Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Januar 2011)

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1. Definitionen

Wenngleich von einer Ethik des Neuen Testaments seit 1899 (s.u.) gesprochen wird, hat sich dieser Begriff erst Jahrzehnte später, im Ausgang des 20. Jh.s, durch explizite Lehrbücher zur neutestamentlichen Ethik durchgesetzt (vgl. Schrage, Schulz, Schnackenburg, Lohse, Marxsen). Der Begriff der Ethik mit Bezug auf den → Kanon der neutestamentlichen Schriften ist von den in der Forschung auch gebräuchlichen Begriffen Moral, Ethos, → Paränese, Paraklese und Sittlichkeit folgendermaßen abzugrenzen: Ethik ist eine theoretische Reflexion über ein gefordertes menschliches Verhalten und sie legt dessen Begründung, Inhalt und Zielsetzung dar. Da in den neutestamentlichen Schriften diese theoretische Reflexion weder umfänglich angestrebt noch in wünschenswerter Klarheit in auch nur einer einzigen Schrift geboten wird, raten manche Exegeten dazu an, nach den impliziten Strukturen der Ethik zu suchen (Zimmermann). Die Darlegung einer Ethik des Neuen Testaments ist in jedem Fall eine konstruktive Aufgabe der Exegese. Demgegenüber beschreibt Ethos das faktische, oft unreflektierte, übliche Verhalten in den neutestamentlichen Schriften. Der Begriff Moral wird in der deutschsprachigen Exegese in Entsprechung zur antiken Verwendung von moralia/ἠθικά oft äquivok mit Ethik gebraucht, in der angloamerikanischen Exegese (als „morality“) hingegen eher mit Ethos gleichgesetzt (Meeks). Die Begriffsgeschichte von Paränese ist komplex und wechselt zwischen einer theologischen (Popkes) und einer literarischen Verwendung (Engberg-Pedersen). Paraklese hingegen kann, anders als Paränese, auf ein breites Vorkommen im Neuen Testament blicken und ist insbesondere auf die apostolische Mahnung zu beziehen. Bis in die 3. Auflage der RGG wurde von Sittlichkeit des Neuen Testaments und nicht von Ethik gesprochen. Mittlerweile findet dieser Begriff jedoch kaum noch Verwendung, da er in zu starker Verbindung mit dem allgemeinen Sittengesetz steht und eine problematische individualethische Ausrichtung hat.

2. Forschungsgeschichte

Die erste Gesamtdarstellung der Ethik des Neuen Testaments wurde 1899 von Herrmann Jacoby verfasst, einem ordentlichen Professor für Praktische Theologie und späteren Rektor der Universität Königsberg. Er interessierte sich für die praktische, diakonische Ausrichtung des zeitgenössischen Christentums und suchte eine biblische Grundlegung. Bereits zuvor, in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, hatte die sozialgeschichtliche Forschung im Licht der Sozialen Frage Einzug in die wissenschaftliche Theologie gehalten (Weitling, Lücke, Heinrici, Uhlhorn; dazu ausführlich Hochschild). Einen dezidiert wissenschaftlichen Charakter gewann diese frühe sozialgeschichtliche Forschung jedoch erst um die Wende zum 20. Jh. Durch Ernst von Dobschütz wurde ein „Sittenbild“ der urchristlichen Gemeinden gezeichnet und Adolf Deißmann verknüpfte die Volkskunde sowie die Papyrologie und → Epigraphik in erhellender Weise mit dem Leben der ersten Christen. Sozialgeschichtliche Fragen wurden auch von Adolf von Harnack in seine Beschreibung der Mission und Ausbreitung des Christentums integriert. Ausdruck dieser neuen Fragestellung waren etliche Untersuchungen, die nach der Stellung von → Sklaven und → Frauen in den frühchristlichen Gemeinden fragten. Mit hoher Sensibilität für die Landes- oder Palästinakunde widmeten sich Gustaf Dalman, Joachim Jeremias, Johannes Leipoldt u.a. der Beschreibung des Landes und schufen so ein Verständnis für die Wechselwirkung von dessen Kultur und dem Handeln seiner Bewohner.

