Essener
Andere Schreibweise: antik: Essäer; engl. Essenes; frz. Esséniens
(erstellt: Oktober 2015)
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Mit den Termini „Essener“ (gr. ʾΕσσηνοί / Essēnoi; lat. Esseni) bzw. „Essäer“ (ʾΕσσαῖοι / Essaioi), bei Epiphanius später noch „Ossäer“ (ʾΟσσαῖοι / Ossaioi), wird in einer Reihe jüdischer, paganer und später christlicher Texte (→ 2.) auf eine religiöse Bewegung innerhalb des antiken Judentums verwiesen. Als eine der drei großen, von Josephus erwähnten ‚Religionsparteien‘ (αἱρέσεις / haireseis) stehen die Essener neben den → Pharisäern
1. Die Bezeichnung und ihre Herleitung
Die Bezeichnung Essener (und ihre Varianten) ist in den antiken Zeugnissen nicht als Selbstbezeichnung, sondern nur als Fremdbezeichnung belegt. Wie sich die betreffenden Kreise (hebräisch oder aramäisch) selbst nannten, ist unsicher bzw. allenfalls aus den Qumran-Texten und den dort belegten Selbstbezeichnungen zu konjizieren.
Erklärungen des Namens wurden bereits in der Antike gegeben. Philo (Prob 12) bringt ihn mit griech. ὅσιος / hosios = heilig zusammen. Neuzeitliche Forscher haben eine Ableitung von dem aramäischen status determinatus אסיא (ʼasyāʼ) = Heiler (unter Verweis auf Philos „Therapeuten“) oder von hebr. עשה (ʽaśāh) = tun, nach 1QpHab VII 11 „Täter der Torah“ vorgeschlagen. Weiter wurden Ableitungen von dem Ortsnamen Essa (῎Εσσα / Essa), also „die Leute von Essa“ (= → Gerasa
In dem ebenfalls aus der Zeit vor dem yachad stammenden aramäischen Levi-Dokument (4Q213a 3-4 6) ist wohl die Form חסיה (chasyāh) „die Frommen“ belegt, das hebr. Äquivalent חסיד bzw. die Plural-Form חסידין (chasîdîn) findet sich in Brief aus dem Wadi Murabba‘at (Mur 45 6) als Teil einer Ortsbezeichnung „Festung der Frommen“. Auch wenn der Bezug dieser Briefstelle auf die Ruinen von Qumran und somit der Bezeichnung „Fromme“ auf deren (ehemalige) Bewohner nicht sicherzustellen ist, könnte der Beleg die vorgeschlagene Etymologie stützen, da er belegt, dass man zur Bar-Kochba-Zeit unter den Aufständischen noch von einer Niederlassung von „Frommen“ in der Gegend am → Toten Meer
2. Die antiken Quellen
2.1. Primär- und Sekundärquellen
Grundlegend wird eine Gruppe so genannter „Essener“ (ʾΕσσαῖοι, ʾΕσσηνοί, Esseni) erwähnt bei:
- → Philo von Alexandrien
, Quod omnis liber probus sit 75-91; Apologia pro Iudaeis (bei Euseb, PraepEv VIII 11,1 / 18); De vita contemplativa (wo eine Gruppe von „Therapeuten“ beschrieben wird, für die eine Beziehung zu den zu Beginn der Schrift erwähnten Essenern erwogen wird, über die Philo in einer anderen, verlorenen Schrift De virtutibus gehandelt hat); - Plinius der Ältere, Historia naturalis V 73;
- → Flavius Josephus
, De bello Iudaico I 78-80; 111-113; 119-161; 566-8; III 9-12; V 142-145; Antiquitates Iudaicae XIII 171-172; XV 371-379; XVIII 18-22; De vita sua 10-12.
In zweiter Linie taucht diese Gruppe in den folgenden Texten auf:
- Hippolyt, Refutationes IX 18,2 / 28,2; Solinus, Memorabilia XXXV 10-1 und Dio Chrysostomos (nach einer Notiz bei Synesios von Kyrene, Dio 3,2); hinsichtlich dieser Belege wird erörtert, ob sie über Josephus und Plinius hinaus auch zusätzliche unabhängige Informationen bieten (s. Taylor, Sources, 184-188).
