füßen getreten wird (vgl. Ps 4,3
Religiöse Vollzüge haben die Ehre Gottes zum Ziel: das Wachen am Passafest (Ex 12,42
Gott wird immer wieder dargestellt als derjenige, der allein Verfügungsgewalt über Ehre hat (Num 24,11
Eine besonders enge Beziehung kann dadurch gekennzeichnet sein, dass der eine des anderen Ehre ist. So bekennt der Psalmbeter Gott als „meine Ehre“ (Ps 3,4
Seinem Gesalbten, dem Menschensohn (Dan 7,14
3.1. Evaluationsmaßstäbe
Besondere Brisanz gewinnt an manchen Stellen die Frage, ob Ehre von Gott her oder von anderen Menschen her zu denken ist. Damit verbunden ist eine inhaltliche Diskrepanz: Das, was vor Gott „ehrenhaft“ ist, steht potentiell in Konkurrenz zu dem, was Menschen sich untereinander als „Ehre“ zuerkennen können. Und auch hinter dieser Alternative steht eine soziale Dimension: Jüdische wie christliche Gruppierungen stehen vor der Aufgabe, sich zu den Ehr- und Wertvorstellungen ihrer Umwelt zu verhalten, die mit ihren eigenen nur zum Teil konvergieren (vgl. hierzu auch Jdt 4,9
Oft lässt sich dabei eine Art „Doppelstrategie“ erkennen: Auf der einen Seite steht das Bemühen, dem zu entsprechen, was in der Umwelt als ehrenhaft angesehen wird; auf der anderen Seite steht eine kritische Modifizierung oder Transzendierung dieser Wertmaßstäbe. Ein solches Vorgehen lässt sich etwa in der Davidsgeschichte ausmachen, wo zwar an vielen Stellen den Ehrvorstellungen der antiken Umwelt entsprochen wird (David besteht Herausforderungen, erweist sich in Auseinandersetzungen als überlegen etc.; vgl. auch Sir 47,4
Zu denken wäre auch an eine paränetische Grundlinie mehrerer neutestamentlicher Briefe: Die Christen sollen in ihrer Lebensführung den Ehrbarkeits-Maßstäben ihrer Umwelt genügen (Phil 4,8
Gerade die paulinischen Auseinandersetzungen rund um das „Rühmen“ zeigen, in welchem Zwiespalt der Apostel steht, wenn er von Menschen anerkannt werden, aber dennoch daran festhalten will, dass allein Gott die Ehre von Menschen in den Händen hält (vgl. 1Kor 9,15f
Das Christentum steht vor der Aufgabe, den Kreuzestod Jesu in all seiner Schändlichkeit (Lk 18,32
4. Das honor-shame-Modell
Ausgehend von der Annahme, dass Ehre, Scham und Schande im Kontext des antiken Mittelmeerraumes Werte von zentraler Bedeutung (pivotal values) waren, hat sich insbesondere in der kulturanthropologischen und sozialgeschichtlichen Exegese ein heuristisches Modell herausgebildet, das den Anspruch erhebt, die Hintergründe und Voraussetzungen menschlichen Denkens und Handelns in diesem Kulturraum zu erhellen. Auf der Basis anthropologischer Untersuchungen im Mittelmeerraum (Peristiany, Pitt-Rivers) haben maßgeblich Bruce Malina („The New Testament World“, 1981) und die Context Group das „honor-shame-Modell“ erstellt, das sich wie folgt beschreiben lässt:
(1) Honor and shame form a value system rooted in gender distinctions in Mediterranean culture. Preservation of male honor requires a vigorous defense of the shame (modesty, virginity, seclusion) of women in the family or lineage.
(2) Honor, most closely associated with males, refers to one´s claimed social status and also to the public recognition of it. Shame, most closely linked with females, refers to sensitivity towards one´s reputation, or in the negative sense to the loss of honor.
(3) Mediterranean societies are agonistic, or competitive. Challenges to one´s status claims (honor) are frequent and must be met with the appropriate ripostes. The ensuing public verdict determines the outcome, and whether honor is won or lost.“ (Chance, 142)
Dabei wird davon ausgegangen, dass solche „Verteilungskämpfe“ um Ehre nur unter sozial gleichrangigen Partnern ausgetragen werden; die Herausforderung eines Rangniedrigeren anzunehmen, käme bereits einem Ehrverlust gleich. Ob alle zwischenmenschlichen Begegnungen, die sich außerhalb der eigenen familiären Bezugsgruppe ereignen, bereits als „agonistic“ zu sehen sind, wird unterschiedlich beurteilt. Weitgehend einig ist man sich jedoch darin, dass der „male honor code“ sich nach außen orientiert, mit der politischen Struktur in Verbindung steht und auf den Status des Mannes in seiner sozialen Umwelt ausgerichtet ist, während weibliches „Ehrgefühl“, verstanden eher als soziales Schamgefühl, in den Innenbereich des Haushalts führt (Moxnes, 170ff u.a.).
