Fasten (NT)
(erstellt: Mai 2014)
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1. Definition und Terminologie
Fasten bedeutet zunächst den willensmäßig geübten Verzicht auf gewisse oder alle Nahrung während einer bestimmte Zeitspanne. Etymologisch leiten sich die Wörter νηστεύω nēsteuō (fasten), νηστεία nēsteia (Fasten, Nahrungsverzicht, Hunger, Fasttag) und νῆστις nēstis (nüchtern / hungrig) wie ihre Äquivalente in anderen indogermanischen Sprachen auch von der Beschreibung eines Zustandes der Leere und der Nüchternheit her. Die lateinischen Äquivalente lauten ieiunus, ieiunare, ieiunium. Im Griechischen wird der Begriff aus „Nicht-Essen“ (νή - ἐσθίω nē - estiō) gebildet. Die Sache selbst muss im Neuen Testament nicht unbedingt durch den Begriff ausgedrückt werden; sie kann ebenso auch durch Beschreibungen des Nahrungsverzichts zur Darstellung gelangen.
2. Kategoriale Differenzierung von Fasten
Kategorial ist a) zwischen einem Verzicht auf Essen sowie auf Essen und Trinken zu unterscheiden. Dieser Verzicht kann sich b) auf alle oder nur auf bestimmte Nahrungsmittel beziehen. Der Verzicht kann c) auf die Sexualität ausgedehnt werden. Fasten kann d) einzeln oder als Gruppe durchgeführt werden. e) Fasten als freiwilliger Verzicht ist von erzwungener Abstinenz zu unterscheiden. Ebenfalls ist f) spontanes Fasten von regelmäßigem Fasten an festgesetzten Tagen zu unterscheiden.
3. Funktionen und Wirkungen von Fasten in der Religionsgeschichte
In der Religionsgeschichte hat Fasten verschiedene Funktionen:
1. Apotropäisch-kathartisches Fasten: Nahrungsmittel können von Dämonen infiziert werden. Ein Verzicht schützt somit vor dem Einfluss der Dämonen. Zugleich kann dem Fasten selbst eine Kraft gegen die Dämonen innewohnen.
2. Initiationsfasten: Hier ist der Verzicht Teil eines Rituals zur Einführung eines Menschen in eine neue Gemeinschaft oder eines Mitglieds in eine neue Funktion innerhalb einer Gemeinschaft.
3. Ekstatisches oder prophetisches Fasten: Hierbei geht es um die Vorbereitung einer Begegnung mit dem Göttlichen bzw. mit Gott. Fasten fungiert als ein Mittel ekstatischer oder prophetisch-visionärer Stimulierung.
4. Ethische Motivierung: Fasten kann eine ethische Dimension erlangen, wenn es um seiner selbst willen als gutes Werk gilt oder wenn die Mittel, auf die Verzicht geleistet wird, Armen zu Gute kommen.
5. Fasten als Inhalt eines Enthaltungsgelübdes: Der Verzicht hat den Charakter einer Gabe (vgl. Votivgabe) an Gott, durch die eine bestimmte Gegengabe erhofft wird.
6. Fasten als Ausdruck der Trauer: Diese Funktion ist religionsgeschichtlich besonders weit verbreitet. Fasten kann hierbei ein Sündenbekenntnis sowie individuelle oder kollektive Umkehr begleiten und somit zum eigentlichen Bußritus werden.
7. Bußritus: Das Fasten selbst wird zum Zeichen der Reue und Zerknirschung.
Im Neuen Testament sind viele dieser Funktionen lebendig. Für 1. bis 7. gilt im biblischen Kontext die Regel, dass Fasten und → Gebet
4. Fasten im Neuen Testament
4.1. Vorkommen
Während νῆστις nēstis nur zweimal vorkommt und sich jeweils im Kontext der Speisung der Viertausend auf die „hungrige“ Volksmenge bezieht (Mt 15,23
Textkritisch lässt sich die Tendenz beobachten, dass Fasten in der Alten Kirche mit der Zeit zunehmend wichtiger wurde. Sowohl bei Mt 17,20
4.2. Die Versuchung des fastenden Jesus
In den synoptischen Evangelien wird der vierzigtägige Aufenthalt Jesu in der Wüste nach seiner Taufe beschrieben. Er steht in der Tradition des zweimaligen, vierzig Tage dauernden Aufenthalts des → Mose
Demgegenüber lässt der Wüstenaufenthalt Jesu eine andere Funktion erkennen. Jesus geht in die Wüste, um dort vom → Satan
