Geheimes Markusevangelium
(erstellt: Juni 2010)
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1. Die Bezeugung des Textfundes
1958 hielt sich der amerikanische Gelehrte Morton Smith (1915–1991) für drei Wochen in dem südwestlich Jerusalems gelegenen griechisch-orthodoxen Wüstenkloster Mar Saba auf, um dort die wenigen, noch nicht ins Patriarchat nach Jerusalem überführten Handschriften zu katalogisieren. Dabei stieß er auf eine von Isaak Voss herausgegebene, 1646 in Amsterdam erschienene Ausgabe der Briefe des Ignatius von Antiochien, die nach der letzten bedruckten Seite (S. 318) einen handschriftlichen Eintrag enthielt. Geschrieben in einer griechischen Minuskel des 18. Jahrhunderts, fand sich hier auf den beiden (ursprünglich leeren) Seiten des letzten Blattes und der ersten Seite des Buchbinderblattes der Auszug eines Briefes von → Clemens von Alexandrien
Es gibt nur weniges, was unabhängig von Smiths eigenem Zeugnis über die Existenz des Manuskripts bekannt geworden ist. Das Wichtigste erfahren wir durch einen glücklichen Zufall, allerdings erst 2003, als Guy G. Stroumsa berichtet, er sei zusammen mit David Flusser, Shelomo Pines und Archimandrit Meliton im Frühjahr 1976 nach Mar Saba gefahren, um Smiths Fundstück in Augenschein zu nehmen. Sie hätten den Voss-Band auch tatsächlich gefunden und seiner Bedeutung wegen ins Patriarchat nach Jerusalem überführt. Leider sei es aber nicht gelungen, bei dieser Gelegenheit Schrift, Feder und Tinte des Briefeintrags einer physikalisch-chemischen Untersuchung zu unterziehen (Stroumsa). Das nächste Zeugnis verdanken wir Thomas J. Thalley. Er erfährt im Januar 1980 von Vater Kallistos, 1975–1990 Bibliothekar der Patriarchatsbibliothek, der Auszug des Clemensbriefes sei aus dem Voss-Band zur Reparierung herausgetrennt worden (Thalley). Weitere zwanzig Jahre später berichtet Charles W. Hedrick von den intensiven Recherchen, die er zusammen mit Nikolaos Olympiou unternommen hat (Hedrick / Olympiou, 3–10.16). Sie basieren auf einem Besuch in Mar Saba (2000), drei Besuchen der Patriarchatsbibliothek in Jerusalem (1992, 1998, 2000) und einem – auch auf Tonband festgehaltenen – Interview mit Kallistos (2000).
Nach Hedricks Bericht ist der Voss-Band in der Patriarchatsbibliothek vorhanden, so dass er auf Benutzerspuren hin untersucht werden könnte. Wichtiger ist, dass es gelungen ist, von Kallistos die bald nach der Heraustrennung gefertigten, ausgezeichneten Farbfotografien der drei Seiten des Clemensbriefes zu erhalten und zu veröffentlichen (Hedrick / Olympiou, 11.14f). Sie befanden sich also offenbar im Privatbesitz von Kallistos und lassen einwandfrei erkennen, dass die beiden Blätter mit dem Brief ursprünglich auf S. 318 des Voss-Bandes folgten.
Schwierig ist es, Genaueres über den Verbleib des Manuskriptes zu erfahren. Kallistos bestätigt, dass er es aus dem Voss-Band herausgetrennt und zusammen mit diesem aufbewahrt hat (bis1990). Inzwischen ist es nicht mehr auffindbar, vielleicht verlegt (so Kallistos), vielleicht versteckt (so erwogen von Hedrick). Es gibt aber auch Indizien dafür, dass der Briefauszug wegen des homosexuellen Jesus, den GMk angeblich zeigt, zerstört oder auf andere Weise definitiv unzugänglich gemacht worden sein könnte (Rau 2010a, 146).
