Gotteskindschaft (NT)
(erstellt: Juni 2010)
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1. Erfahrungshorizont
Kind ist ein Wort aus der unmittelbaren persönlichen Erfahrung. Jeder Mensch, ob Junge oder Mädchen, Mann oder Frau ist auch Kind von jemandem. Die Beziehung zu einem Vater und einer Mutter kommt dem Kind nicht zufällig, sondern unabdingbar zu. Kind ist man nicht für sich allein. Wenn man vom Kind spricht, ist deshalb unausgesprochen immer auf einen Vater und eine Mutter hingewiesen. Diese Unbestimmtheitsstelle aktualisiert Erfahrungen und drängt auf kommunikative Wirksamkeit.
Die Rede von Kind und Vater oder Mutter aktualisiert Erfahrungen und Vorkenntnisse bei den Leserinnen und Lesern. Deshalb ist es wichtig, die Metapher von den „Kindern Gottes“ im Rahmen der biblischen Vorstellungen von menschlichen Kindern und Eltern zu verstehen. Die Dimension der Zugehörigkeit ist ein wesentlicher Aspekt des Wortfeldes „Kind“ (Müller, Mitte, 196ff.), schließt neben der Zugehörigkeit zu Gott beispielsweise auch die zu Abraham oder zur Gemeinde mit ein und überschneidet sich teilweise mit der Dimension der Verwandtschaft. In der patriarchalen Welt der Antike geht es dabei vor allem um das Verhältnis von Kindern / Söhnen zum Vater, das als Autoritäts- bzw. Abhängigkeitsverhältnis verstanden wird (vgl. insgesamt Kunz-Lübcke, Kind): Der Vater hat die Verfügungsgewalt über seine Kinder bis hin zum Recht sie zu verpfänden oder zu verkaufen bzw. im römischen Kontext sie auszusetzen. In einem System der „abgestuften Hierarchien“ (Eltrop, Kinder, 88) nehmen Kinder einen niedrigen Rang ein. Dies macht bereits die Etymologie des Wortes παῖς deutlich, das sowohl „Kind“ als auch „Sklave“ bedeuten kann (Ebner, Kinderevangelium, 317f.). Der leibliche Sohn hat gegenüber dem Sklavenkind zwar die Perspektive später einmal das → Erbe
- Der Vater ist die geachtete Autoritätsperson; ihm werden von den Kindern Ehrerbietung und Gehorsam entgegengebracht (vgl. Gen 37,10
- Der Vater sorgt für seine Kinder, er ernährt und beschützt sie und fühlt sich mit ihnen verbunden; umgekehrt haben die Kinder, besonders die Söhne die Verpflichtung, Vater und Mutter zu ehren und für sie zu sorgen (1Sam 10,1
- Der Besitz des Vaters geht auf den Sohn über; Sohn zu sein heißt zugleich Erbe zu sein (Mt 21,38
- Der Vater erzieht den Sohn (bis hin zur Züchtigung), die Mutter die Tochter; die Kinder entsprechen in ihrem Verhalten der Erziehung der Eltern (Dtn 8,5
- Vor allem lehrt der Vater den Sohn die Tora; indem der Sohn die Tora selbständig zu achten und nachzuvollziehen beginnt, stellt er sich in die väterliche Tradition (Jub 8,2; Eph 6,4
2. „Kind Gottes“ als Beziehungsbegriff
Dieser Erfahrungshorizont schwingt mit, wenn die Bibel von „Kindern Gottes“ spricht. Und er beeinflusst zugleich die Aussagen, indem er das menschliche Verhältnis auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch anwendet. Auch „Kind Gottes“ ist ein Beziehungsbegriff. Im Alten Testament (Kühlewein, Sohn) ist die Vateranrede Gottes Ausdruck der Erwählung und des Bundes, den Gott mit Israel geschlossen hat (Jes 1,4
Auch im NT ist von der Gotteskindschaft die Rede. Die frühen Christen haben die von → Jesus
Jeremias (Abba, 59.163) deutete das aramäische Abba in diminutivem und affektivem Sinn der Kindersprache als Papa, Papi, Daddy; später hat er diese Auffassung allerdings relativiert (Neutestamentliche Theologie, 72f.) und kam zu der Einsicht, dass Abba zur Zeit Jesu bereits zur vertrauensvollen Anrede des Vaters durch Erwachsene geworden ist. Nach Theißen / Merz (Jesus, 458) gehört das Bild von Gott als Vater zum kollektiven Bilderschatz des Judentums. Zwar ist die Abba-Anrede Gottes bei Jesus nicht oft belegt (vgl. Mk 14,36
Nach Matthäus ist es Jesus als der „Sohn Gottes“ (vgl. Mt 1,21
Konkret wird der Begriff nicht zuletzt dort, wo es tatsächlich um Kinder geht. Jesus weist nach Markus den Kindern eine herausgehobene Position zu, sowohl im Kreis der Jünger (Mk 9,36f
3. Kindschaft als Rechtsbegriff
Paulus stellt die Vorstellung von den „Kindern Gottes“ in den Erfahrungshorizont der Rechtsbeziehung zwischen irdischen Vätern und ihren Kindern. In Röm 8,14-17
Schließlich ist von Bedeutung, dass in dem Begriff Erbe / Erbschaft ein gegenwärtiger und ein zukünftiger Aspekt verbunden sind. Kinder Gottes und Erben sind die Glaubenden schon in der Gegenwart. Aber wie bei dem Erben steht das Antreten der Erbschaft noch aus und verweist darauf, dass die schon in der Gegenwart zutreffende Bezeichnung Erbe auf eine auf die Zukunft hin offene Gegenwart verweist. Auf diese Weise bindet die Metapher „Kinder Gottes“ Gegenwart und Zukunft zusammen.
