Erdbeben (NT)
(erstellt: März 2013)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/47899/
1. Erdbeben als Teil biblischer Lebenswelten
Tektonisch gesehen, befindet sich der Mittelmeerraum – und damit die Lebenswelt der alt -wie neutestamentlichen Autoren - in der „tertiären eurasiatisch-afrikanischen Bruchzone“ (Wagner, 213): An den Nahtstellen der Afrikanischen, Arabischen, Anatolischen und Europäischen Platten falteten sich seit der Kreidezeit Gebirgsketten auf (Alpen, Apennin, Pontisches Gebirge, Taurus etc.). Diese Platten, die im östlichen Mittelmeerraum aufeinander treffen, sind jeweils ständig in Bewegung; daher kommt es an ihren Rändern zu Verwerfungen. So waren in der alttestamentlichen Lebenswelt Erdbeben häufig, namentlich im Bereich des Rotmeer-Jordan-Grabens, welcher den westlichen Rand der Arabischen Scholle markiert. Letztere reibt sich bei ihrer Nordbewegung an der Afrikanischen Platte, die sich in diesem Bereich in südlicher Richtung bewegt.
Die Quellenlage für Erdbeben in der Antike ist jedoch schwierig, da nur größere Erdbeben dokumentiert sind und die Dokumentation zudem selektiv ist. Auch aus diesem Grund beginnt Amirans Katalog erst um 100 v. Chr. Als groben Richtwert nimmt Amiran für → |pIsrael|&x] durchschnittlich zwei bis fünf größere Erdbeben pro Jahrhundert an. Insofern ist die in Am 1,1
Noch stärker als der Jordangraben und die angrenzenden Gebiete ist jedoch die kleinasiatische Halbinsel von Erdbeben betroffen – also der Raum, in dem vermutlich große Teile des Neuen Testaments entstanden sind. Maßgeblich dafür ist, dass sich die Anatolische Platte nach Westen bewegt und dabei auf die Ägäische Platte trifft, ihrerseits aber auch von der nach Norden driftenden Arabischen Platte Druck erhält. (Wagner, 213-215; Hütteroth/Höhfeld, 39-42). Im Jahre 17 n. Chr. wurde die römische Provinz Asia von einem besonders schweren Beben heimgesucht. Kaiser Tiberius leistete den zwölf betroffenen Städten Katastrophenhilfe in Form von finanzieller Unterstützung, Erlass der Abgaben und Entsendung von Experten für den Wiederaufbau (Tacitus, Ann. 2,47 [http://www.thelatinlibrary.com/tacitus/tac.ann2.shtml
In Kleinasien war es 60 n. Chr. wieder zu einem schweren Erdbeben gekommen. Tacitus verzeichnet es in Ann. 14,27 [http://www.thelatinlibrary.com/tacitus/tac.ann14.shtml
Festzuhalten ist, dass Erdbeben für die meisten Verfasser der biblischen Schriften zu ihrer natürlichen Lebenswelt gehörten.
Im griechischen und römischen Kulturkreis gab es bereits wissenschaftliche bzw. naturphilosophische Ansätze zur Erklärung von Erdbeben (zum Folgenden vgl. auch Sonnabend, 159-181). Das wissenschaftliche Nachdenken über Erdbeben begann mit den Vorsokratikern; die unterschiedlichen Positionen sind gesammelt bei Aristoteles, Meteor. 2,7-8 (365a-369a); Seneca, Quaest. Nat. 6 [http://www.thelatinlibrary.com/sen/sen.qn6.shtml]
Weithin galten Erdbeben jedoch als das Werk des Poseidon (vgl. z.B. Homer, Od. 4,505-510; Herodot, 7,129,4; Thukydides, 1,128,1; Artemidoros, Oneir. 2,38; Pausanias, 7,24,6), oder wurden auch als Prodigien aufgefasst (vgl. z.B. Cicero, Nat. Deor. 2,14 [http://www.thelatinlibrary.com/cicero/nd2.shtml
Die Extremerfahrung, dass buchstäblich „der Boden unter den Füßen schwankt“, legte eine religiöse Deutung nahe und eignete sich umgekehrt als → Metapher
2. Theophanie
Im Neuen Testament lässt sich die Thronsaalvision in Offb 4
In die Kategorie „Theophanie“ dürfte im weiteren Sinne auch das Erdbeben in Mt 27,51-54
Im Petrusevangelium (6,21 [http://www-user.uni-bremen.de/~wie/texteapo/Petrus.html]
Als Manifestation göttlicher Präsenz wird das Beben von Mt 27,51
Als Manifestation der Gegenwart Gottes bei der betenden Gemeinde, wenn auch nicht als Theophanie im engen Sinne, ist auch das Beben in Apg 4,31
Ein Sonderfall in diesem Feld ist schließlich das Erdbeben in Apg 16,26
3. Straf- und Endgericht
Die Manifestation des Göttlichen deckt im Kontrast auch die menschliche Bedingtheit und Unzulänglichkeit auf. Insofern lag es nahe, Erdbeben auch als direkte Strafmittel aufzufassen, mit denen Gott menschliche Selbstsicherheit sehr deutlich erschüttert. Auf diesem Wege konnten Erdbeben auch zu einem festen Bestandteil von Szenarien der Endzeit bzw. des Endgerichts werden.