- Martianus Capella, De nuptiis philologiae VI 679 ist eine Kurzfassung von Plinius (Taylor, Sources, 174); Porphyrius (De Abstinentia IV 11 / 13) basiert auf Josephus. Der Häresiologe Epiphanius, Panarion XIX 1,1; 2,3; bietet in seinem Bericht über „Ossaioi“ an der Ostseite des Toten Meeres, die er aufgrund der Herleitung von „Jesse“ = Isai auch noch „Issaioi“ nennt und mit den Elkesaiten verwechselt, wenig Vertrauenswürdiges.
Die primären antiken Zeugnisse sind Josephus (vor allem das große Essenerreferat Bell II 119-161), Philo (Prob und Apol) und Plinius. Daneben erwähnt Josephus mehrfach einzelne Essener und spricht an mehreren Stellen von den drei „Schulen“ / „Religionsparteien“ der Pharisäer, Sadduzäer und Essener.
2.2. Die einzelnen Zeugnisse
2.2.1. Plinius
Plinius erwähnt die Esseni in seiner 77 n. Chr. fertiggestellten Naturgeschichte (V 73) als einen merkwürdigen „Stamm“ (gens) am Westufer des Toten Meeres, der „ohne jede Frau…, ohne Geld, nur in Gemeinschaft von Palmen lebe“ und sich nur durch den Zustrom lebensmüder Beitretender fortpflanze. „infra hos“, d.h. stromabwärts, lägen Engada (= En Gedi) und die Festung Masada. Auf dieser Lokalisierung basiert die kurz nach den Qumran-Funden schon 1948 von Eleasar Lipa Sukenik vorgeschlagene und dann von der Mehrzahl der Forscher übernommene Zuschreibung von der Anlage von Qumran und der dortigen Textfunde an Essener. Freilich ist für Plinius, der Judäa im Frühjahr 70 n. Chr. mit → Vespasian
2.2.2. Philo
Philo erwähnt die Essener als Beispiel des edlen Charakters der jüdischen Religion dreimal (neben Prob 75-91 und Apol in einer verlorenen Schrift De virtutibus, die er am Anfang von VitCont erwähnt). Unter den Weisen nennt er neben persischen → Magi und indischen Gymnosophisten 4000 ʾΕσσαῖοι / Essaioi in → Palästina
Als Pendant zu den aktiv lebenden Essenern beschreibt er eine kontemplativ lebende Gruppe von ‚Therapeuten‘ am Mareotischen See bei → Alexandrien
2.2.3. Josephus
Josephus schließlich bietet die detailliertesten Referate. Strittig ist, ob und inwiefern er darin von Quellen abhängig ist oder ob und inwiefern seine Notizen von eigener Kenntnis zeugen. Auch wenn seine Behauptung, alle philosophischen ‚Schulen‘ seiner jüdischen Welt durchlaufen zu haben (Vita 11) unglaubwürdig ist und er die Essener also kaum aus eigener Erfahrung kennt, dürfte er durch seine Rolle im → Jüdischen Krieg
Der Bericht hat aufgrund seiner vielen Details und auffälliger Entsprechungen zu den Regeltexten aus Qumran (Gütergemeinschaft, Aufnahmeverfahren, Arkandisziplin, Strafen, Sabbatobservanz, Reinheit, Gemeinschaftsmahl) die Diskussion nach dem Verhältnis der Essener zur Qumran-Gemeinschaft bestimmt.