Während diese Forschung vornehmlich am realen Leben der urchristlichen Gemeinden interessiert war, suchte die frühe Dialektische Theologie nach einem Verständnis für die Struktur der Ethik innerhalb des Glaubens. Sachlich markierte dies einen Bruch zur frühen sozialgeschichtlichen Forschung, deren Anliegen erst im letzten Drittel des 20. Jh.s erneut aufgenommen wurde. Gleichzeitig erschienen im Jahr 1924 in der „Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der Älteren Kirche“ von Hans Windisch und Rudolf Bultmann zwei Aufsätze zur Ethik des Paulus, in denen die bereits vorher gelegentlich gebrauchten Begriffe „Indikativ“ und „Imperativ“ und die Frage ihrer Zuordnung ins Zentrum traten.

Bultmann bezieht den Indikativ auf die aus der Rechtfertigung erwachsende Realität der Gerechtigkeit und Freiheit von der Sünde. Folglich besteht die Sündlosigkeit in Gottes Urteil über den Glaubenden und nicht in dessen Vermögen, ethisch gut zu handeln. Gleichwohl bezieht sich der Imperativ auf den vorgängigen Indikativ. Dieses Verhältnis von Indikativ und Imperativ wird von Bultmann als echte Antinomie aufgefasst, da es jeweils um den Menschen einerseits als Gerechtfertigten und andererseits als Empirischen in seinen Verfehlungen geht. Beide Seiten entsprechen im Glauben einander und sind aufeinander bezogen. Der Versuch, mittels des Indikativ-Imperativ-Schemas nicht nur die paulinische, sondern die gesamte neutestamentliche Ethik zu erfassen, hat in der deutschsprachigen Exegese das gesamte 20. Jh. bestimmt (dazu Blischke, 21-38) und ist noch heute aktuell. Im angloamerikanischen und im romanischen Sprachraum hingegen war der Einfluss Bultmanns deutlich geringer.

Alle Fragen der materialen Ethik sind in der Kerygma-Theologie relativ unbeachtet geblieben. Auch in Bultmanns 1958 erschienener „Theologie des Neuen Testaments“ bleibt es bei einer erneuten Darlegung der Struktur des Glaubens in Indikativ und Imperativ (§ 38.1). Martin Dibelius allerdings, neben Bultmann Hauptvertreter der formgeschichtlichen Schule (→ Bibelauslegung, historisch-kritische 6. Formkritik / Formgeschichte), hatte durch religionsgeschichtlich ausgerichtete Kommentare zu neun paulinischen und deuteropaulinischen Briefen sowie zum Hirt des Hermas (in der Reihe HNT) und zum Jakobusbrief (in der Reihe KEK) auf die ethischen Fragen der christlichen Gemeinden im Übergang zum 2. Jh. deutlich hingewiesen. Von seinen Schülern haben Ernst Lohmeyer, Heinz-Dietrich Wendland und Heinrich Greeven die ethische Thematik in ihren Arbeiten aufgenommen und fortgeführt. Zu erwähnen ist auch Herbert Preisker, der seit seiner Dissertation aus dem Jahr 1915 fast ausschließlich zu Fragen der Ethik geforscht und veröffentlicht hat (vgl. bes. 2. Aufl. 1949 „Das Ethos des Urchristentums“).

Die ersten größeren monographischen Darstellungen der neutestamentlichen Ethik im deutschsprachigen Raum erschienen, nicht zuletzt unter dem Eindruck der gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen, in den 1980er Jahren (Wolfgang Schrage, Siegfried Schulz, Willi Marxsen, Rudolf Schnackenburg, Eduard Lohse; dazu ausführlich Horn, 1995). Sie orientierten sich überwiegend an der redaktionsgeschichtlichen Methode (→ Bibelauslegung, historisch-kritische 5. Redaktionskritik / Redaktionsgeschichte) und zeichneten das ethische Profil der einzelnen neutestamentlichen Schriften nach. In historischen Längsschnitten wird die Ethik ausgehend von der Verkündigung Jesu über die frühen Gemeinden, Paulus und die deuteropaulinischen Schriften bis hin zu den neutestamentlichen Spätschriften dargestellt. Der theologische Anspruch der Ethik wird jeweils betont, allerdings nur selten in synthetisierender Weise in Bezug auf den Kanon.

