Gesetz / Tora (NT)
(erstellt: November 2013)
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1. Sprachgebrauch in der Bibel
In der Hebräischen Bibel finden sich verschiedene Begriffe für (von Gott gegebene) → Gebote
In den aramäischen Passagen der Hebräischen Bibel steht dafür in der Regel dāt (Esr 7,12
Im Neuen Testament steht nómos:
2. Für das Gesetz, und zwar a) allgemein, z.B. in dem gnomischen Satz Röm 4,15
3. Steht nómos für den Pentateuch als das von Moses geschriebene Buch (z.B. Mt 5,17
2. Griechischer und hellenistischer Kontext
nómos bezeichnet zunächst sehr breit verschiedene Aspekte sozialer Ordnungen: Regel, Brauch, Gewohnheit, Sitte.
Dabei sind zwischenmenschliche Pflichten im Blick, aber auch Pflichten gegenüber den Göttern (Hesiodos, Theogonia 417). Teilweise wird der nómos auch als von den Göttern gegeben angesehen (Hesiodos, Erga kai hemerai 275-279). Er gilt als allen Griechen gemein.
Als sich die griechische Polisverfassung herausbildet, verengt und verändert sich die Bedeutung: zunächst auf „Regelung“, d.h. die schriftliche Abmachung in einer bestimmten politischen Konfliktsituation (auch: thesmós, Gesetz, Brauch), später dann auf „Gesetz“, d.h. eine durch Abstimmung der Bürger oder ein anderes politisches Verfahren gewonnene, schriftlich niedergelegte und sanktionsbewehrte Bestimmung (Xenophon, Memorabilia 1,2,42). Allgemeine moralische Normen werden nun manchmal als „ungeschriebenes“ Gesetz den schriftlichen nómoi gegenübergestellt (Sophokles, Antigone 450-455).
Die Entdeckung der Verschiedenheit von Sitten und Gesetzen bei den Völkern führt zur Entgegensetzung von nómos, der relativen, von Menschen gesetzten Norm, und phýsis, der gleichbleibenden Ordnung der Natur (so v.a. die Sophisten, vgl. Platon, Gorgias 483c-d; 484a; Protagoras 337c). Dies wiederum führt zur philosophischen Frage nach der Basis des nómos jenseits bloßer Konvention. Nach Ansätzen bei Sokrates und Platon (Platon, Gorgias 483e) entwickelt v.a. die → Stoa
3. Tora / Gesetz im antiken Judentum
Der Prozess der Fortschreibung des Gesetzes kommt in der Perserzeit bzw. der frühen hellenistischen Zeit an sein Ende, auch wenn in der Zeit des Zweiten Tempels noch immer Modifikationen am Text möglich sind. Das zeigen die unterschiedlichen Versionen (Septuaginta, Qumran, samaritanischer Pentateuch). Anstelle der Fortschreibung tritt die Auslegung.
Die Tora wird zum Identitätszentrum des antiken Judentums. Dies ist nicht wie in der früheren neutestamentlichen Forschung dergestalt zu verstehen, dass das antike Judentum eine „Gesetzesreligion“ oder gar eine „Religion der Werkgerechtigkeit“ wäre. Die neuere Forschung schließt sich vielmehr – mit Modifikationen – mehrheitlich der These Ed Parish Sanders vom „covenantal nomism“ an: Die Tora ist die von Gott gegebene Lebensordnung für sein erwähltes Volk, die ermöglicht, im Bund mit ihm zu bleiben.
In Anlehnung an griechische Konzepte wird die Tora im antiken Judentum als „väterliches Gesetz“ des jüdischen Volkes verstanden (2Makk 6,1
Die Tora wird mit der Weisheit identifiziert (Bar 4,1
In einigen Strömungen des antiken Judentums tritt zur Tora die „Überlieferung der Väter“ als deren autoritative Auslegung (Pharisäer, vgl. Josephus, Antiquitates 13,297). Im rabbinischen Judentum wird die nun sog. „mündliche Tora“ in Mischna und Talmud gesammelt und verschriftet.