Auch in Gal 3,26-4,7
4. Zusammenhang von Christologie und Soteriologie
Für Joh ist die Selbstbezeichnung Jesu als „der Sohn“ charakteristisch; sie findet sich achtzehn Mal im Evangelium, hinzu kommen noch etliche andere Stellen, an denen der johanneische Jesus von „dem Vater“ oder „seinem Vater“ spricht bzw. Gott direkt als „Vater“ anspricht (Joh 11,41f
In starkem Kontrast zu diesen „Kindern des Lichts“ (Joh 12,36
5. Kreative Metapher
Die metaphorische Rede von den „Kindern Gottes“ in der Bibel öffnet auf diese Weise einen Verstehenshorizont, der an die eigene Erfahrung anknüpft und sie zugleich ausweitet auf das Verhältnis des Menschen zu Gott. Damit gewinnt dieser Ausdruck ein kreatives Potential. Er greift Erfahrung auf, lässt sich aber nicht darauf festlegen, sondern überschreitet sie kritisch und beruft sich dabei auf das Verhalten Jesu und die von Gott gegebene Würde der Gotteskinder. Damit öffnet die Wendung von der Gotteskindschaft einen neuen Blick auf die Wirklichkeit mit ihren herkömmlichen Grenzen und Einschränkungen und damit einen Spielraum für neue Erfahrungen. So ist die Metapher von den Kindern Gottes geeignet, das Verhältnis der Glaubenden zu Gott erfahrungsnah und zugleich deutungsoffen zur Sprache zu bringen.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Frey, J., Gotteskindschaft, Calwer Bibellexikon. Band I, Stuttgart 2003, 468
- Hahn, F., υἱός – Sohn, in: EWNT 3 (1982), 912-937
- Klein, H., Gotteskindschaft, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005
- Kühlewein, J., 2004, בֵן Sohn, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. Band 1, 6. Auflage Darmstadt, 316-325
- Martitz, W. von / Fohrer, G. / Schweizer, E. / Lohse, E. / Schneemelcher, W., υἱός κτλ., Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band VIII, Stuttgart 1969, 334-400
- Martitz, W. von / Schweizer, E., υἱόθεσία, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band VIII, Stuttgart 1969, 400-402
2. Weitere Literatur
- Ebner, M., 2002, „Kinderevangelium“ oder markinische Sozialkritik? Mk 10,13-16 im Kontext, in: Gottes Kinder (JbTh 17), 315-336
- Eltrop, B., 2002, Kinder im Neuen Testament. Eine sozialgeschichtliche Nachfrage, in: Gottes Kinder (JbTh 17), 83-96, Neukirchen-Vluyn
- Frey, J., 2000, Das Bild als Wirkungspotenzial. Ein rezeptionsästhetischer Versuch zur Funktion der Brot-Metapher in Johannes 6, in: R. Zimmermann (Hg.), Bildersprache verstehen (Übergänge 38), München, 331-361
- Haacker, K., 1999, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig
- Jeremias, J. 1966, Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen
- Jeremias, J., 1971, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: die Verkündigung Jesu, Gütersloh
- Kügler, J., 2002, „Denen aber, die ihn aufnahmen …“ Die Würde der Gotteskinder in der johanneischen Theologie, in: Gottes Kinder (JbTh 17), 163-179, Neurkichen-Vluyn
- Kunz-Lübcke, A., 2007, Das Kind in den antiken Kulturen des Mittelmeers. Israel – Ägypten – Griechenland, Neukirchen-Vluyn
- Lohse, E., 2003, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen
- Lutterbach, H., 2002, „Was ihr einem dieser Kleinen getan habt, das habt ihr mir getan …“ Der historische Beitrag des Christentums zum „Jahrhundert des Kindes“, in: Gottes Kinder (JbTh 17), Neukirchen-Vluyn
- Müller, P., 1992, In der Mitte der Gemeinde. Kinder im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn
- Schnackenburg, R., 1971, Das Johannesevangelium. 2. Teil (HThK IV / II), Freiburg / Basel / Wien
- Theißen, G. / Merz, A., 1996, Der historische Jesus, Göttingen
- Thompson, M. M., 2001, Jesus and His God, in: M. Bockmuehl [Hg.], The Cambridge Companion to Jesus, Cambridge, 41-45
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