Etwa gleichzeitig setzte auch in Deutschland erneut eine sozialgeschichtliche Erforschung der Anfänge des Christentums ein, die weniger nach der expliziten Ethik und ihrer Begründung fragte, sondern nach dem Ethos der Christen und seinen sozialen Bedingungen. Hierfür wurde ein differenziertes methodisches Raster entwickelt. Bahnbrechend waren die verschiedenen Arbeiten Gerd Theißens, angefangen von der „Soziologie der Jesusbewegung“ aus dem Jahr 1977. Die Auswahlbibliographie zur Sozialgeschichte des Urchristentums seiner „Studien zur Soziologie des Urchristentums“ (Theißen, 3. Aufl. 1989, 331-370) vermittelt einen Eindruck von dem Umfang und der Intensität dieser seinerzeit neuen Methode. Die Übersetzung etlicher Arbeiten des führenden amerikanischen Sozialgeschichtlers Wayne Meeks in die deutsche Sprache trug sicher auch zu ihrer Etablierung bei. Daneben setzte sich auch die kulturanthropologische Methode durch, die für sich reklamiert, einen Brückenschlag zwischen einer ideengeschichtlichen und einer sozialgeschichtlichen Auslegung herzustellen (Malina, E.W. Stegemann / W. Stegemann).

3. Aufgabe

Gegenwärtig bestimmen unterschiedliche Modelle die Diskussion (vgl. dazu Hays, 2006, 3-19). Sie unterscheiden sich vor allem durch die jeweiligen Bezugspunkte der Darstellung. Wenn dies der Kanon der neutestamentlichen Schriften ist, orientiert sich eine Ethik des Neuen Testaments notwendigerweise ausschließlich an diesem. Sie beschreibt in historischer Rekonstruktion die Ethik der einzelnen Schriften, bündelt eventuell auf das Gemeinsame und beschreibt den theologischen Anspruch. Diese Aufgabe steht hinsichtlich ihrer Anlage und Durchführung, aber auch bezüglich ihrer Themen in großer Nähe zu einer Theologie des Neuen Testaments, da beständig die Verbindungen zur Christologie, Eschatologie, Ekklesiologie und Anthropologie darzustellen sind.

Wenn hingegen die Geschichte des frühen Christentums bis zum Beginn des 2. Jh.s der Bezugspunkt der Darstellung ist, erhebt die Forschung in einer historischen, vorwiegend sozialgeschichtlichen Fragestellung das faktische Ethos, die Moral der frühen Christen. Hierbei kann nicht allein das Neue Testament Grundlage der Rekonstruktion sein. Vielmehr müssen alle für den Zeitraum des 1. Jh.s n. Chr. und den mediterranen Raum zur Verfügung stehenden Quellen und materialen Überreste einbezogen werden.

Derzeit bewegt sich die Forschung mehrheitlich auf eine Schnittmenge beider Modelle zu, da die Darstellung einer Ethik des Neuen Testaments ohne sozialgeschichtliche Fundierung ein historisch fragwürdiges, idealistisches Bild zeichnen würde. Eine rein historische Beschreibung des Ethos des frühen Christentums jedoch würde den etlichen Texten des Neuen Testaments inhärenten theologischen Anspruch missachten.

Beiden Modellen wird ein hohes Interesse entgegengebracht, das entweder im Sinn einer Applikation Maßstäbe gegenwärtigen Handelns aus der Ethik des Neuen Testaments bzw. aus dem Ethos der frühen Christen gewinnt oder aber gerade die Abständigkeit modernen Christentums von seinen antiken Voraussetzungen betont. In jedem Fall ist ein biblizistischer Rekurs auf die neutestamentlichen Texte auszuschließen, wenn die gegenwärtige Ethik nicht in anachronistischer Weise einfach eine Kopie der vergangenen urchristlichen Ethik darstellen soll. Dieser Weg ist wegen der grundlegend veränderten politischen, sozialen, rechtlichen oder kulturellen Rahmenbedingungen ohnehin unangemessen. Der von Richard Hays formulierte vierfache Zugang, die Ethik des NT deskriptiv, synthetisch, hermeneutisch und pragmatisch zu erfassen, ist vielfach akzeptiert worden. Die Aufgabe muss meines Erachtens lauten, die Ethik des NT im Kontext antiker Diskurse in hellenistisch-römischer Zeit und innerhalb der sozialen Wirklichkeit der frühen Kaiserzeit wahrzunehmen und ihre Einbindung in die frühchristliche Theologie zu bedenken. Eine Hermeneutik (→ Bibelauslegung, christliche) ethischer Texte ist ein dringendes Desiderat der Forschung.

