Gericht Gottes (NT)
(erstellt: Januar 2011)
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1. Allgemeines
Die neutestamentliche Rede vom Gericht Gottes (krisis tou theou) knüpft an alttestamentliche (→ true [AT]) bzw. antik-jüdische Vorstellungen an. Dies gilt zunächst für das mit dem Begriff verbundene Gottesbild. So, wie Gott in anderen Zusammenhängen als „König“, „Kultherr“ oder „Weiser“ beschrieben wird, erscheint er in diesem Vorstellungsbereich als „Richter“ (kritēs). Alle für das gedeihliche Leben der Gemeinschaft notwendigen Ordnungen (Herrschaft, Kult, Weisheit / Erziehung, Recht) werden auf Gott zurückgeführt, der sie den Menschen, seiner → Schöpfung
Die Rede von Gott als „Richter“, „König“ usw. ist metaphorische Rede; sie meint nicht, dass Gott ein Amtsträger sei oder dass sich die göttliche Sphäre („der Himmel“) als Palast, Tempel, Gerichtshof usw. vorstellen ließe. Hintergrund dieser Redeweise ist, dass alle Menschen, die gesellschaftliche Verantwortung tragen, dies nicht eigenmächtig tun, sondern von Gott dazu befähigt und berufen werden. Da die menschlichen Ordnungen in Gott gründen und die menschliche Sprache durch diese Ordnungen geprägt ist, kann der Mensch von Gott nicht anders reden als in Analogie zu den ihn bestimmenden machtvollen Instanzen: dem → König
Auch die vielschichtigen antik-jüdischen Vorstellungen, wie sich Gottes richterliches Handeln vollzieht, finden ihren Niederschlag in den neutestamentlichen Schriften: Theoretisch ließe sich unterscheiden, ob dieses Handeln dem Einzelnen gilt oder Kollektiven (z.B. „Israel“ oder den „Heiden“, den „Gerechten“ oder den „Sündern“), ob es sich als geschichtliches Ereignis (in Aufnahme prophetischer bzw. weisheitlicher Tradition: → Tun-Ergehen-Zusammenhang
Tatsächlich gehen diese Aspekte oft ineinander über oder stehen sogar nebeneinander, da die Rede von Gottes Gericht im NT vor allem paränetische Funktion hat: Sie bringt in Erinnerung, dass das Handeln jedes Menschen verantwortungsvoll geschehen muss, weil es in die Rechte anderer eingreift. Die Verletzung des von Gott ermöglichten und geforderten Gerechtseins, d.h. der Einhaltung der Rechtsordnung und der zwischenmenschlichen Solidarität, ist ein Angriff auf die Würde des als → Ebenbild Gottes
Für die antik-jüdische Religion ist der Gedanke leitend, dass diejenigen in Gottes Gericht bestehen können, die an dem von Gott mit Israel aus freier Gnade gestifteten → Bund
2. Johannes der Täufer
Die frühchristliche Erwartung eines Gottesgerichts gründet unter anderem in der eschatologischen Predigt → Johannes des Täufers
3. Jesus
Während Johannes am → Jordan
Konkretionen, wie sich das Gerichtshandeln Gottes vollziehen wird, fehlen bei Jesus weitgehend, da im Zentrum seiner Botschaft die Rettung des Menschen steht. Anzunehmen ist, dass Jesus die Vernichtung des und der Bösen als Teil des bereits im Gange befindlichen, etwa die Zeit einer Generation währenden Prozesses (Mk 9,1
4. Das frühe Christentum
Wie im antiken Judentum ist Gottes Gericht auch im frühen Christentum ein beherrschendes Thema. Es werden jedoch neue Akzente gesetzt: Eröffnete bei Johannes dem Täufer und bei Jesus die bußfertige Orientierung an ihrer Predigt die Möglichkeit, im endzeitlichen Gericht bestehen zu können, so verschiebt sich im Christentum der soteriologische Grundgedanke dahin, dass das Bekenntnis zu Jesus, dem von Gott durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen beglaubigten Christus, die Menschen – nunmehr, über Israel hinaus, alle Völker – vom Gerichtszorn Gottes errettet. Begründet aber die heilvolle Christusbeziehung des Menschen die Hoffnung, in Gottes Gericht bestehen zu können, wächst auch die Erwartung, dass Christus selbst in diesem Gericht auftreten werde, sei es als Gerichtsherr, sei es als Anwalt der auf ihn Vertrauenden. Dass sich dieses Gericht über die gottfeindlichen Mächte demnächst vollzieht, gehört zum Kern frühchristlicher Hoffnung. Der Gebetsruf der Gemeinde: „Unser Herr, komm!“ (1Kor 16,21
4.1. Die Paulusbriefe
Die frühchristliche Erwartung des Gottesgerichts am „Tag des Herrn“ (1Kor 5,5