Als Element des endzeitlichen Strafgerichts spielt das Erdbeben im Neuen Testament vor allem in der → Johannesapokalypse
Eine etwas andere Sicht von Erdbeben begegnet in der Synoptischen → Apokalypse
4. Ausblick
Wie oben (1.) skizziert, sind schwere Erdbeben an den Rändern der großen Kontinentalplatten ein häufiges Phänomen – in der Antike wie in der Gegenwart. Oft erleben die betroffenen Menschen in diesen Katastrophen den Untergang ihrer jeweiligen Welt, die ihnen bisher vertraut war. Dennoch sind schwere Erdbeben an sich keine Anzeichen für den bevorstehenden Untergang der ganzen Welt (vgl. z.B. http://www.lectiobrevior.de/2011/03/erdbeben-als-apokalyptische.html
Literaturverzeichnis
- Amiran, D.H.K., 1950-51/1952, A Revised Earthquake-Catalogue of Palestine, IEJ 1, 223-246; IEJ 2, 48-65
- Amiran, D.H.K. et al., 1994, Earthquakes in Israel and Adjacent Areas: Macroseismic Observations since 100 B.C.E., IEJ 44, 260-305
- Amiran, D.H.K., 1996, Location Index for Earthquakes in Israel since 100 B.C.E., IEJ 46, 120-130
- Bauckham, R., 1977, The Eschatological Earthquake in the Apocalypse of John, NT 19, 224-233 (= Ders., The Climax of Prophecy. Studies on the Book of Revelation, Edinburgh, 1993, 199-209)
- Ehmig, U., 2012, Auf unsicherem Boden: Zur epigraphischen Evidenz von Erdbeben, Klio 94, 291-299 (Lit.)
- Graf, F., 2010, Earthquakes and the Gods. Reflections on Graeco-Roman Responses to Catastrophic Events, in: J. Dijkstra, J. Kroesen, Y. Kuiper (Hgg.), Myths, Martyrs, and Modernity (FS J.N. Bremmer), Leiden – Boston, 95-113
- Guidoboni, E., 1994, Catalogue of Ancient Earthquakes in the Mediterranean area up to the 10th century, übers. von B. Phillips, Roma
- Hütteroth, W.-D. / Höhfeld, V., Türkei (Wissenschaftliche Länderkunden), Darmstadt, 2002
- Jeremias, J., 1994, „Zwei Jahre vor dem Erdbeben“ (Am 1,1
), in: P. Mommer / W. Thiel (Hgg.), Altes Testament. Forschung und Wirkung (FS H. Graf Reventlow), Frankfurt/M. u.a., 15-31 - Kreitzer, L., Living in the Lycus Valley. Earthquake Imagery in Colossians, Philemon and Ephesians, in: J. Mrázek / J. Roskovec (Hgg.), Testimony and Interpretation. Early Christianity in its Judaeo-Hellenistic Milieu (FS P. Pokorný) (JSNT.S 272), London, 2004, 81-94 (Ders.,Hierapolis in the Heavens. Studies in the Letter to the Ephesians (LNTS 368), London – New York, 2007, 93-106
- Luz, U., 2002, Das Evangelium nach Matthäus. 4. Teilband. Mt 26—28 (EKK I/4), Zürich / Neukirchen-Vluyn
- Murray, J.S., 2005, The Urban Earthquake Imagery and Divine Judgement in John’s Apocalypse, NT 47, 142-161
- Soggin, J.A., 1970, Das Erdbeben von Amos 1 1 und die Chronologie der Könige Ussia und Jotham von Juda, ZAW 82, 117-121
- Sonnabend, H., 1999, Naturkatastrophen in der Antike. Wahrnehmung – Deutung – Management, Stuttgart – Weimar
- Wagner, H.-G., 2001, Mittelmeerraum (Wissenschaftliche Länderkunden), Darmstadt
- Weaver, J.B., 2004, Plots of Epiphany. Prison-Escape in the Acts of the Apostles (BZNW 131), Berlin – New York
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)