4. Konstitutionsbedingungen

Die Umkehrpredigten → Johannes des Täufers und Jesu wenden sich exklusiv an das Volk Israel. Während beim Täufer allerdings das → Gericht und der unmittelbar bevorstehende → Zorn Gottes diese → Umkehr begründen sollen, scheint in der Verkündigung Jesu eher die Herrschaft Gottes als eine sich über ganz Israel durchsetzende Macht im Zentrum zu stehen. Die Täuferpredigt zielt auf eine exklusive Gruppe Umkehrender innerhalb Israels und scheint die Vorstellung des Abrahambundes (→ Abraham; → Bund) als eines auf ganz Israel bezogenen Konzepts in Frage zu stellen. Demgegenüber ist für die Verkündigung und das Verhalten Jesu gerade die Ansprache derjenigen Menschen grundlegend, deren Stellung im Gottesvolk, zumeist aufgrund halachisch vollzogener Ausgrenzung, fragwürdig ist. Der direkte Zugang zum historischen Jesus, seinen Worten und Taten, ist nicht möglich, da wir in den Evangelien immer nur auf den erinnerten Jesus stoßen, also auf das Bild, das man sich im Ausgang des 1. Jh.s von ihm machte. Die Bedürfnisse der Gemeinden nach ethischer Orientierung steuerten fraglos die Rezeption und Verschriftlichung der Jesusüberlieferung. Hierbei wurden ursprünglich rein innerjüdische Konflikte und Diskussionen auf die Ebene gemischter Gemeinden von Juden- und Heidenchristen übertragen. Jesus steht hierbei in den Evangelien formal auf der literarischen Ebene noch innerhalb einer jüdischen Auseinandersetzung, sein Wort und Verhalten allerdings eröffnet in diesem Rezeptionsprozess den gemischten christlichen Gemeinden eine Absetzbewegung vom Judentum und führt zu einem anderen, von Jesus her kommenden und auf ihn bezogenen neuen Ethos. Charakteristisch sind die Dominanz des → Liebesgebotes und das Zurücktreten der halachischen Normen.

Das frühe Christentum teilte eine Vielzahl ethischer Vorstellungen und Normen mit seinem jüdischen und nicht-jüdischen Umfeld. Diese wurden durch den sich ausbildenden neuen Glauben nicht in Frage gestellt. Was aber führte – unbeschadet dieser Schnittmenge – zur Ausbildung einer spezifisch christlichen Ethik in den Anfängen des Urchristentums? Mehrere Faktoren sind erkennbar: a) Die soziale Stellung der Christengemeinden als Hausgemeinden begünstigte eine lebensweltliche Distanz und Differenz zu der nichtchristlichen Umwelt, die von allen Seiten wahrgenommen und thematisiert wurde (1Petr 2,12). Innerhalb dieser Hausgemeinden entstand ein Ethos, in dem die theologische Wirklichkeit der Gemeinschaft der Glieder des Hauses als „in Christus“ seiend die Relationen der Angehörigen des Hauses zueinander einerseits und die Außenrelationen andererseits neu definierte. b) Mit dem Übertritt zum Christentum vollzog sich in der → Taufe ein Wechsel, der metaphorisch als Übergang von Dunkelheit zu Licht (Eph 5,8; 1Joh 2,8f.), von Schlaf zu Wachsamkeit (Eph 5,14), vom Tod ins Leben (Röm 6,3f.; Kol 3,3) beschrieben wurde. Mit diesem Übergang werden neue Verhaltensweisen, also wird eine veränderte Ethik verbunden. Ob diese immer auch der Taufsituation als postbaptismale Katechese zuzuordnen ist, scheint allerdings eher fraglich. c) Das Selbstverständnis der Gemeinden kommt in den Prädikaten Auserwählte und Heilige zum Ausdruck. → Heiligkeit impliziert immer Abgrenzung von profanen Lebensbereichen. Als Heilige können sie dem „Kyrios Christos“ in der Parusie begegnen, wenn sie diesen Stand bewahren.

Einem ethischen Optimismus steht das negative frühchristliche → Menschenbild entgegen, demzufolge der Mensch unter den Mächten des Todes, der Sünde und des Gesetzes lebt (Röm 5-7) bzw. in Lüge und Verkehrung (Röm 1-3). Auch wenn die Konversion einen Ortswechsel in ein neues Bezugssystem, nämlich hin zu Wahrheit, Gerechtigkeit, Licht und Leben bedeutet, bleibt die Gefahr des Rückfalls.