2. Der Brief des Clemens von Alexandrien an Theodoros
Nach der sekundär hinzugefügten Überschrift, das Folgende stamme „aus den Briefen des hochheiligen Clemens, des Verfassers der Stromateis“ (I / 1 ; Text Christliche Apokryphen
Um Theodoros bei der Aufdeckung der karpokratianischen Zusätze behilflich zu sein, teilt Clemens am Schluss des Briefauszuges zwei sehr verschiedenartige Fragmente von GMk mit:
Fragment 1, das sich in II / 23–III / 11 findet, sei κατὰ λέkata. le,ξιν / „im Wortlaut“ zitiert und folge der dritten Leidensweissagung, ist also ein Einschub zwischen Mk 10,34
Fragment 2 ist sehr viel kürzer als Fragment 1 und findet sich in III / 14fin–16 (Text Christliche Apokryphen
Es folgt nur noch der Hinweis, alles andere, was Theodoros geschrieben habe, sei Lüge. Dies bezieht sich wohl auf die karpokratianische Version von GMk im Ganzen. Denn die anschließende, mitten im Satz abbrechende Schlussaussage des Briefauszuges scheint zur philosophischen Auslegung überzuleiten.
Der Text des Briefes findet sich bei Smith 1973a, 446–452 = www-user.uni-bremen.de /~wie/Secret/secmark_home.html
3. Eine Fälschung?
Angesichts der Ungewöhnlichkeit des Fundstücks und seiner Geschichte verwundert es nicht, dass die Diskussion über den Auszug des Clemensbriefes von Anfang an begleitet wird von dem Verdacht, es könnte sich um eine antike oder neuzeitliche Fälschung handeln. Charles E. Murgia macht z.B. geltend, der Text zeige keine Spuren einer Textgeschichte und gebe sich große Mühe, seine Authentizität zu beglaubigen (in: Fuller, 35–40). Viel Zustimmung erfährt auch Quentin Quesnell. Er macht auf die gravierenden Mängel der Edition aufmerksam und vertritt die These, wer wie Smith mit Hilfe des Indexbandes der maßgeblichen Ausgabe der Werke von Clemens den clementinischen Charakter des Briefauszuges nachweise, könne mit demselben Mittel auch eine Fälschung herstellen (Quesnell). Großen Anklang findet auch das Argument von Andrew H. Criddle, der Briefauszug sei zu clementinisch, um clementinisch zu sein (Criddle).
Je länger Smith gestorben ist (1991), desto ungeschützter wird er selber der Fälschung bezichtigt. Eine neue Dimension gewinnt die Diskussion, als Robert M. Price ausführt, Smith habe sich zu seiner Tat durch die Lektüre einer evangelikalen Detektivgeschichte über Mar Saba anregen lassen (Price). Aber erst Carlson baut alles, was in der bisherigen Forschung gegen die Authentizität vorgebracht worden ist, zu einer kohärenten, alles erklärenden Story aus, die Smith zum Autor der größten und raffiniertesten literarischen Fälschung des 20. Jahrhunderts macht (Carlson). Manche halten Carlsons Argumente für „persuasive, decisive, practically unanswerable“ (Larry W. Hurtado, in: Carlson, XII). Andere führen nicht weniger überzeugende Argumente dagegen an (Brown 2006a, 2006b, Brown / Pantuck, Viklund). Und noch andere meinen, Carlson sei mit seinen fantastischen Konstruktionen in den Spuren von Sherlock Holmes bei Autoren von Fantasy-Literatur in die Schule gegangen (Rau 2010a, 167–186).
So gibt es Verdachtsmomente, bisher aber keine Beweise für eine Fälschung, und was Smith betrifft, eine Reihe von Argumenten dagegen (zusammengestellt bei Rau 2010a, 162–165). Weiter kämen wir nur, wenn der Forderung Quesnells entsprochen werden könnte, Schrift, Tinte und Feder des Manuskripts am Original zu untersuchen. Selbst dann allerdings wüssten wir allenfalls, ob wir ein Dokument des 18. Jahrhunderts vor uns haben. Alles andere dagegen müsste weiterhin ausschließlich auf exegetischem Weg geklärt werden – insbesondere, ob der Briefauszug tatsächlich Clemens von Alexandrien zugeschrieben werden darf und wie GMk zu beurteilen ist.