4. Neues Testament
4.1. Jesus
Aussagen über die Einstellung Jesu zum Gesetz sind wie alle Aussagen über den → historischen Jesus
Mehrere Stellen erwähnen eher unbetont, dass Jesus verschiedene Gebote der Tora einhält (Mk 6,41
4.2. Paulus
Die meisten Belege von nómos im Neuen Testament finden sich in den Paulusbriefen, genauer im Galaterbrief und im Römerbrief. Wie die Aussagen des Paulus zum Gesetz zu verstehen sind und ob sie ein kohärentes Ganzes bilden, ist in der Forschung umstritten.
Die Frage, welche Bedeutung das Gesetz hat, stellt sich für Paulus in einem ekklesiologischen Kontext: Christusgläubige Juden und Christusgläubige nichtjüdischer Herkunft gehören durch ihren Glauben an Christus zur → Gemeinde
Für die Praxis folgt daraus grundlegend eine Art Beibehaltung des Status quo (1Kor 7,17-20
Wenn Paulus diese Vorstellung von Gemeinde als allein durch die Beziehung zu Christus konstituiert gegen alternative Vorstellungen argumentativ verteidigt, geht er aber an einigen Stellen mit kritischen Aussagen zum Gesetz deutlich weiter: Alle Menschen – Nichtjuden wie Juden – erfüllen de facto das Gesetz nicht (Röm 3,9-20
Paulus hält aber daran fest, dass das Gesetz als Gottes Gebot „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12
4.3. Markusevangelium
Im Markusevangelium kommt der Begriff „Gesetz“ nicht vor. Explizite programmatische Äußerungen zum Thema Gesetz fehlen. V.a. anhand des Streitgespräches über Reinheit und Unreinheit (Mk 7
4.4. Matthäusevangelium
Für Matthäus wird das Gesetz in seiner Auslegung durch Jesus erfüllt (Mt 5,17
Die Befolgung von Jesu Auslegung des Gesetzes wird einerseits der Gesetzesauslegung und Gesetzespraxis der Schriftgelehrten und Pharisäer als „bessere Gerechtigkeit“ gegenübergestellt (Mt 5,20
4.5. Lukanisches Doppelwerk
Das Gesetz, verstanden als Pentateuch, und die übrigen autoritativen Schriften weisen für Lukas auf Christus voraus (Lk 24,44
Lukas legt großen Wert darauf, dass alle Protagonisten seiner Erzählung untadelig nach Gesetz und Ordnung leben. Das gilt allgemein, insofern weder Jesus noch einer der Apostel noch Paulus jemals zu Recht eines Gesetzesbruches – sei es des jüdischen Gesetzes oder der römischen Gesetze oder der Gesetze einer Polis – angeklagt oder gar verurteilt werden (Lk 23,1
Die Apostelgeschichte legitimiert, dass Christusgläubige, die nicht jüdischer Herkunft sind, nicht gesetzesobservant leben, insbesondere nicht beschnitten werden. Die von einigen jüdischen, genauer pharisäischen Christusgläubigen diesbezüglich erhobene Forderung (Apg 15,1
4.6. Johannesevangelium
Im Johannesevangelium werden die autoritativen jüdischen Schriften als Zeugnis für Jesus verstanden; ihre Vorausdeutungen werden in Jesu Leben erfüllt (Joh 1,45
Ähnlich ist der Befund in den Johannesbriefen (1Joh 2,3
4.7. Hebräerbrief
Anders als die übrigen neutestamentlichen Schriften ist der Hebräerbrief v.a. am Kultgesetz interessiert. Dessen Bestimmungen für den irdischen Kult weisen typologisch auf die Erlösung durch das Opfer Christi voraus, das als himmlischer Kultakt gedeutet wird (Hebr 7,5
Literaturverzeichnis
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- Wilson, S.G., 1983, Luke and the Law (SNTS.MS 50), Cambridge
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