5. Formen

Alle neutestamentlichen Briefe thematisieren in unterschiedlichem Umfang, jedoch nie ausschließlich, ethische Fragen. Auffällig ist die Zusammenstellung ethischer Themen im zweiten Briefteil bzw. am Schluss etlicher Briefe (→ Brief / Briefformular (NT)). Oftmals wurde diese Aufteilung, die sich exemplarisch im Römerbrief, im Galaterbrief oder im Kolosserbrief finden lässt, aus einem theologischen Interesse der Autoren erklärt, als wollten sie dogmatischen und ethischen Teil unterscheiden und doch zueinander in Beziehung setzen. Allerdings finden sich auch immer in den sog. dogmatischen Teilen der Briefe ethische Ausführungen und in etlichen Briefen ist dieses Schema gar nicht gegeben. Auch in den anderen Gattungen der neutestamentlichen Literatur findet das ethische Interesse der Autoren einen Ausdruck. So wird Jesus in den Evangelien etwa als Lehrer der besseren Gerechtigkeit (Mt 5-7) dargestellt oder als derjenige, der vor seinem Abschied bzw. Tod seiner Gemeinde letzte, auch ethische Worte gleich einem Vermächtnis hinterlässt (Lk 9,51-18,14; Joh 13-17). In der Apostelgeschichte wird das Leben der Urgemeinde als ethisches Ideal der Frühzeit dargestellt (Apg 2,42-47; Apg 4,32-37) und Paulus spricht in Apg 20,17-35 sein Vermächtnis vor den Gemeindeleitern aus. Die Offenbarung des Johannes ist durchzogen von einer Auseinandersetzung mit dem politischen und ökonomischen Anspruch des Imperium Romanum.

Die ethische Belehrung ist freilich nicht zu begrenzen auf solche Texte, deren Gattung oder Inventar eindeutig ethische Themen behandeln. Der Weg Jesu in die Niedrigkeit dient auch als Vorbild für die Nachfolgenden (Joh 15,12-14; Phil 2,5; 1Kor 11,1). Die sog. Beispielerzählungen im Lukasevangelium (Lk 10,30-37; Lk 12,16-21; Lk 16,19-31; Lk 18,9-14) zielen auf Normen des Handelns, aber auch weitere Parabeln haben eine pragmatische Dimension.

Im engeren Sinn sind als Formen der ethischen Belehrung solche Textkomplexe anzusprechen, die auf bestehende Formen ethischer Belehrung zurückgreifen. Die sog. Haustafeln (Kol 3,18-4,1; Eph 5,21-6,9) stehen in der Tradition antiker Ökonomie (Seneca, Epistulae 94,1; Philo, Hypothetica 7,14). Tugend- (Gal 5,22; Eph 5,5 u.a.) und Lasterkataloge (Röm 1,29-31; Gal 5,19-21; Eph 5,9 u.a.) stehen in der breiten Tradition katalogartiger Belehrung, die bereits vom hellenistischen Judentum aus griechischer Ethik rezipiert worden war (Sapientia Salomonis 14,22-28; Tacitus, Agricola 30,3-31,1; Pollux I 20-21). 1Kor 13,13; 1Thess 1,3 u.a. bieten Wertepriameln. Peristasenkataloge (2Kor 4,8-9; 2Kor 6,4-10 u.a.) haben neben weiteren Funktionen einen hohen exemplarischen Charakter. Auch das Bild der Waffenrüstung ist eine verchristlichte antike Metapher im Dienste der Ethik (Eph 6,10-20). Innerhalb der synoptischen Tradition setzen Jesusworte in Weisheits- und Gesetzesworten, in Mahnworten und in Makarismen Formen jüdischer, aber auch hellenistischer Belehrung fort.

Die ethische Belehrung ergeht zunehmend auch mittels des häresiologischen Inventars, in dem den „Irrlehrern“ grundlegende Verfehlungen attestiert werden (2Tim 3,1-9; 2Petr 2,12-22), von denen sich die Gemeinde absetzen soll.