Hinsichtlich der Ehre, die einem Menschen eignen bzw. zukommen kann, sind zwei Formen der Präzisierung herausgearbeitet worden. Einmal lässt sich unterscheiden, ob sich der Status einer Person ihrer Herkunft (Familie, Name, Geschlecht, Gruppenzugehörigkeit) verdankt („ascribed honor“) oder bestimmten Taten, Verdiensten oder Siegen („achieved“ bzw. „acquired honor“) (Hanson, 84 u.a.) Zum anderen werden „honor precedence“ und „honor virtue“ unterschieden: Während sich „honor precedence“ auf Macht, Reichtum und andere Statusindikatoren gründet und als weltliche, äußerliche Ehre vor einer Öffentlichkeit zutage tritt, die das Individuum auf seinen Status hin evaluiert, bezeichnet „honor virtue“ den Zustand des individuellen Gewissens, das sich stärker auf die Intentionen als auf die Folgen des Handelns bezieht und das Individuum vor sich selbst oder auch einem allwissenden Gott verantwortlich weiß (vgl. Pitt-Rivers bei Lawrence 2003, 29).
4.1. Honor-shame-Modell und Honor Discourse
Die ausführliche Darstellung des Modells bei Bruce Malina bezieht verschiedene Aspekte und Teilmodelle ein, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Wesentliches Anliegen ist es, „honor and shame“ als „foundational Mediterranean values“ (Hanson, 81) zur Geltung zu bringen, die für griechische, römische und jüdische Menschen aus biblischer Zeit gleichermaßen bedeutsam sind (Neyrey, 115). Als „identifiable cultural characteristics“ (Lawrence 2003, 12) prägen „honor and shame“ den kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang, der die biblischen Schriften hervorgebracht hat und sind daher dazu geeignet, zu einem vertieften Verständnis dieser Schriften beizutragen.
Autoren wie David A. DeSilva und Jerome Neyrey haben sich besonders mit dem textlichen Niederschlag beschäftigt, den diese „pivotal values“ insbesondere im Neuen Testament gefunden haben. In der Rhetorik des „honor discourse“ soll den Menschen erleichtert werden, aus dem Ehr-System ihrer Umwelt herausgelöst und in das christliche Ehr-System hinein sozialisiert zu werden; dies geschieht wesentlich dadurch, dass ein neuer „Court of Reputation“ plausibilisiert wird.
4.2. Anfragen an das honor-shame-Modell
Kritik am honor-shame-Modell ist in den vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Richtungen geäußert worden. Einige Diskussionslinien sollen im Folgenden kurz skizziert werden.
4.2.1. „honor and shame“ – die zentralen Werte im antiken Mittelmeerraum?
Die Bedeutung (im Sinne von „meaning“ wie von „significance“) von „honor and shame“ im mediterranen Kontext wird unter Anthropologen unterschiedlich eingeschätzt; bereits 1994 warnt J.K. Chance: „there is more to Mediterranean culture than honor and shame“ (Chance, 148). Gerald Downing hat sich anhand vielfältiger Belege und Beispiele um den Nachweis bemüht, dass andere Werte wie Leben, Vermögen oder auch (aus ideologischen Gründen bejahte) Armut als wichtiger beurteilt werden konnten als Status, Ehre und Schande (Downing, 69ff). Auch Halvor Moxnes (175) stellt fest: „honor and shame coexist with other, less competitive values“.
4.2.2. „honor and shame“ – ein einheitliches Wertemodell in einem einheitlichen Kulturraum?
Ob und inwiefern der Mittelmeerraum tatsächlich als einheitlicher, in sich geschlossener Kulturraum zu begreifen ist, wird im Gefolge von Michael Herzfeld (1984) vielfach in Frage gestellt: „most ethnographers are uneasy about the prospect of lumping all parts of the Mediterranean together in one large honor and shame context“ (Chance, 141). Schon Peristiany und Pitt-Rivers, wesentliche anthropologische Bezugsgrößen für die exegetische Arbeit mit dem „honor-shame-Modell“, verwehren sich dagegen, die mediterrane Welt als einheitlichen Kulturbereich etablieren zu wollen (Horrell, 89); ein „ethnographic particularism“ (Herzfeld 1980, 349; Horrell, 94) sei hier eher am Platze. Dies nicht zuletzt aus dem Grunde, dass das dem Modell zugrunde liegende anthropologische Material nur in bestimmten Teilen des Mittelmeerraumes erhoben wurde (Herzfeld 1984, 439), was Generalisierungen, wie sie ein „Modell“ notwendigerweise mit sich bringt, doch zumindest fragwürdig macht. So wird Malina vorgeworfen, er zeige „no understanding of the present debate within the circles of cultural anthropology, regarding the problems of the creation of a Pan-Mediterranean mentality“ (Domeris, 292).