4. Zum Verständnis des geheimen Markusevangeliums
Es ist gut verständlich, warum sich die meisten, die sich zu GMk als einem Dokument des 2. Jahrhunderts äußern, vorbehalten, es könnte sich auch um eine Fälschung handeln. Die Interpretationen, die unter diesem Vorbehalt vorgetragen werden, gehen der Sache nach weit auseinander. Dies sei an fünf exemplarisch ausgewählten Positionen thetisch verdeutlicht:
(1) Für Smith ist GMk eine Mt und Lk vorausliegende Fortschreibung des kanonischen Mk. In Fragment 1 stelle sie im Rekurs auf eine Vorlage von Joh 11
(2) Nach Helmut Merkel liegt in GMk ein wertloses, für die 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts typisches Patchwork vor mit Reminiszenzen an alle vier kanonischen Evangelien, das in Fragment 1 eine Neuerzählung von Joh 11
(3) Helmut Köster möchte dem komplizierten Prozess der Ausbildung der Evangelien auf die Spur kommen. Er sieht in GMk eine dem kanonischen Mk ebenso wie Mt vorausliegende Fassung des Markusevangeliums. Ihr gehe es um ein esoterisches Verständnis des Geheimnisses, dass Jesus zu einem übernatürlichen Wesen erhöht worden ist, ausgestattet mit magischen Kräften und einer neuen Lehre. Dies erlaube allerdings keinerlei Rückschlüsse auf den historischen Jesus (Köster).
(4) Scott G. Brown legt dar, dass es der Evangelist Mk selber ist, der den fortgeschritteneren Christen Alexandriens durch GMk ein tieferes Verstehen des Geheimnisses vom Reiche Gottes erschließen möchte. Das Geheimnis bestehe darin, dass man durch den Vollzug der Taufe an der Passion Jesu partizipiert, um dadurch auch der Teilhabe an seiner Erhöhung gewiss zu werden (Brown 2005).
(5) Eckhard Rau sieht im Jüngling von Fragment 1 eine den Jüngern überlegene Legitimationsfigur für eine esoterische Auffassung der Lehre vom Geheimnis des Reiches Gottes. Sie propagiere die Rückkehr zur Welt von Gen 1
Eine Vertiefung der bisherigen Diskussion ist wohl am ehesten von einzelexegetischen Studien zu erwarten, die die Fragmente von GMk zunächst im Blick auf ihre Platzierung innerhalb des Mk-Fadens untersuchen, dann die Frage ihrer Beziehungen zu den Aussagen des Briefauszugs erörtern und schließlich die Einbettung in die Literatur des zweiten Jahrhunderts erkunden.
Literaturverzeichnis
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- Brown, S. G., 2006a, The Question of Motive in the Case against Morton Smith, JBL 125, 351–383
- Brown, S. G., 2006b, Factualizing the Folklore: Stephen Carlson’s Case against Morton Smith, HTR 99, 291–327
- Brown, S. G. / Pantuck, A.J., 2008, Morton Smith as M. Madiotes: Stephen Carlson’s Attribution of Secret Mark to a Bald Swindler, JSHJ 6, 106–125
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- Rau, E., 2010a, Weder gefälscht noch authentisch? Überlegungen zum Status des geheimen Markusevangeliums als Quelle des frühen Christentums, in: J. Frey / J. Schröter (Hgg.), unter Mitarbeit von J. Spaeth, Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen. Beiträge zu außerkanonischen Jesusüberlieferungen in verschiedenen Sprach- und Kulturtraditionen (WUNT 254), 139–186
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- Viklund, R., 2009, Reclaiming Clement’s Letter to Theodoros – An Examination of Carlson’s Handwriting Analysis, www.jesusgranskad.se/theodore/htm
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