3. Historische Auswertung
Zwischen den Berichten der drei antiken Autoren bestehen freilich deutliche Differenzen hinsichtlich der Bezeichnung (Essener vs. Essäer), der ethnischen Einordnung (Juden nach Josephus und Philo; ein „Stamm“ nach Plinius), ihrer geographischen Verbreitung (Plinius: am Toten Meer; Josephus und Philo: in allen Städten und Dörfern Judäas), aber auch sachlich: Waren sie eine Philosophengruppe (Philo) oder prophetisch-politisch aktiv (so die prophetischen Essäer bei Josephus)? Waren sie todesverachtende → Märtyrer
Angesichts dieser Differenzen und anderer Indizien hat die Forschung für Philo und Josephus die Benutzung von Quellen vermutet. Zuletzt nahm Bergmeier (Essener-Berichte, 114-116) vier Quellen des Josephus an: Essäer-Anekdoten, eine Drei-Schulen Quelle, eine hellenistisch-jüdische Essäer-Quelle, die auch Philo vorgelegen hatte, und eine über die Qumran-Gemeinde gut informierte pythagoraisierende Quelle für das Referat in Bell II. Freilich ist die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, solche Quellen noch klar zu isolieren, in der neueren Forschung deutlich gewachsen (Mason; Frey), und für Josephus ist mit gewissen Kenntnissen und (wie bei Philo) idealisierenden sowie apologetischen Tendenzen zu rechnen. Spezifische Interessen könnten die Unterschiede zwischen den Berichten z.B. über Ehelosigkeit und Heirat, Pazifismus und Widerstand, politische Prophetie und ein ruhiges Landleben erklären, anderes mag auf Quellenverwendung zurückgehen und auf unterschiedliche Teilgruppen oder Perioden der Bewegung zu beziehen sein. Generell bietet auch das detaillierteste Referat des Josephus mehr über Sitten und Kuriositäten und weniger über den Glauben und die Lehre der Essener, was wohl auf die Arkandisziplin dieser Gruppe zurückzuführen ist (Bell II 142; s. 1QS IV 5-6; IX 16-17; X 24-25). Theologische Aspekte sind bei Josephus in hellenistische Termini gefasst (Unsterblichkeit der Seele; Schicksal), die kaum der Sprache der palästinisch-jüdischen Gruppe entsprechen. Rätselhafte Details wie die Erwähnung von Gebeten vor Sonnenaufgang „zur Sonne“ lassen sich kaum auf pythagoreische Einflüsse hin auswerten, sondern könnten eher ein unpräzises Verständnis der an Sonnenlauf und Kalender orientierten Gebete zeigen. Details der Schriftinterpretation und der → eschatologischen Erwartung
Während viele Übereinstimmungen zwischen dem Essenerreferat des Josephus und der Gemeinderegel 1QS (z.B. zu Gütergemeinschaft und Mählern) oder auch anderen Regeltexten aus Qumran relativ unspezifisch bleiben, sind es vor allem zwei Details, die einen Bezug der Regel aus 1QS und anderer Regeln des yachad auf gleiche oder verwandte Gruppen nahelegen: das Verbot des Ausspeiens (II 147; vgl. 1QS VII 13) und die Meidung von Öl (Bell II 122), die verständlich ist, wenn Öl → Unreinheit
4. Die Qumran-Funde und die Essener
Wenn ein Bezug zwischen dem yachad der Qumran-Texte und den Essenern anzunehmen ist bzw. der yachad den Essenern zuzuordnen ist, so ist doch die präzise Beziehung beider fraglich. Während die ältere Forschung die Regeln 1QS, 1QSa, CD und andere gruppenspezifische Texte wie die Hodayot (1QHa) oder den Habakuk-Pescher (1QpHab) auf eine einzige Gemeinschaft bezog (und diese oft noch mit der Ortslage von Qumran verband), ist die neuere Forschung hier wesentlich differenzierter. Die Frage, wie der yachad bzw. die „Qumran-Gemeinde“ zu fassen ist, ist zuletzt deutlich in Bewegung gekommen.
Während D von mehreren Ansiedlungen (genannt „Lagern“) spricht, deren Bewohner verheiratet sind und Kinder haben und auch nach 1QSa Frauen und Kinder zur Gemeinschaft gehören, spricht S ebenfalls von mehreren Gemeinschaften (mit einem Quorum von 10 Männern), aber erwähnt Frauen und Kinder nicht. Zudem differieren die verschiedenen Handschriften von D und S in einzelnen Details, d.h. beide Regeln existierten in verschiedenen Rezensionen, und ältere Formen wurden noch kopiert, nachdem neuere entstanden waren (Metso), und auch zwischen den Regeln von S und D gibt es zahlreiche Differenzen. Schon früh nahmen Forscher an, dass beide Texte für verschiedene Zweige der Bewegung (verheiratete und zölibatäre Essener) gedacht seien oder Entwicklungsstadien der Bewegung repräsentierten, wobei die Abfolge unterschiedlich bestimmt wurde.