4.3. Exorzistisches Fasten?
Bei der → Heilung
4.4. Fasten in der Apostelgeschichte
Nachdem Saulus-Paulus in einer Vision den Auferstandenen gesehen hat, isst und trinkt er drei Tage nichts, bis er sich taufen lässt (Apg 9,9
In Antiochia dienen und fasten die Propheten und Lehrer der Gemeinde gemeinsam (Apg 13,2
Mit dem „Fasten“ als kalendarische Angabe wird in Apg 27,9
4.5. Fasten als gutes, gerechtes Werk
Die alte Prophetin Hanna dient Gott am Tempel Tag und Nacht mit Fasten und Beten (Lk 2,37
Die ethische Dimension (4. Funktion) erscheint in der Triade frühjüdischer Zedaqa-Frömmigkeit in der Bergpredigt (Mt 6,1-18
Im → Gleichnis
5. Fastenkritik
Neben dieser impliziten Kritik am Fasten und der Kritik an einer konkreten Fastenpraxis in Mt 6,16-18
Das von den Evangelien entworfene Jesusbild zeichnet sich dadurch aus, dass in der Tradition der prophetischen Fastenkritik (vgl. etwa Jes 58,1-12
Tatsächlich ist Fasten bei Paulus und in den neutestamentlichen Briefen kein Thema. Paulus erwähnt Fasten nur zweimal in je einem → Peristasenkatalog
6. Antiasketische Ausrichtung und Erneuerung der Fastenpraxis in der frühen Kirche
Fasten tritt im Neuen Testament in Korrelation zu dessen antiasketischer Stoßrichtung in den Hintergrund. Im Gegensatz zu Johannes dem Täufer, dessen Jünger regelmäßig gefastet haben sowie zu Johannes selbst, der „weder aß noch trank“ (Mt 11,18
Paulus bestätigt den Korinthern ihre Freiheit, die sich gerade auch auf das Essen bezieht. Ein Verzicht auf gewisse Nahrungsmittel soll nur um der Mitmenschen willen erfolgen (1Kor 8,8f
Im → Kolosserbrief
Eine Abgrenzungstendenz gegenüber der Fastenpraxis lässt sich auch im → Barnabasbrief
Nach der Didache (Didache 8,1
Erst ab dem dritten Jahrhundert gewinnt Fasten im Zusammenhang zunehmender asketischer Tendenzen eine große Bedeutung für Kirche und Frömmigkeit.
7. Zur Verortung in der jüdischen Fastenpraxis
Die neutestamentliche Fastenpraxis ist zutiefst in der der hebräischen Bibel und in der Frömmigkeit des zeitgenössischen Judentums verankert. Umso mehr fällt auf, dass Fasten als Umkehr / Buße des Einzelnen oder als spontaner Ausdruck der Trauer im Neuen Testament nicht vorkommt. Das ist etwa bei → Josephus
Fasten und Fasttage werden nach Josephus von seinen jüdischen Zeitgenossen vor allem im Sinne von Trauerbräuchen oder als Reaktion auf Kalamitäten durchgeführt und sind immer mit der Gebetspraxis verbunden.
Im → jüdischen Festkalender
Später wird Fasten in der Mischna vor allem in den Traktaten Joma (zum Jom Kippur) und Taanit (öffentliche Fastenvorschriften bei ausbleibendem Regen und anderen Bedrohungen) geregelt.
Fasten ist aber nicht mehr nur ein Buß- und Trauerakt (Bar 1,5
Römische und griechische Autoren beschreiben das Fasten der Juden als einen besonderer Brauch (Tacitus historiae 5,4
Aus rabbinischer Zeit ist extensives privates Fasten von Einzelnen überliefert. Zugleich finden sich im → Talmud
8. Fasten in der nichtjüdischen Umwelt
In der griechisch-römischen Welt findet sich Fasten – abgesehen vom → Orakelwesen
Insgesamt zeigt die griechisch-römische Religiosität eine große Zurückhaltung gegenüber dem Fasten. Hier schließt sich das Neue Testament durchaus stimmig an.
9. Zusammenfassung
Die Fastenpraxis im Neuen Testament hat viele verschiedene Funktionen, die im religionswissenschaftlichen Vergleich auch in anderen Religionen vorkommen können. Sie wurzelt in der jüdischen Fastenpraxis. Allerdings tritt die Buß- und Trauerfunktion nun in den Hintergrund. Im Vergleich zum jüdischen Kontext macht sich im Neuen Testament eine tendenzielle Distanzierung gegenüber dem Fasten zunehmend deutlicher bemerkbar. Sie passt phänomenologisch gut in den griechisch-römischen Kontext und zu der marginalen Rolle, die Fasten dort spielt. In der Alten Kirche wird Fasten ab dem zweiten Jahrhundert wieder beliebter, doch erst ab dem dritten Jahrhundert beginnt es sich als Grundübung christlicher Religiosität im Rahmen der „Asketisierung“ der Frömmigkeit auszubreiten.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Böcher, O., 1998-2005, Art. Fasten/Fastentage - III. Christentum, RGG4III, 41-42
- Grimm, W., 1997, Art. νηστεύω, TBLNT, 420-423
- Hall, S. G./Crehan, J. H., 1983, Art. Fasten/Fastentage - III. Biblisch/kirchenhistorisch, TRE XI, 48-59
- Zmijewski, J., 1981, Art. νηστεύω, EWNT I, 1144-1147
2. Monographien und Aufsätze
- Grimm, V.E., 1996, From Feasting to Fasting, the Evolution of a Sin. Attitudes to food in late antiquity, London / New York
- Wick, P., 2003, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit (BWANT 150), Stuttgart u.a.
3. Weitere Literatur
- Baumann, A.H., 1993, „Fasttage in der Darstellung des Josephus“, in: D.-A. Koch u.a. (Hgg.), Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter (FS H. Schreckenberg), Göttingen, 41-49.
- Böcher, O., 1972, Christus Exorcista. Dämonismus und Taufe im Neuen Testament (BWANT 96), Stuttgart u.a.
- Böttrich, Ch., 1998, Fasten im Neuen Testament, ZdZ 52, 11-15
- Kee, A., 1969, The Question About Fasting, NT 11, 161-173
- Könemann, J., 2012, Nicht bloßer Selbstzweck: das alte Phänomen Fasten ist immer noch aktuell, Herder-Korrespondenz. 66, 364-69
- Lambert, D., 2003, Fasting as a Penitential Rite: A Biblical Phenomenon?, HThR 96, 477-512
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