Solcher rettender Glaube, der durch das Hören der Predigt von Christus ermöglicht wird, ist für Paulus kein intellektueller, sondern ein die gesamte Existenz verändernder Vorgang: Sie führt den Glaubenden in die → Taufe
4.2. Die synoptischen Evangelien
Aufgrund ihrer Entstehung im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts und ihres umfangreichen gemeinsamen Textbestandes finden sich in Markus, Matthäus und Lukas ähnliche Gerichtsvorstellungen. Jesu Erwartung, dass sich das Gottesgericht prozesshaft im Laufe weniger Jahrzehnte vollziehen werde, wird angesichts der sich dehnenden Zeit abgelöst von apokalyptischen Spekulationen über den weiteren Verlauf der Geschichte und deren plötzlichen Abbruch durch das vom wiederkehrenden Christus, dem Menschensohn, vollzogene universale Gericht. Die sogenannte synoptische Apokalypse (Mk 13
Markus stellt Jesus von Anfang bis Ende seines Wirkens in Begleitung seiner Jüngerinnen und → Jünger
Für Matthäus ist nicht das Lippenbekenntnis der Christen zu Christus als ihrem göttlichen „Herrn“ (kyrios) heilsbedeutsam, sondern das genaue Befolgen der von Christus gelehrten und gelebten → Gerechtigkeit
Den Grund, warum Gott das Gericht über die Welt noch hinausschiebt, erkennt Lukas in der Ermöglichung einer weltweiten → Mission
4.3. Das Johannesevangelium
Wie bei Jesus vollzieht sich nach Johannes das Gericht über die Menschen bereits in der Gegenwart. Das Kriterium ist jedoch nun christologischer Art: Wer an Jesus als den von Gott gesandten Sohn des himmlischen Vaters glaubt, gehört zu den Geretteten und wird nicht gerichtet; „wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes glaubt“ (Joh 3,18
4.4. Hebräerbrief, katholische Briefe, Offenbarung des Johannes
Der die Metapher vom Gericht prägende Grundgedanke, dass der Mensch aufgrund seiner Autonomie Verantwortung für sein Handeln und sein daraus resultierendes Gottesverhältnis übernehmen muss, bestimmt auch die jüngeren Schriften des NT. Die Rede vom Gericht findet sich dort einerseits in präsentisch-ermahnenden Zusammenhängen, andererseits in apokalyptisch-eschatologischen Ausblicken, die mittelbar ebenfalls paränetische Funktion besitzen. So schärft der → Hebräerbrief
Die → Johannesoffenbarung
5. Gottes Gericht und Allversöhnung
Dass diejenigen, die trotz des Versöhnungshandelns in Jesus Christus sich Gottes gnädiger Gerechtigkeit und einer ihr analogen Lebenspraxis verschließen, in ein heilloses, vom Tod überschattetes Abseits geraten, ist die gemeinsame Mitte der negativen Gerichtsaussagen des Neuen Testaments. Sie reflektieren die Einsicht, dass das Tun des Menschen nicht beliebig sein kann, sondern, trotz aller Fehlbarkeit, nur als ein seinen Schöpfer und seine Mitgeschöpfe achtendes, verantwortungsvolles Handeln erträglich ist. Die Gerichtsaussagen werfen jedoch das theologische Problem auf, dass der Heilsstatus des Menschen darin wesentlich durch seine Werke, also letztlich von ihm selbst, bestimmt wird und nicht allein von Gott, der den Menschen als sein Ebenbild erschuf. Wenn aber der Mensch seine Würde als Geschöpf Gottes nicht verlieren kann, also zwischen ihm und seinen nichtswürdigen Taten zu unterscheiden bleibt, bricht die Frage auf, ob die Verurteilung des Sünders im Gericht das letzte Wort des liebenden Gottes über ihn sein kann. Die frühe Kirche (seit → Origenes
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Neues Bibel-Lexikon, 1991-2001, Zürich u.a., (Art. Gericht Gottes II)
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 1998-2007, 4. Aufl., Tübingen, (Art. Gericht Gottes IV)
- Theologische Realenzyklopädie, 1977-2004, Berlin / New York, (Art. Gericht Gottes III)
2. Weitere Literatur
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- Synofzik, E., 1977, Die Gerichts- und Vergeltungsaussagen bei Paulus. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung (GTA 8), Göttingen
- Yinger, K.I., 1999, Paul, Judaism, and Judgment According to Deeds (MSSNTS 105), Cambridge u.a.
- Zager, W., 1996, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen (BZNW 82), Berlin / New York
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