6. Begründungen

Gegenüber einer lange Zeit bestimmenden dezidiert theologischen Interpretation kann die Ethik von ihrem Ansatz her nicht durchgehend als ein Imperativ verstanden werden, der auf den Indikativ des Heilsgeschehens (Taufe, Rechtfertigung, Sündenvergebung, Freiheit, Gottes Liebe, Gabe des Geistes) folgt (s.o.). Wiewohl solche Zuordnung durchaus vor allem in der Briefliteratur begegnet (Röm 6,4; Gal 5,25; 1Joh 4,19 u.a.), ist das Indikativ-Imperativ-Schema insgesamt formal zu eng gefasst und überdies zu stark am reformatorischen Denken (Evangelium – Gesetz; Rechtfertigung – Heiligung, Glaube – Werke) orientiert. Da im Neuen Testament die Begründung der Ethik nur selten explizit ausgeführt ist, wird gegenwärtig auch für ein Modell einer impliziten Ethik votiert, deren diverse Begründungen retrospektiv aus den ethischen Argumentationen zu rekonstruieren sind (Zimmermann). Gleichzeitig halten andere betont am Indikativ-Imperativ-Schema fest (Wolter, Konradt). Eine Reduktion aller ethischen Aussagen auf eine postbaptismale oder postkonversionale Ethik (so aber Popkes) ist überzogen, auch wenn eine Verbindung von Taufe und neuer Ethik zu erkennen ist. Der Geist Gottes und die gegenseitige → Fürbitte unterstützen die Ethik der Glaubenden (Gal 5,16; 1Thess 5,23), u.a. auch im Kampf gegen die Macht der → Sünde. Als normative Größen der Ethik begegnen formal vor allem die Anordnung (Röm 13,1) und das Vorbild Gottes (Mt 5,44f.; Lk 6,36; Eph 5,1), das Wort (Mt 5,21-48; Joh 13,34; 1Kor 7,10) und Beispiel des Kyrios Jesus (Phil 2,5; 1Thess 1,6), die → Paränese und das Beispiel der → Apostel (1Kor 5,3; 1Kor 11,1) sowie der Gemeindepropheten (Röm 12,6; Apk 2-3), die Sitte und die Natur (1Kor 11,14-16), Scham und Ehre (1Kor 11,4-6.14f.), das Gewissen (1Tim 1,5), die Schrift (Jak 2,8), aber auch die ethische Entscheidung und das Urteil der Gesamtgemeinde (Mt 18,15-18; 1Kor 6,4; 1Kor 11,13). Ein katechetisches Institut wird in der urchristlichen Zeit noch nicht erkennbar. Vermutlich waren neben den Aposteln als den eigentlichen „Vätern“ der Gemeinden (1Kor 4,15f.) auch Lehrer und Propheten für die ethische Weisung zuständig (Röm 12,8; 1Kor 12,27; Apk 2-3).

7. Zielsetzungen

Die Ethik der frühchristlichen Gemeinden ist primär nach innen gewandt (Gal 6,10), kennt aber auch eine missionarische Dimension (Mt 5,13f.; 1Petr 2,15f.; 1Petr 3,15; 2Petr 1,7; Tit 3,2) und die explizite Aufforderung zur Fürbitte und Liebe der Feinde (Mt 5,44; auch Röm 12,14). Der Ethik kommt auch die Verweisfunktion zu, die Identität ihrer Mitglieder darzustellen (1Petr 2,12). Die Absetzung von dem als lasterhaft beschriebenen Ethos der paganen Welt teilt das frühe Christentum als eine Bekehrungsreligion mit der Diasporasynagoge (1Kor 5,1; 1Thess 4,5 u.a.) und wendet diese Polemik sogar wieder gegen das Judentum (Röm 3,9-20). Selten orientiert sich die Ethik am Einzelnen, sondern ist bezogen auf die Gemeinde und die Relationen der Gemeindeglieder untereinander: Männer – Frauen, Herren – Sklaven, Eltern – Kinder, Alte – Junge, Schwache – Starke, Verheiratete – Unverheiratete, Witwen, Arme – Reiche, Apostel – Gemeinde (exemplarisch in der Haustafel Kol 3,18-4,1). Die Identität der Gemeinde als Leib Christi relativiert bestehende Hierarchien und impliziert einen Statusverzicht (vgl. die Positionswechsellogien: Lk 14,11; Lk 18,14; Phil 2,3-5 u.a.). Alle Mahnungen stehen unter dem eschatologischen Vorbehalt der erwarteten → Parusie Jesu Christi, die den Glaubenden die Rettung und den Ungläubigen das → Gericht bringt. Die Ethik führt in der Zwischenzeit nicht zum Stand der Heiligkeit, sondern bewahrt diesen sakramental übermittelten Status bis zur Parusie. Keinesfalls aber wird die Leiblichkeit der Glaubenden enthusiastisch verlassen (dagegen massiv Jak 2,12-16). In den neutestamentlichen Spätschriften allerdings wird das Gerichtsmotiv für böse Taten nicht nur über Ungläubige, sondern auch – und ihm korrespondierend das Lohnmotiv für gute Werke – auf die Gemeinde hin ausgeweitet (Mt 25,1-46; Apk 2,10).