Deutlich ist jedenfalls, dass der yachad keine völlig uniforme Organisation war, sondern eher eine ‚Dachorganisation‘ von Gemeinschaften an verschiedenen Orten (Collins, Yahad, 85-86). Die unterschiedlichen ‚Rezensionen‘ der Regeln könnten von diesen Orten nach Qumran gebracht worden sein könnten (Schofield; Collins, Communities). Trotz der Differenzen lassen sich bestimmte Gemeinsamkeiten der Theologie und Weltanschauung festhalten.
Zu bedenken ist weiter, dass nach neuerer archäologischer Einsicht (Magness) die Anlage von Qumran erst nach der Abfassung der wichtigsten Regeltexte (1QS, 1QSa, CD) in Betrieb genommen wurde und diese Regeln noch für eine Pluralität von „Lagern“ (CD) bzw. Orten (1QS) in Judäa verfasst sind, nicht spezifisch für die Ortslage am Toten Meer. Dies entspricht den Angaben von Philo und Josephus, die mit Essenern in vielen Orten Judäas rechnen.
Eine modifizierte Essenerhypothese kann daher den (differenziert und flexibel verstandenen) yachad mit der Bewegung bzw. Religionspartei der Essener zusammenbringen, ohne dass genau zu spezifizieren wäre, ob beide deckungsgleich sind oder der Terminus „Essener“ eine weitere Bewegung bezeichnet. Klar ist jedenfalls, dass diese Bewegung nicht auf die Ortslage von Qumran zu beschränken ist. Das für die Qumran-Texte lange beherrschende (und durch die ältere Deutung der antiken Essenertexte mit beeinflusste) Kloster-Paradigma ist definitiv überholt.
5. Ältere Deutungen der Essenertexte und ihre Nachwirkungen
Vor den Qumran-Funden waren die antiken Essenertexte bereits Gegenstand einer wechselvollen Deutungsgeschichte (Wagner; Frey, Jesus, 12-14). Wesentlich war insbesondere, dass die Texte von Philo und Josephus von der großen Mehrheit der Kirchenväter seit Euseb (h.e. II 16-17) und Hieronymus (vir. ill. 11) auf christliche Asketen gedeutet worden war.
Damit war ein Paradigma entstanden, das mit wenigen Ausnahmen (wie z.B. Photius, cod. 103-104) durch das ganze Mittelalter hindurch Bestand hatte. Kritik regte sich erst bei einigen reformatorischen Theologen, die die ‚Möncherei‘ als späten Rückfall ins jüdische Gesetz verwerfen wollten und die Therapeuten und Essener Philos als jüdische → Asketen
Seit Johann Georg Wachter (in seiner Schrift De primordiis Christianae reliigionis, 1713) vermutet hatte, Jesus sei von den Essenern (= ‚Therapeuten‘) instruiert gewesen, wurden immer wieder Verbindungen zwischen Essenismus und Christentum aufgestellt. Ernest Renan wollte das Christentum als eine Spielart des Essenismus ansehen, Jakob Klausner alles Nicht-Pharisäische am → Urchristentum
Diese Deutungen wurden z.T. aufgenommen, als ab 1948 die Qumran-Texte und die Anlage von Qumran mit Essenern verbunden wurden, so dass die alten Traditionen der Essenerdeutung ‚vor Qumran‘ auch auf die Deutung der Textfunde Einfluss genommen haben. Das ‚Kloster-Paradigma‘ deutete Qumran, seine Anlage und seine Regeln nach dem anachronistischen Vorbild christlichen Mönchtums; immer wieder wurde versucht (so in populären Veröffentlichungen), Johannes den Täufer oder auch Jesus und → Paulus
Alle diese Spekulationen sind obsolet, wenn man das Selbstverständnis des yachad aus den Qumran-Texten erhebt und diese Bewegung als eine dezidiert jüdisch-traditionsorientierte, priesterlich dominierte Bewegung ansieht, deren strenge → Halacha
Literaturverzeichnis
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