Mit diesen Generalisierungen, so die Kritiker, gehe auch eine Verunklarung in der Terminologie einher. „Honor and shame“, zunächst eingeführt als „parallel labels used by anthropologists to describe either physical conditions or human behavior of which a culture approves or disapproves“ (Matthews / Benjamin, 11), sind zur Pauschalbezeichnung für sehr vielfältige Vorstellungen und Werturteile geworden, die innerhalb des Mittelmeerraums stark variieren können; Begriffe, die sich als „Ehre“, „Scham“ oder „Schande“ verstehen lassen, können in unterschiedlichen sozialen Kontexten sehr verschieden konnotiert sein, bis hin zu divergierenden Einschätzungen hinsichtlich ihres positiven oder negativen Charakters (vgl. Herzfeld 1980). Als gemeinsames Charakteristikum macht Moxnes die geschlechtsspezifische Zuordnung von „honor and shame“ aus und folgert: „the thesis of a specific Mediterranean honor and shame culture holds, even if many aspects have been modified“ (169).
4.2.3. „honor and shame“ – ein Erklärungsmodell für biblisch-exegetische Wissenschaft?
Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind Erkenntnisse der Anthropologie und Sozialwissenschaften biblisch-exegetisch fruchtbar gemacht worden (Gunkel, Mowinckel, Dalman etc.). In dieser Tradition will das „honor-shame-Modell“ das Bewusstsein dafür stärken, dass die Menschen der Bibel anders gelebt und gedacht haben als heutige, westliche Menschen, und fragt danach, was in ihrer Kultur wichtig und leitend war. Problematisch ist allerdings, dass die dem Modell zugrundeliegenden soziologischen Daten hauptsächlich aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammen. So unterzieht William Domeris das Modell Malinas einer scharfen Kritik: Da die zum Teil fast wortgleichen Übernahmen aus den Untersuchungen von Pitt-Rivers nicht im Einzelnen kenntlich gemacht würden, „the reader does not realise that a twentieth-century Christian community (in Andalusia, Spain) is being used as a basis for reconstructing the values of first century Judaea!“ (292; ähnlich Chance, 141, vgl. Lawrence 2003, 30). Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass die im „honor-shame-Modell“ aufgegriffenen anthropologischen Studien sich meist auf abgeschiedene dörfliche Gemeinschaften beziehen (was dazu hilfreich sein mag, eine Vorstellung des antiken Galiläa zu gewinnen, vgl. Moxnes, 169), die komplexeren sozialen Zusammenhänge in Städten (die Anhaltspunkte für die Verhältnisse in vielen paulinischen Missionsgemeinden geben könnten) jedoch vergleichsweise wenig erforscht sind.
Diskutiert wird auch, ob sich Modelle überhaupt dazu eignen, das Verständnis biblischer Texte zu fördern. Steht dahinter womöglich ein einseitiges Kulturverständnis, das eine Kultur eher als statisches Studienobjekt denn als dynamischen sozialen Prozess wahrnimmt? Hier reichen Ausläufer einer soziologischen Kulturdebatte in die exegetischen Wissenschaften hinein.
Horrell (85), der sich als Kritiker eines „model-based approach to social-scientific New Testament interpretation“ versteht, beanstandet vor allem die Generalisierung und Simplifizierung, die mit dem Gebrauch von Modellen einhergeht; hier bestehe die Gefahr, dass die Interpretation dessen, was wahrgenommen und beobachtet wird, schon allzu sehr von dem vorgegebenen Modell geleitet wird (Horrell, 91; ähnlich Lawrence 2003, 22). Philip Esler wendet (auf der Basis eines sehr viel breiteren Verständnisses eines „Modells“, das er als „any kind of presupposition, theory, approach or method“ [zitiert bei Horrell, 85] versteht) ein, dass jeder Exeget sich dem Text mit einem vorgegebenen Modell nähert, das besser explizit gemacht als nur implizit vorausgesetzt sei. Mit Hilfe solcher Modelle ließe sich ferner einem postmodernen Relativismus wehren.