8. Inhalte

Die Themen der frühchristlichen Ethik folgen zum Teil Grundüberzeugungen des neuen Glaubens (Liebe, Gerechtigkeit, Friede, Leben, Orientierung am Nächsten) und zielen auf deren Realisierung in der Gemeinschaft der Christusgläubigen. Die Ethik folgt jedoch nicht deduktiv in reflektierender Weise theoretischen Vorgaben, sondern entwirft induktiv Leitlinien aus den Problemfeldern, die sich in den Hausgemeinden ergeben (soziale Differenz, Statusfragen, Geschlechter-Themen, individuelle Einstellungen). Daneben ergibt sich ein erheblicher Klärungsbedarf aus der Absetzung vom früheren paganen Hintergrund (Kol 3,5-10; Tit 3,3 u.a.) in Fragen der Sexualität, des Besitzes, der Stände (Sklaven) und des Status (vgl. etwa die Themen in 1Kor 5-14). Zunehmend werden innerhalb der Geschichte des Urchristentums die Relationen zum Staat (Röm 13,1-7; Tit 3,1; 1Petr 2,13-17; Mk 12,13-17) samt seinen Organen und Institutionen (Röm 13,7; 1Kor 6,1-11) und zur paganen Gesellschaft thematisiert (1Petr 3,13-17), ohne hierbei aber auch nur ansatzweise so etwas wie eine Staatsethik zu entwerfen. Mit der Verzögerung der Parusie und der Dehnung der Zeit treten grundsätzliche ethische Probleme auf. Nach außen wird die für das Selbstverständnis der Gemeinde als der Auserwählten grundlegende Differenz zur Umwelt nicht mehr aufrechterhalten (vgl. die Metapher „Götzenopferfleisch essen und huren“ in Apk 2,14.20; Apk 17,2; Apk 18,3.9), nach innen machen sich etwa Arbeitsunlust (Apg 20,35; 2Thess 3,7-13), Alkoholismus (Eph 5,18; 1Tim 3,3), vor allem soziale Differenzen (Jak 2,2) breit. Die Gemeinden realisieren hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes nicht mehr kommunitäre Ideale, die daher umso klarer in Erinnerung gerufen werden (Apg 2,42-47; Apg 4,32-37; Apg 20,32-35). In Fragen der Sexualethik, aber auch in anderen Lebensbereichen treten völlig divergierende Haltungen zwischen → Askese (1Tim 4,3) und Libertinismus (1Petr 2,16), zwischen Weltentsagung und Weltanpassung auf. Die spätneutestamentlichen Schriften sind insofern auch ein Dokument über die Selbstfindung des Christentums in ethischer Hinsicht. Eine Ausrichtung am Liebesgebot ist in vielen Schriften festzustellen, ohne hierbei immer einen Bezug zu Lev 19,18 herzustellen (Mk 12,28-31; Lk 6,27-30; Joh 13,31-34; Gal 5,14; Röm 13,8-10; 1Kor 13; 1Petr 4,8; 1Joh 3,17f.; 1Joh 4,12 u.a.). Die Tora überhaupt scheint für Paulus auf das Liebesgebot reduziert zu sein (Gal 5,14; Röm 13,8-10). Ihre Normen (vor allem rein – unrein) werden absolut relativiert (Röm 14,20; Mk 7,15; Kol 2,16). Innerhalb der Antithesen der Bergpredigt bietet Mt 5,21-48 eine grundlegende Stellungnahme zur Tora, deren Anspruch ist, im Wort Jesu das Wort der Tora zu überbieten.

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