Die Generalisierungstendenz, die die Arbeit mit Modellen mit sich bringt, wird auch von Downing hinterfragt: „„Honor“ becomes a concept so polymorphous that it has little or no explanatory value“ – „A concept which explains everything explains nothing.“ (59)
Als Testfall für die Richtigkeit solcher Generalisierungen wird dabei immer wieder die Frage nach der unterschiedlichen Position der Geschlechter im honor-shame-Modell herangezogen. Moxnes (170f) hat darauf hingewiesen, dass etwa in Lk 18,1-8
Vor dem Hintergrund dieser und anderer Einwände lässt sich festhalten, dass der Ausgangspunkt exegetischer Arbeit der Text bleibt, nicht ein wie auch immer geartetes Modell (auch wenn das „honor-shame-Modell“ ein zweifellos nützliches Instrument ist). Für einen angemessenen Umgang mit dem „honor-shame-Modell“ rät Horrell (91) dazu, zunächst drei Fragen in Hinblick auf den biblischen Text abzuklären: „whether or not a particular encounter did in fact reveal any explicit concern for honour, whether the vocabulary used in (or to describe) the encounter is actually that of honour and shame, and if not, what the significance of the variations in terminology might be, and so on“.
Zu beachten ist auch, dass biblische Texte sich oft nicht einfach auf das „honor-shame-Modell“ beziehen lassen, sondern eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Zuordnungssystemen von Ehre, Scham und Schande reflektieren (s.o. 3.1), die auch verschiedene Vorstellungen von dem, was ehrbar, schamlos und schandhaft ist, implizieren. Mitunter wird ein solches Zuordnungssystem, dessen Existenz dabei natürlich vorausgesetzt ist, grundsätzlich in Frage gestellt, da es konfliktträchtig und nicht unbedingt gemeinschaftsfördernd ist (Domeris, 295, ordnet das Christentum nicht zuletzt deshalb den „counter-culture movements“ zu). So hängt es vom eigenen Ort innerhalb der sozialen Statushierarche ab, inwiefern Ehre, Scham und Schande für das eigene Verhalten handlungsleitend sind und wie sich die eigenen Konkretionen ehrbaren, schandhaften und als schamlos empfundenen Verhaltens zu den Vorstellungen des größeren sozialen Gefüges verhalten (vgl. hierzu Lawrence 2007, 283ff).
Möglicherweise gewinnen „honor-shame-Modell“ und „honor discourse“ also gerade dort an heuristischem Wert, wo die Dynamik kultureller (und gegenkultureller) Impulse analysiert werden soll; vor diesem Horizont lassen sich die Mechanismen sozialer Statuszuordnungen als Regulativ verstehen, das es Gruppen erlaubt, ihre Identität anhand geteilter Werte und Normen nach innen hin zu bestärken und im Konfliktfall nach außen hin abzugrenzen.
4.2.4. „honor and shame“ – ein Brückenschlag zwischen antiker und heutiger Welt?
Von seinem ursprünglichen Anliegen her (Malina 1981) will das „honor-shame-Modell“ Unterschiede aufzeigen, die zwischen heutigen (vor allem westlichen) Gesellschaften und den sozialen Hintergründen der biblischen Schriften bestehen.
Möglicherweise besteht hier eine Verwandtschaft zu der von Margaret Mead und Ruth Benedict in die anthropologisch-ethnographische Forschung eingeführten Unterscheidung zwischen „Schamkulturen“ und „Schuldkulturen“. Die im Hinblick auf die ontogenetische Entwicklung des Individuums formulierte These Sigmund Freuds, das Schamgefühl entwickle sich vor dem Schuldgefühl, wird hier phylogenetisch eingefärbt auf die handlungsleitenden Mechanismen einzelner Kulturen übertragen. Ob hier eine legitime und heuristisch wertvolle Differenzierung vorliegt oder „ethnographic chauvinism“ (Creighton, 279), wird diskutiert; Modifikationen des Modells beziehen sich vor allem auf den Stellenwert von Individuum und Gruppenzugehörigkeit im sozialen Zusammenhang (Creighton, 280ff; vgl. auch die damit verwandte Structure-Agency-Debatte, insbesondere die Beiträge von Louise Joy Lawrence und Zeba A. Crook).
Mit Recht wurde aber darauf hingewiesen, dass die Orientierung an dem, was Status, Prestige, Ehre und Ansehen bringt, keineswegs „exclusively Mediterranean“ sei (Herzfeld 1980, 339; ähnlich Horrell, 91 Anm. 20; Chance 140). Ob sich die Rolle der Frau in heutigen mediterranen Gesellschaften in so starker Kontinuität zu antiken Vorstellungen von Ehre, Scham und Schande bewegt, wie Renata Rabichev (60f) postuliert, sei dahingestellt; fest steht, dass die Evaluation des eigenen Ranges und Ansehens in einem größeren sozialen Kontext auch heutigen Menschen keineswegs fremd ist, auch wenn die Evaluationskriterien heute andere sein mögen (hierzu sehr instruktiv Downing, 55f). So kann eine Sensibilität für das menschliche Bedürfnis nach Ansehen und Einordnung in einen sozialen Rahmen (möglicherweise auch außerhalb dieses Rahmens) dazu beitragen, dass biblische Texte auch für heutige Leserinnen und Leser in einer treffenden Zuspitzung erschlossen werden können.
Literaturverzeichnis
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